Privatforscher, Poet, Tausenddenker

Arno Schmidt war ein Kultautor, lange bevor es diesen Begriff gab. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben begann, herrschte in der deutschen Literaturszene ein Vakuum. Es war Schmidts spezielle Mischung aus Avantgardismus, Verschrobenheit und Provokation, die es umgehend fuellte. Seine Prosa war eine literarische und moralische Rebellion.

Germanisten/innen wurden wahnsinnig, die Glaubensgemeinde erstattete Anzeigen, selbst Pornografievorwuerfe wurden laut. Fuer nicht wenige waren das uebrigens alles Gruende, den Autor noch mehr zu bewundern. So spaltete Arno Schmidt zeit seines Lebens die Gemueter und spiegelte auf diese Weise die widerspruechliche Nachkriegszeit und die Widersprueche, die seiner Kultwerdung zu Grunde lagen.

Sein Lebensweg begann in einer Grossstadt: 1914 wurde er in Hamburg geboren. Schon mit 14 Jahren zog es ihn fort, der wiederholte Wohnortwechsel bestimmte sein Leben fortan. Niemals jedoch wurde Schmidt wieder in einer Grossstadt sesshaft. Es zog ihn von Kleinstadt zu Kleinstadt und schliesslich aufs Land. Fast sein ganzes Leben verbrachte Schmidt in der Provinz, verbarrikadierte sich dort regelrecht, um der Gesellschaft, den Mitmenschen und der Oeffentlichkeit zu entfliehen. Schmidt fuehrte das Leben eines Einsiedlers, vergrub sich in der Welt der Buecher – bereits im Alter von drei Jahren hatte er das Lesen gelernt – und machte die Natur zu seinem besten Freund.

Schmidt versuchte, alles auszublenden, was die Grosswetterlage Deutschlands auszeichnete – und doch schaffte er eine unbeschreiblich zeitgemaesse Prosa. Sie war ihrer Zeit sogar einige Schritte voraus. Bis heute wirkt seine Sprache wie aus einer anderen Epoche – wie aus einer unendlich weit entfernten Vergangenheit oder wie aus der Zukunft. Seine Schrift ist an vielen Stellen phonetisiert, sprich: die Woerter stehen so da, wie man sie ausspricht. Die Klein- und Grossschreibung folgt einem eigenen System, Interpunktion ebenfalls. Der Aufbau seiner Texte aehnelt mehr der Struktur von Webseiten mit ihren zahlreichen Infokaestchen, Ebenen und Links, als einem herkoemmlichen Roman.

Wer sich davon nicht beirren laesst, dem eroeffnet sich ein immenser Bildervorrat, ein sagenvoller Reichtum an Wortschoepfungen. Typisch fuer Schmidt sind folgende Zeilen: >Mein Leben?!: ist kein Kontinuum! [nicht bloss durch Tag und Nacht in weiss und schwarze Stuecke zerbrochen! Denn auch am Tage ist bei mir der ein Anderer, der zur Bahn geht; im Amt sitzt; buechert; durch Haine stelzt; begattet; schwatzt; schreibt; Tausenddenker; auseinanderfallender Faecher; der raucht; kotet; radiohoert; Herr Landrat sagt: that’s me!]: ein Tablett voll glitzernder snapshots.< Wie diese Stelle aus >Aus dem Leben eines Fauns< orientieren sich seine Texte haeufig am Expressionismus – eine Inspirationsquelle, aber auch ein politisch motivierter Bezugspunkt fuer Schmidt: vom Faschismus unverdorbene Literatur. In seinem wuchtigen Hauptwerk >Zettels Traum< heisst es an einer Stelle: >Moderne Schriftsteller muessten gesetzlich dazu angehalten werden, zu notieren, was fuer Sendungen sie sich so taeglich angesehen haben<. Man muss dazu wissen, dass Schmidt das ernst meint. Er hatte nicht nur einen Fernseher in seinem stillen Landhaus und blieb auf diese Weise mit der Welt im Kontakt. Er sammelte auch manisch, gedruckte Bilder aus Werbung, TV-Programmen und Versandkatalogen, ordnete und archivierte sie in umfangreichen Katalogen. Schmidt betrieb eine private Bildwissenschaft, zu einem Zeitpunkt, als diese Disziplin in der akademischen Welt brach lag und unter Schriftstellern noch nicht ansatzweise entdeckt war. Fuer Schmidt war dies ein literarisches Projekt. Denn er versuchte seine beim Systematisieren gewonnenen Erkenntnisse in seine Romane einfliessen zu lassen, die Bilderstroeme zu verworten und in einem medial-angemessenen Stil formal zu festigen. Sein Arbeitsgeraet haette ein Computer sein koennen. In Wirklichkeit schrieb er am liebsten mit Bleistift und ordnete seine Gedanken in einem handgemachten Zettelkasten. Solche Paradoxien machen Schmidts Werk faszinierend, und aus ihm eine einzigartige Erscheinung in der Literaturgeschichte. Dabei sollte nicht vergessen werden: Einiges an diesem seltenen Reptil ist Erfindung und Maske, und sogar die Verleger sind fuer manche Finte verantwortlich. Falsche Angaben etwa ueber eine angeblich verschwindend geringe Auflagenhoehe der Schmidtschen Prosawerke gaben Leser/innen das Gefuehl, Teil einer verschworenen Fangemeinschaft zu sein. Schmidt lesen, das war fuer viele ein exklusives Erlebnis. Heute braucht es solche Schummeleien nicht mehr. Schmidts ueber den Globus verstreuter Fankreis ist am Wachsen. Diesem Umstand tragen auch aktuelle Publikationen im Verlag Edition Text und Kritik Rechnung. >Niemand< etwa ist ein Begleitbuch zu Schmidts Kurzroman >Schwarze Spiegel<, der von zwei Menschen nach dem Grossen Atomkrieg Mitte der 1950er Jahre erzaehlt. Das Prosawerk von 1951 ist eine Wissensmischung aus Vergangenheit und Ahnungen einer duesteren Zukunft, ein Palimpsest, und sein Held ein kulturelles und psychisches Gedaechtnis aus einem Grenzbereich zwischen Vorwelt und toedlicher Zukunft, in der sich ein Jemand in einen letzten Niemand verwandeln wird. Die Dichte der Anspielungen und Zitate in diesem fruehen, duesteren und rapiden Schmidt-Text verlangt nach Zitat-Nachweisen, Kommentaren und Erlaeuterungen. Heinrich Schwiers Handbuch >Niemand< liefert liefert all dies. Rudi Schweikert wiederum widmet sich der Jules Verne-Rezeption in Schmidts Werk. Lektuerespuren sind ueber Schmidts Texte weit verstreut zu finden, konzentriert jedoch in seiner Novellen-Komoedie >Die Schule der Atheisten< [1972], deren Textstruktur fast nur aus Zitaten, zum Teil winzigster Art, besteht. In der Literatur ausserhalb von Schmidts Werk wohl einmalig, wird es in Schweikerts Buch >Die Jules-Verne-Welten in Arno Schmidts Die Schule der Atheisten< auf die Vielfalt der intertextuellen Spiel-Formen hin untersucht.

4 Kommentare zu “Privatforscher, Poet, Tausenddenker

  1. Und was ist mit den Übersetzungen? Er war für die große Poe-Ausgabe in den 60ern verantwortlich, und hat auch Krimis von McBain übersetzt. Eine Tätigkeit, die irgendwie nicht in den sperrigen Schreibkosmos passt, so ist mir.

  2. Übersetzungen aus dem Englischen: ja, klar! Gut möglich, dass ich in meiner Jugend über James Joyce zu Arno Schmidt kam, weil letzterer sich eben auch an Sachen wie Finnegeans Wake versuchte. Übersetzungsprojekte dieser Art gehören zu einem Sprach-Bastler, der Schmidt war.

    Aber Schmidt hat auch noch in ganz anderem Sinne übersetzt: deutschsprachige Romantiker, die er aus dem Mülleimer der Geschichte für eine Gegenwart übersetzte (=entdeckte), die nichts von ihnen wissen wollte bzw. sie schlichtweg vergessen hatte!

  3. Privatforscher, Poet, Tausenddenker – und Intellektuellenkritiker! Schmidt hat sich vor allem in seiner frühen Schaffensphase nach dem Krieg mit der Rolle des Schriftstellers in der noch zu formenden Gesellschaft auseinandergesetzt. Er war sehr wohl um die Großwetterlage in Deutschland besorgt, angesichts der NS-Haus-und-Hofschreiber zu denen er auch Stephan George zählte. Zahlreich äusserte er sich zum schmalen Grat des Schriftstellers als Intellektuellen in der Gesellschaft, der führen soll, ohne Führer zu sein. Ein “Dichterpriester” war George für ihn. In “Zettels Traum” finden sich viele Referenzen zum Dichterpriestertum, das Schmidt als kulturpessimistisch und “displaced” verdammte. Ob ihn die deutsche Großwetterlage aufs Land trieb? Man darf es vermuten.

  4. ja — Intellektuellenkritiker! einer der schärfsten seiner Zeit.

    Wenn ich schreibe, dass er die Großwetterlage Deutschlands ausblendet, dann meine ich damit nicht in seinem Hirn, sondern in seiner Prosa. Explizit ist Schmidt selten politisch, implizit gehört er zu den politischsten Autoren seiner Generation. Nicht umsonst hat ihm ein poitischer Autor par exellence wie Klaus Theweleit einen Band in seiner Pocahontas-Werkreihe gewidmet.

    Was Schmidt aufs Land trieb, war — denke ich — weniger das, was ihm an der Stadt nicht behagte (der post-faschistische Mieff Deutschlands), sondern das, was er jenseits davon vorfand: einen Kosmos der Stille. Er lebte schon seit seiner Kindheit primär in der zweiten Natur (in Medien wie Büchern) und er erlebte die erste Natur als formidable Ergänzung.

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