Politik der Klimakrise: Die schlechten Prognosen sollten Vorrang haben – nur so kommen wir weiter

Vor 40 Jahren erschien eines der wichtigsten Werke der modernen Philosophie: Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas. Im Zeitalter der Klimakrise ist es aktueller denn je. Der Philosoph und Berliner Gazette-Autor Patrick Spät liest es neu.

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Klimakrise, Atomkrise, Plastikkrise. Was tun? Sofort handeln, klar. Aber wenn es stimmt, dass klugen Taten stets kluge Gedanken vorausgehen, dann brauchen wir eine „Ethik für die technologische Zivilisation“. So lautet der Untertitel eines der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts: Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas, erschienen 1979. Spätestens im kriselnden Anthropozän sollte dieses fast vergessene Buch wieder auf dem Nachttisch der Menschheit liegen.

„Künftige Generationen werden die Zeit, in der wir heute leben, möglicherweise als Schnittstelle eines epochalen Bewusstseinswandels ansehen – hoffentlich, könnte man sagen. Denn wenn dieser Bewusstseinswandel nicht erfolgt oder zu spät kommt, dann könnte es sein, dass es diese künftigen Generationen gar nicht mehr gibt.“ Hans Jonas warnte zeitlebens davor, dass der Mensch als gescheiterte Spezies endet, und forderte daher als erster Philosoph eine „Zukunftsethik der Fernstenliebe“.

Ging es zu Platons Zeiten noch im Mord und Totschlag im ethischen Nahbereich, ist die Menschheit mithilfe der modernen Technik erstmals in der Lage, ihre eigene Existenz über kurz (Atombombe) oder lang (Klimakrise) zu gefährden. Deshalb empfiehlt Jonas eine „Heuristik der Furcht“, die das Handeln der Menschheit fortan leiten solle: „Der schlechten Prognose den Vorrang zu geben gegenüber der guten, ist verantwortungsbewusstes Handeln im Hinblick auf zukünftige Generationen. Denn man kann ohne das höchste Gut, aber nicht mit dem höchsten Übel leben.“

Die Faustische Wette der Gegenwart kennt keine Gewinner: Die Menschheit kann darauf verzichten, pro Sekunde 253 Tonnen Kohle zu verfeuern und viermal täglich ein Flugzeug zwischen den nur 150 Kilometer entfernten Städten München und Nürnberg fliegen zu lassen. Die Menschheit kann jedoch nicht auf einem Planeten leben, der zunehmend einem Müllberg in einem Treibhaus gleicht. Das höchste Übel nivelliert stets das vermeintlich höchste Gut. Und die Furcht vor dem größten anzunehmenden Übel soll unser ethischer Kompass sein.

Heuristik der Furcht

Doch bedient Jonas damit nicht ebenjenen Angstnarrativ, mit dem derzeit auch Rechtspopulisten Stimmung machen? Nein, während die German Angst meist subjektiv, diffus und unbegründet ist, verweist die „Heuristik der Furcht“ auf eine objektive Gefahr. Wenn uns die Risiken einer Technik nach genauer Analyse bekannt sind, dann müssen wir stets das höchste Übel für möglich halten. Jonas‘ Vermeidungsethik ähnelt hierin „Murphy’s Law“ – wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es auch irgendwann schief.

Wer mit dem Feuer spielt und AKWs baut, wird sich irgendwann die Finger verbrennen und buchstäblich einen GAU provozieren. Jonas geht es nicht um Panikmache, sondern darum, dass wir angesichts realer Gefahren Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Doch was heißt das überhaupt?

„Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur Besorgnis wird“, schreibt Jonas. Das Gefühl, für etwas verantwortlich zu sein, sei zutiefst menschlich und stehe vor jedem Theoriegeschwurbel: „Sieh hin und du weißt“, sagt Jonas. Wenn wir ein Neugeborenes in Not sehen, dann gebietet uns die Situation, dass wir alles Erdenkliche tun, ihm zu helfen. Die moralische Frage lautet: „Was wird ihm zustoßen, wenn ich mich seiner nicht annehme?“

Diese zentrale Frage lasse sich auch auf Ökosysteme und die Gesellschaft übertragen. Als Jonas während des Zweiten Weltkriegs den kollektiven Hilferuf der Notleidenden vernahm, trat er der Jüdischen Brigade der Britischen Armee bei und kämpfte in Italien gegen die Nazis. Im Juli 1945 kam er ins befreite Mönchengladbach, wo er 1903 geboren wurde – und musste dort erfahren, dass die Nazis seine jüdische Mutter in Auschwitz ermordet hatten.

Alles Leben macht Anspruch auf Leben

Nach dem Zweiten Weltkrieg weigerte sich Jonas, je wieder auf deutschem Boden zu leben, half beim Aufbau Israels und lehrte ab 1955 an der New Yorker New School. Hier erweiterte Jonas den Verantwortungsbegriff von der unmittelbaren Gegenwart auf die Zukunft: Die jetzt Lebenden sind den späteren Generationen gegenüber verpflichtet, weil sie ungefragt geboren und in jener Welt leben werden, die wir ihnen hinterlassen. Die zukünftigen Menschen haben durch „ihr unerbetenes Dasein das Recht, uns Frühere als Urheber ihres Unglücks zu verklagen, wenn wir durch sorgloses und vermeidbares Tun die Welt […] für sie verdorben haben“.

Und Jonas geht noch einen Schritt weiter, indem er der gesamten Natur einen Eigenwert zuspricht, den wir zu achten haben, denn „alles Leben macht Anspruch auf Leben“. Der Gedanke dahinter: Alle Lebewesen wollen unzerstörte und bewohnbare Habitate. Tiere streben nach Nahrung und Wärme und meiden Schmerzen.

„Die bloße Anwesenheit eines Fühlens, was immer sein Was oder Wie sei, ist seiner totalen Abwesenheit unendlich überlegen“, schreibt Jonas. „Daher ist die Fähigkeit zu fühlen, wie sie in Organismen anhub, der Ur-Wert aller Werte.“ Der elementare Lebensdrang birgt also zugleich eine ethische Dimension. Dieses Recht auf Leben beruht nach Jonas keineswegs auf dem Wert, den dieses Leben für andere hat – Lebewesen haben dieses Recht allein schon deshalb, weil ihr Leben für sie selbst wertvoll ist. Dadurch, dass Lebewesen Ziele anstreben und „Ja“ zum Leben sagen, haben Menschen schlichtweg nicht das Recht, „Nein“ zu ihrem Leben zu sagen.

„Jetzt beansprucht die gesamte Biosphäre des Planeten mit all ihrer Fülle von Arten, in ihrer neu enthüllten Verletzlichkeit gegenüber den exzessiven Eingriffen des Menschen ihren Anteil an der Achtung, die allem gebührt, das seinen Zweck in sich selbst trägt – das heißt allem Lebendigen.“ Mit dieser Philosophie kritisiert Jonas zentrale Elemente der jüdisch-christlichen Ideengeschichte und des kapitalistischen Wirtschaftssystems, in denen sich der Mensch als reiner Sachverwalter und Eigentümer der Biosphäre versteht. Die alte Hackordnung – hier das handelnde Subjekt Mensch, dort das zu verwaltende Objekt Natur – wird bei Jonas aufgebrochen zugunsten einer Natur, deren Lebewesen schon an sich wertvoll sind und eine Würde haben.

Künstliche Kluft zwischen Körper und Geist

Inspiriert von Jonas’ Ethik hat die Schweiz dieses Lebensrecht sogar gesetzlich verankert. Die Schweizer Verfassung „trägt der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt“ (Art. 120, Abs. 2). Damit ist die Schweiz seit 1999 der einzige Staat weltweit, der explizit allen Lebewesen eine Würde zuspricht.

Doch offensichtlich gibt es auch in der Schweiz Schlachthäuser, SUVs und Syngenta, die dem Lebensrecht der Biosphäre nicht gerade zuträglich sind. Schon drei Jahre nach der Verfassungsänderung musste der Schweizer Bundesrat kleinlaut einräumen, dass man noch gar nicht definieren könne, „welche menschlichen Aktivitäten als strafbare Würdeverletzungen taxiert werden müssten“.

Auch auf internationaler Ebene gab es erste Versuche, das Lebensrecht umfassend zu schützen. Im Jahr 1997 formulierte das InterAction Council – beteiligt waren unter anderem Helmut Schmidt, Jimmy Carter und Michail Gorbatschow – den „Entwurf einer Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“. Anschließend legte der Council das Dokument den Vereinten Nationen zur Abstimmung vor, wo es aber keine Mehrheit fand.

In dem Entwurf heißt es unter Artikel 7: „Jede Person ist unendlich kostbar und muss unbedingt geschützt werden. Schutz verlangen auch die Tiere und die natürliche Umwelt. Alle Menschen haben die Pflicht, Luft, Wasser und Boden um der gegenwärtigen Bewohner und der zukünftigen Generationen willen zu schützen.“ Das ist ganz im Sinne von Jonas’ Ethik: „Das Abhängige in seinem Eigenrecht wird zum Gebietenden, das Mächtige in seiner Ursächlichkeit zum Verpflichteten.“

Damit kritisiert Jonas auch die körperfeindliche Philosophie der Aufklärung: Bei Immanuel Kant entsteht Ethik dadurch, dass sich zwei vernunftbegabte Wesen in einem Dialog darüber einigen, was gut und schlecht ist. Auf dieser engelsgleichen Vernunftebene haben Tiere, Babys und geistig beeinträchtigte Menschen überhaupt kein Mitspracherecht, ganz zu schweigen von der Natur. Diese allzu verkopfte Philosophie entspringe dem künstlichen Leib-Seele-Dualismus und vergesse dabei die „physische Notdurft“, die der Ursprung unseres alltäglichen Weltzugangs sei.

Jonas stellt also die idealistische Philosophie auf den Kopf und fragt beim Philosophieren über den Menschen erst einmal: „Wie viel muss er fressen, damit er existiert? Diese Vorbedingung des Daseins wurde vornehm ignoriert im deutschen akademischen Philosophieren. Das kam niemals vor. […] Dadurch, dass wir Leib sind, sind wir in die Welt verflochten, sind wir ein Teil der Welt, abhängig von der Welt.“ Mitverantwortlich für unser gestörtes und zerstörerisches Verhältnis zur Welt ist Jonas zufolge die künstliche Kluft zwischen Körper und Geist, zwischen Natur und Kultur, zwischen Zielen und Werten.

Jonas’ Philosophie gipfelt in der Formulierung eines erweiterten Kategorischen Imperativs: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Ausschneiden, aufhängen, beherzigen!, will man den Machthabern dieser Welt zurufen. Und genau die sind der Adressat, denn Jonas weiß um die beschränkten Einflussmöglichkeiten der individuellen Akteure. Weil Verantwortung immer ein Korrelat zur Macht ist, betont Jonas, „dass der neue Imperativ sich viel mehr an öffentliche Politik als an privates Verhalten richtet, welches letztere nicht die kausale Dimension ist, auf die er anwendbar ist.“

Daher ist es fadenscheinig, sämtliche Verantwortung allein auf den sogenannten Endverbraucher abzuwälzen, während man die eigentlichen Initiatoren und Nutznießer des Konsumterrors gewähren lässt. Und obwohl Jonas um die Gefahr weiß, dass sein Ruf auf dem Börsenparkett belächelt und verhallen wird, sieht er durch den „sittlichen Willen die Macht in ihre Pflicht genommen“. Bei den politischen und wirtschaftlichen Machthabern muss die Ehrfurcht vor dem Profit einer Ehrfurcht vor dem Leben weichen, denn „die Ehrfurcht allein wird uns davor schützen, um der Zukunft willen die Gegenwart zu schänden, jene um den Preis dieser kaufen zu wollen. So wenig wie die Hoffnung darf auch die Furcht dazu verführen, den eigentlichen Zweck – das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit – auf später zu verschieben.“

Eine neue Generation

Das Prinzip Verantwortung versteht sich auch als Kritik an Ernst Blochs neomarxistischen Utopien in dessen Werk Das Prinzip Hoffnung (1954–1959). Angesichts der „ökologischen Krise“ misstraut Jonas Utopien und ist insofern wertkonservativ, als dass er die Natur und den Menschen nicht weiter nach neuen Idealen formen, sondern einfach in ihrem möglichst ursprünglichen Wesen bewahren möchte. Die Naturzerstörung sei ein Resultat des utopischen Markt- wie Staatskapitalismus, die beide angesichts zukünftiger Wohlstandsversprechen unsere Lebensgrundlagen opfern. Jonas ist sich der immanenten Sachzwänge beider Systeme bewusst: Sowohl der Kapitalismus als auch der Sozialismus, die ja seit der Finanzkrise 2008 wieder intensiv diskutiert werden, kranken an der „Dialektik eines Fortschritts, der zur Lösung der von ihm selbst geschaffenen Probleme neue schaffen muss“.

Den einzigen Vorteil der „kommunistischen Tyrannis“ sieht er darin, dass sie „machttechnisch“ den marktkonformen Demokratien überlegen sei, weil das Prinzip Verantwortung einfach von oben verordnet werden könne. Der liberale Kapitalismus wiederum entspreche dem freiheitlichen Streben des Menschen, das aber stets ins Maß- und Schrankenlose auszuufern drohe. Und diese Freiheit lasse „sich nicht wirklich auslöschen, nur zeitweilig sich aus dem öffentlichen Raum verbannen“.

Jonas erkennt hier ein Dilemma und bleibt in weiteren politischen Systemfragen ähnlich vage wie die aktuelle Degrowth-Bewegung, als deren Vordenker er gilt. Um die ökologische Krise abzuwenden, plädiert Jonas für erneuerbare Energien, eine Umverteilung des Reichtums und für einen globalen Konsumverzicht, der „freiwillig wenn möglich, erzwungen wenn nötig“ verwirklicht werden solle. Reißen alle Stricke, müsse man die Menschen zu ihrem Glück, zumindest aber zu ihrem bloßen Überleben zwingen – aber erst dann. „Fatalismus wäre Todsünde!“

1992, ein Jahr vor seinem Tod, wünschte sich Jonas, „dass eine jüngere, eine neue Generation heranwächst, die von vornherein in ihrer sittlichen und in ihrer theoretischen Erziehung genügend alarmiert wird, und die dann in der Lage ist, Druck auszuüben auf das, was Politiker und Wirtschaftler sich noch erlauben können“. Vielleicht können ihm Greta Thunberg und die globale „Fridays for Future“-Bewegung diesen Wunsch erfüllen.

Anm. d. Red.: Das Foto oben stammt von Hiroyuki Takeda und steht unter einer CC-Lizenz.

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