• Prozessjournalismus und die Revolution in Ägypten: Deutschsprachige Onlinemedien enttäuschen

    Was Spiegel-Online und Welt-Online in ihren Live- oder Nachrichtentickern bringen, ist in der Ignoranz des Potentials von Onlinejournalismus mehr als befremdend, meint Politikwissenschafler Lorenz Matzat.

    Das Wort Live-Blog wird vermieden. Beide Websites, nach Bild-Online die Meistgelesenen – setzen im Jahr 2011 kein einziges Link auf Quellen außerhalb ihres eigenen Angebots. Soziale Medienkanäle, wie Twitter, YouTube oder Flickr werden gänzlich ignoriert. Nur klassische Nachrichtenagenturen und etablierte Sender wie die BBC gelten als verlässliche Quellen.

    Insofern spielt es für die deutschsprachige Onlineberichterstattung eigentlich überhaupt keine Rolle, dass in Ägypten das Internet durch die Regierung abgeschaltet wurde. Dabei ist die Verzahnung klassischer und sozialer Medien für die aktuellen Vorgänge in Nordafrika offensichtlich. Der Politikwissenschafler Philipp Müller schreibt darüber in dem lesenswerten Artikel: “Power-Shift or Media-Shift? The Twitter Revolutions in Iran, Tunisia, and Egypt“.

    Die Deutsche Welle, von denen die meisten Leute wahrscheinlich gar nicht wissen, dass es sie (noch) gibt, schafft es, online ein paar Artikel aus Agenturmeldungen zusammenzustellen. Fast 250 Millionen Euro bekommt dieser Sender jährlich aus dem Etat der Bundeskanzleramts, der zwar in bis zu 30 Sprachen zu lesen, zu hören und zu schauen ist – aber offensichtlich mit dem Versuch scheitert, eine Art deutsches BBC zu sein. Die Tagesschau liefert immerhin eine gesonderte Linkliste zum Thema (aus Artikeln heraus wird dort sonst auch nicht verlinkt). ZDF/heute online hat auch nichts Bemerkenswertes zu bieten. Beim “Ereigniskanal” Phoenix oder dem ZFD infokanal taucht Ägypten als Thema derzeit überhaupt nicht auf.

    Bleibt zu hoffen, dass diese Art von Berichterstattung den Redaktionen zumindest etwas peinlich ist – in Anbetracht dessen, was Al Jazeera, Guardian sowie New York Times auf ihren Websiten bringen. Diese Medien beziehen sich in ihrem Live-Blogging aufeinander, binden Videos, Audio, Fotos und Tweets ein. Und linken fleißig auf andere Quellen. Nachrichten, die sich als Gerüchte herausstellen oder im Sachverhalt anders verliefen, werden richtig gestellt. So etwas nennt sich Prozessjournalismus – die Geschichte ist nie zu Ende. Etwa das Detail, dass die angebliche Plünderung des Nationalmuseums recht glimpflich verlaufen ist. Ein Hinweis, ein “Update”, ist in dem Beitrag auf SPON “Plünderer zerstören Tuanchamun-Schätze“ nicht zu finden.

    So verwundert es auch nicht, dass von der Möglichkeit mit Infografiken aktuelle Sachverhalte zu erklären, hierzulande kaum Gebrauch gemacht wird. Während vergangenen Freitag die Situation in Kairo sichtlich an Dynamik gewann, brachte die NYT innerhalb weniger Stunden eine interaktive Infografik, die auf einer Stadtkarte den räumlichen Kontext verdeutlichte (und fortlaufend aktualisert wird – siehe Bild am Anfang). Mit Google Maps und dem Tool Fusion Table könnte das jeder innerhalb einer Stunde machen. Und in seinen Onlineauftritt einbinden. Die FAZ hat immerhin eine Übersichtskarte für die gesamte nordafrikanische Region im Angebot.

    Bleibt der Schluss: Wer etwas über internationale Politik und aktuelle Vorgänge im Ausland erfahren will, lerne Englisch und meide deutschsprachige Onlinemedien. Ausgenommen davon ist vielleicht der Auslandsteil der NZZ.

    Postskriptum: Über die Berichterstattung im deutschsprachigen TV muss angesichts der Berichterstattung von Al Jazeera und der BBC noch weniger Worte verloren werden. Einzig der Spezialsender Eins Extra versucht sich ein wenig an aktueller Berichterstattung.

    Anm.d.Red.: Der Text erschien gestern im Blog des Autors; er steht unter einer Creative Commons-Lizenz (by:sa).


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