Prekarisierung ist überall: Entwickelt die gesamte Gesellschaft ein neues Klassenbewusstsein?

Das “Prekariat” ist in der aktuellen Armutsdebatte der Schlüsselbegriff. Dabei betrifft Prekarisierung nicht nur die Armutsregionen, sondern die gesamte Gesellschaft. Der Soziologe und Philosoph Oliver Marchart denkt in seinem Essay darüber nach, ob aus dem Prekariat ein politisch bedeutender Akteur entstehen kann – wie einst das Proletariat.

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Prekarisierung sollte man nicht als ein Realphänomen verstehen, das vor seiner politischen Ausdeutung unmittelbar greifbar wäre, so als könnte man es den Leuten vom Gesicht ablesen, dass sie prekär sind. Wir können natürlich soziologische Statistiken anlegen, die allerdings je nach Fragestellung unterschiedliche Schlüsse nahelegen werden. Im Fall des Phänomens der Prekarität ist das evident.

In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit tritt es überhaupt erst mit der sogenannten Unterschichtendebatte 2006 ins Rampenlicht, wo plötzlich der Begriff eines „abgehängten Prekariats“ auftaucht. Der Begriff wurde aus einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung gezogen, die an sich schon eine politische Zielsetzung hatte, nämlich die Nähe potentieller Wählerschichten zu ermitteln. Dazu wurden Wertevorstellungen von 3000 wahlberechtigten Deutschen erhoben und ein Katalog „politischer Typen“ formuliert. Von den „kritischen Bildungseliten“ abwärts bis zum „abgehängten Prekariat“, unter dem sich, wenig überraschend, der höchste Arbeitslosenanteil fand.

Die Fehler der Armutsdebatte

Die auf die Studie folgende öffentliche Diskussion zeigte, dass um die Ausdeutung dieses „abgehängten Prekariats“ beziehungsweise einer neuen „Unterschicht“ heftig gestritten wird. Allerdings wurde in der gesamten Debatte mit einem ausgesprochen engen Begriff von Prekarität operiert. Laut Studie gehörten zum „abgehängten Prekariat“ gerade mal 8% der Wahlbevölkerung. Diese Zahl ist natürlich dubios, aber nicht weil sie die Realität verschleiert, sondern weil sie aufgrund der sehr spezifischen Fragestellung nur eine bestimmte Realität zu beschreiben behauptet: die der deutschen Wahlbevölkerung.

In der Statistik wurden alle Nicht-Wahlberechtigten einschließlich aller hyper-prekären illegalisierten ArbeiterInnen nicht beachtet. Aber selbst wenn man es für zulässig hielte, nur die Wahlbevölkerung zu untersuchen, wäre die Zahl von 8% immer noch ausgesprochen eng gefasst. Vor allem, wenn man, wie etwa Bourdieu, davon ausgeht, dass Prekarität inzwischen überall ist, sofern sich Verunsicherung und Angst um den Arbeitsplatz, die Pension, die Berufs- und Familienplanung inzwischen in den Köpfen aller festgesetzt hat.

Aus dieser Perspektive heraus könnte man eine genau inverse Statistik generieren, in der gerade mal 8% der Überabgesicherten nicht von Prekarisierung erfasst sind und der Rest der Bevölkerung einem allgemeinen Unsicherheitsregime ausgeliefert ist. Wenn man hingegen nach wie vor den engen Prekaritätsbegriff anlegt, reduziert man Prekarität auf ein Armutsphänomen.

Was hingegen an keiner Stelle in der Debatte überhaupt angesprochen wurde, war die gesellschaftspolitische Bedeutung eines Phänomens, das vielleicht gar nicht auf die „Unterschicht“ beschränkt ist, sondern in den sozialen Raum ausgreift. Ein solch umfassendes Phänomen würde ganz andere politische Schlussfolgerungen nahelegen und strukturelle Reformen nötig machen. Das gegenwärtige hegemoniale Diskursgleichgewicht gesteht aber einer solchen Position keine mediale Sichtbarkeit zu.

Unterschiedliche soziale Gruppen sind prekär

Dennoch wird sie vertreten. In den Sozialwissenschaften zum Beispiel von „nicht-Mainstream“ Ansätzen wie jenen des Postoperaismus, der pragmatischen Soziologie oder der Regulationstheorie, und im politischen Raum von der Prekarisierungsbewegung um die EuroMayDay-Demonstrationen. Man sollte also prekäre Lebenslagen nicht ausschließlich mit Armut, Verelendung und Exklusion assoziieren. Die Gemeinsamkeiten zwischen teils sehr unterschiedlichen prekären Situationen sind nicht durch deren bloß empirische Beschreibung erkennbar.

Denn KreativarbeiterInnen zum Beispiel unterscheiden sich hinsichtlich Lebenssituation, Einkommen, symbolischem Kapital usw. von Menschen, die mit deutlich weniger ökonomischen und symbolischen Ressourcen auskommen müssen. Viele KreativarbeiterInnen mögen vielleicht akut prekär leben, werden aber irgendwann mal das Vermögen, das ihre Eltern aus der sogenannten Aufbaugeneration angespart haben, erben und dann aufzehren können.

Es kann also durchaus sein, dass in naher Zukunft die Sozialfigur des Rentiers wiederaufersteht, der einfach ein ererbtes Vermögen aufzehrt – also gewissermaßen die Abbaugeneration. Mit diesem Hintergrund lässt sich natürlich für eine bestimmte Zeit ein höheres Selbstprekarisierungsrisiko eingehen, man kann also doch mal kurz die Kreativ- oder Künstlerkarriere ausprobieren. Diese Option steht schon aus ökonomischen Gründen vielen, die einen anderen Klassenhintergrund haben, nicht offen, d.h. ihre zunehmende Prekarisierung wird nicht durch ihre Klassenposition abgefedert.

In mancher Hinsicht lässt sich also durchaus von großen Unterschieden bei den von Prekarisierung Betroffenen, ausgehen. Allerdings sollte man bei der Diagnose solcher Unterschiede nicht stehen bleiben. Will man nicht in die Falle der Ebert-Studie tappen, dann muss man Prekarität in eine viel breitere gesellschaftliche Entwicklung einordnen.

Die Prekarisierungsgesellschaft

Dazu muss man die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Phänomens der Prekarisierung berücksichtigen. Deshalb spreche ich von der Prekarisierungsgesellschaft. Darunter verstehe ich eine soziale Formation, die im Westen aus den fordistischen, wohlfahrtsstaatlichen Sicherungsgesellschaften hervorgegangen ist bzw. immer noch hervorgeht. Sie löst sie nicht einfach ab. Es handelt sich eher um deren innere Transformation, denn natürlich sind noch lange nicht alle sozialen Sicherungssysteme verschwunden.

Die Prekarisierungsgesellschaft entsteht also innerhalb der Sicherungsgesellschaften, indem immer mehr gesellschaftliche Bereiche den Imperativen der Flexibilisierung, Liberalisierung und Privatisierung unterworfen werden, was bedeutet, dass irgendwann mal jeder sich selbst überlassen bleibt.

Versteht man Prekarisierung in diesem Sinne als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dann werden die verschiedenen Formen von einerseits Armut und andererseits Kreativprekarisierung wieder vergleichbar, denn es könnte durchaus sein, dass sie derselben gesellschaftlichen Entwicklung geschuldet sind, die z.B. Freiheit sowohl als Verheißung (Freiheit zur Selbstverwirklichung) als auch als Drohung (Freiheit von sozialer Absicherung) einsetzt.

Doch mein Konzept der Prekarisierungsgesellschaft erhebt keinen Alleinerklärungsanspruch, aber es erhebt den Anspruch, eine tendenziell den gesamten sozialen Raum umgreifende Entwicklung zu benennen, die uns Zusammenhänge erkennen lässt, wo andere nur marginale und isolierte Phänomene sehen. Dennoch ist es wichtig, die Formen sozialer Exklusion in den Untersuchungen der Prekarisierungsgesellschaft sehr wohl auch getrennt zu behandeln.

Da, wie Latour es nennen würde, das „Panorama“ der Prekarisierungsgesellschaft keinen Alleinerklärungsanspruch erhebt, schließt es andere Beschreibungs- und Erklärungsversuche nicht aus. Man sollte sich nicht per se gegen Armutsforschung aussprechen, denn es kommt immer darauf an, wie sie betrieben wird. Ihr gegenüber soll die Prekarisierungsforschung nicht notwendigerweise priorisiert werden. Obwohl es ideologische Formen der Armuts- und Exklusionsforschung gibt, sollte man die Dinge nicht gegeneinander ausspielen.

Prekarisierung als politischer Begriff

Eine Postkolonialismus-Theoretikerin zum Beispiel unterstellte den Occupy-Protesten vor kurzem Eurozentrismus. Daran ist richtig, dass auch das europäische Proletariat von der globalen Arbeitsteilung, also der Überausbeutung des Südens profitiert. Das aber dem aufbegehrenden Prekariat zum Vorwurf zu machen, scheint mir an den strukturellen Ursachen der Ausbeutung wie auch an ihren eigentlichen Profiteuren meilenweit vorbeizugehen mit dem Ergebnis, dass nur verschiedene Gruppen von Ausgebeuteten gegeneinander ausgespielt werden.

Man wird immer eine Gruppe finden, der es noch schlechter geht; und es ist wichtig, dass eine soziale Bewegung sich dies vor Augen hält. Gleichzeitig sollte man aber nicht so weit gehen, die Proteste der Prekarisierten als Proteste verwöhnter Kids zu delegitimieren mit Verweis auf die „eigentlich“ Armen oder Ausgeschlossenen. Stattdessen sollte man daran arbeiten, die neoliberale Hegemonialordnung zu delegitimieren, die Prekarisierung wie Armut und andere Formen der Exklusion hervorbringt. Für die Sozialwissenschaft heißt das, dass sie Prekarisierung und andere Formen sozialer Exklusion sowohl in ihrer jeweiligen Spezifik als auch in ihren Gemeinsamkeiten behandeln muss.

Hierbei ist Prekarisierung für mich in erster Linie ein politischer und nur in zweiter ein ökonomischer Begriff, da die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse das Resultat eines langandauernden hegemonialen Kampfes ist. Für Robert Castel und viele andere geht die umfassende Prekarisierung des Lebens von der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse aus. Es stimmt zwar, dass viele soziale Sicherungsleistungen an die Lohnarbeit geknüpft sind, aber nicht alle. Die Deregulierungspolitiken zum Beispiel zielen auch nicht nur auf die Arbeitsverhältnisse.

Die Krise seit 2008 haben wir der Deregulierung der Finanzmärkte und der Hypothekenwirtschaft zu verdanken, was wiederum eine neue Spirale der Prekarisierung in Gang gesetzt hat. Daher sind zwar der Abbau von Arbeitsrechten, die Deregulierung der Arbeitsmärkte, die Umstellung von der Lohn- auf die Honorarform und andere mithilfe des Lohnarbeitsgesellschaftspanoramas beobachtbare Entwicklungen relevant, aber nicht die eigentliche Ursache der lebensumfassenden Prekarisierung.

Denn auch ökonomische Prekarisierungs- und Deregulierungspolitiken sind letztlich Politiken. In den meisten Fällen sind sie auf Gesetzesänderungen zurückzuführen und hinter diesen Gesetzesänderungen steht wiederum ein jahrzehntelanger Kampf um die Hegemonie. Dieser Kampf ist aufgrund seiner Langatmigkeit wahrscheinlich der Paradefall von „slow politics“. Dabei zeigt sich, dass die Suche nach neuen politischen Akteuren mit einem interpretatorischen Einsatz verbunden ist.

Prekariat und Proletariat

Man könnte spekulieren, dass auch das Prekariat – oder jedenfalls ein Teil dessen – sich zu einem politischen Akteur, vergleichbar mit dem des Proletariats, entwickeln kann. Die gegenwärtigen Umbrüche im Zeichen der digitalen Revolution werden ebenfalls häufig mit den Transformationen der industriellen Revolution verglichen. Und auch der Philosoph Alex Foti formulierte die These: „Das Proletariat in der Industriegesellschaft ist analog zu dem Prekariat der post-industriellen Gesellschaft.“

Allerdings hätte man auch schon zu Zeiten, als Marx und Engels im Kommunistischen Manifest die revolutionäre Klasse des Proletariats beschworen, sagen können, dass es sich hierbei nur um eine randständige soziale Gruppe handelt. Ähnlich verhält es sich mit dem Prekariat. Nach wie vor ist umstritten, wie groß die Gruppe der von Prekarisierung Betroffenen überhaupt ist. Da die Prekarisierung tendenziell alle betrifft, jedoch in unterschiedlichem Ausmaß, könnte man nur spekulieren, ob aus einem Teil der Prekären ein politischer Akteur vergleichbar mit dem Proletariat in der Industriegesellschaft wird.

Dies setzt in jedem Falle voraus, dass ein Klassenbewusstsein entwickelt wird und als Prekariat – ob man sich dann so nennt oder nicht – agiert wird. Aber Klassenbewusstsein kommt nicht von selbst, sondern muss politisch hervorgebracht werden. Die MayDay Proteste sind deshalb nicht nur performativ, insofern die Prekarisierten von sich behaupten, „das Prekariat“ zu sein. Die Proteste sind zugleich prä-formativ oder sogar pro-formativ, indem sie einen künftigen politischen Akteur antizipieren, der dieser Aufgabe gerecht werden könnte.

Man kann an diesen Akteur jedoch keine übertriebenen Erlösungshoffnungen knüpfen, wie das noch Marx getan hat. Außerdem ist davon auszugehen, dass die politische Subjektivierungsform dieses Akteurs sich dramatisch von der eines gewerkschaftlich organisierten fordistischen Fabrikarbeiters unterscheiden wird. Aber man kann davon ausgehen, dass es auch in Zukunft soziale Kämpfe geben wird und die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse für diese Kämpfe ein Thema sein wird.

Anm.d.Red.: Der Beitrag basiert auf einem Interview, das die Berliner Gazette-Redaktion mit Oliver Marchart führte. Zu diesem Themenfeld sind kürzlich von Oliver Marchart drei Bücher erschienen: “Die Prekarisierungsgesellschaft” (transcript), “Facetten der Prekarisierungsgesellschaft” (transcript) und “Das unmögliche Objekt” (Suhrkamp). Die Fotos stammen aus dem Archiv des National Guard und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.

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