Postkarte aus M.

Erschoepft und ausgelaugt. Nach einer laengeren Busfahrt endlich angekommen und eingecheckt. Wieder vor dem Hotel stehend, eroeffnet sich der Blick auf einen weitlaeufigen Platz. Marktschreier machen hier die Nacht zum Tag; Lichtgestalten bewegen sich hinter einem Schleier aus Rauch.Der Platz wirkt daher wie ein pulsierendes Zentrum, ein autonomer Organismus. Vor allem in meiner Verfassung kommt mir das alles sehr unnahbar und zugleich sehr magnetisierend vor.

Links neben dem Hotel ist ein Laden. Ekstatische Klaenge schallen aus seinem Inneren. Eine Kassette mit marrokanischer Musik laeuft; sie laeuft laut, so laut, dass man sich vorstellen, es geradezu nachfuehlen kann, dass die Menschen in diesem Land nun wahrlich keine Drogen brauchen um sich zu betaeuben.

Ich entdecke Postkarten in dem Laden, die ich anderswo noch nicht gesehen habe. Erschoepft und nun auch betaeubt gehe ich das Angebot Stueck fuer Stueck durch. Die Vielzahl der visuellen Informationen versetzt mich graduell in einen rauschhaften Zustand, insbesondere, weil ich jede zweite Postkarte, die ich in die Hand kriege meine kaufen zu muessen.

Nach 15 Minuten halte ich einen fetten Stapel in der Hand. Postkarten mit historischen Motiven aus den 1960er Jahren. Viele wirklich grossartige Aufnahmen, in satte Farben getaucht. Nicht die ueblichen Kitsch-Motive mit weissem Rahmen und fettgedruckten Schriftzuegen wie >Holidays in Casablanca<. Stattdessen Fotos pur: Gebaeude, Swimmingpools, Hotellobbys. Ungewoehnliche Motive, teilweise eigentlich zu banal um als Postkartenmotiv ausgewaehlt zu werden. Doch einer hat sie genau dafuer ausgesucht. Einer? Ja, ein Redakteur so zusagen. Jedenfalls sagen das die Credits. Man wundert sich zunaechst, weil bei manchen nicht nur hinten auf der Rueckseite geschrieben steht >Edited by Jeff<, sondern auch vorne eine Signatur hinterlassen wurde. In der rechten Ecke sind die vier handgeschriebenen Buchstaben des amerikanischen Vornamens abgedruckt: >Jeff<. In den Sinn kommt Richard Prince, ein US-amerikanischer Kuenstler, der in der Punk-Aera nach New York zog um im TIME-Gebaeude einen Raum im Keller als sein Atelier zu deklarieren. Dort archivierte er alle Magazine, die er oben im TIME-Office waehrend seiner Arbeit im Bildarchiv aussonderte und wegschmiss. Diese Magazine ging er dann Seite fuer Seite durch, schnitt Werbungen aus, sorgte dafuer, dass die Slogans verschwinden und verwandelte die Anzeigenmotive auf diese Weise wieder in Fotos. Es waren dann >seine< Fotos, die er in Galerien ausstellte. Prince kommt in den Sinn, weil >Jeff< wohl einen aehnlichen Prozess der Hortung und Selektion durchgemacht haben muss. Anders kann man sich die Auswahl nicht erklaeren. Es sind schliesslich auch historische Motive aus den Archiven des Club Mediterrane dabei, sowie zahlreiche Aufnahmen eines so genannten Robert Direnn. Zu den erstaunlichsten Direnn-Motiven zaehlt eine Aufnahme aus Fes in Nord-Marroko. Sie zeigt das Schwimmbad vom Hotel Zallag, ein gigantischer Pool gefuellt mit zahllosen Badelustigen. Ein Junge, mit dem Ruecken zu uns, Blue Jeans und ein blaues Polo-Hemd am Leib, geht aus der Bildmitte auf den Pool zu. Ein romantisches Motiv, das sicherlich Wolfgang Tillmanns gefallen wuerde. Prince kommt aber auch deshalb in den Sinn, weil >Jeff< ebenfalls einen ungewoehnlichen Weg der Aneignung gegangen ist. Er hat aus einem Pool von Motiven ausgewaehlt, die entweder niemand mehr haben will oder so nicht veroeffentlicht haette. Dann hat er seinen Namen drauf gesetzt. Doch ob es ihn jemals tatsaechlich gab und wer er wirklich war, das werden wir wohl nie erfahren... An der Ladenkasse werde ich aus dem Trance-Zustand gerissen. Als ich fuer die Postkarten zahlen will, weist mich der Verkaeufer auf das Preisschild hin. Wie, nur die Haelfte des ueblichen Preises? frage ich. >Ja<, sagt er. Dann fuegt er noch einschraenkend hinzu, mit einer Miene als muesse er mich bitter enttaeuschen: >Allerdings nur die von Jeff.<

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