Aufgekratzt und gelähmt: Winter-Reise durch Polen

Ein Vodka-trinkender Professor und seine Dekolleté-Frau, Fußball-EM-Wahnsinn, die neue Warschauer Bohème und Bahnhöfe, die seit 1995 ihre Fahrauskunft nicht aktualisiert haben: Auf ihrer Winter-Reise durch Polen fängt Berliner Gazette-Autorin Karolina Golimowska die Stimmung in einem Land ein, das gleichzeitig aufgekratzt und gelähmt ist.

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Im Speisewagen des Berlin-Warschau-Expresses: Es ist voll und deshalb selbstverständlich, dass man sich die Tische mit fremden Leuten teilt. Ich setze mich zu einem Paar. Er: Professor an der Uni Wrocław, sehr schlank, graues Hemd, kleine Brille, eher unauffällig. Sie: seine Frau, mit langen rosafarbenen Fingernägeln und großem Dekolleté. Es ist 15 Uhr. Er bestellt einen Hering in Öl und 100 ml königlichen Sobieski Vodka. Sie trinkt Gin-Tonic.

„Wissen Sie, es gibt zwei Sachen auf dieser Welt, die man unmöglich ohne 100 ml verspeisen kann: Hering im Öl und Tatar“, dabei benutzt er die Verniedlichungsform von hundert („seteczka“) – das Wort wird dadurch weiblich. „Wer Hering ohne Seteczka verspeist, sündigt!“, so der Prof. Vorsichtshalber bestelle ich eine Suppe – um ja nicht in die Versuchung zu kommen, zu sündigen.

Ich komme in Warschau an und fahre dann weiter mit einem Bus, der voll von Legia-Fans ist; eine Gruppe vorne und eine andere im hinteren Teil des Busses schreien und singen sich gegenseitig an: „Für unsere Stadt / Für die Farben / Geben wir unseres Leben. / Gewinn für uns / Wir gewinnen / Legia Warszawa, ich liebe dich!“. Offensichtlich ist gerade ein Fußballspiel zu Ende gegangen. Die Fahrt ist sehr lang, es ist heiß und es riecht nach Bier. Endlich steige ich aus und fühle mich wie im Halbdelirium.

EM 2012: Der Vorbereitungswahn hat alle ergriffen

Am nächsten morgen fahre ich nach Olsztyn, wo ich fast eine Woche lang als Übersetzerin arbeite und umgeben bin von der lokalen künstlerischen Bohème, grünen Plattenbauten und Rentnern aus Deutschland. Am letzten Abend tanzen wir in der einzigen Disco der Stadt zu polnischen Hits aus den 80ern, dazu gibt’s MTV-Video-Clips auf einem großen Plasmabildschirm ohne Sound. Am nächsten Tag komme ich wieder in Warschau an, zusammen mit Czesław Niemen singe ich: „Meine Stadt / und in ihr die schönste Welt und die schönsten Träume“.

Es macht mir nichts aus, dass ich dann am Abend lange Zeit nach einer Brücke suchen muss, die nicht gerade im Rahmen des Fußball-EM-2012–Vorbereitungswahnisinns umgebaut wird, um auf die andere Seite des Flusses, nach Praga zu kommen.

In einer alten Motorradfabrik gibt es dort seit neuestem drei oder vier (niemand weiß es genau) neue Galerien. Der große polnische Künstler kommt zu spät zu seiner Ausstellungseröffnung, weil ihn wegen der Brückensituation kein Taxifahrer bis nach Praga bringen wollte. Es ist voll und sehr international, es gibt elegante Häppchen und Wein in großen Gläsern. Beim Rausgehen höre ich zwei Franzosen, die die Aussprache üben: „Prrragá“. Es ist kalt. Ich fahre durch die Stadt, die lebt, die tanzt und die nie wieder schlafen will. 72 Stunden später bin ich schon wieder on the road.

Unheimliche Taxifahrt

Ich fahre nach Szczecin, um eine Konferenz zu besuchen. Nach dem ersten Konferenztag bin ich mit zwei Kollegen aus Deutschland unterwegs. Um 23 Uhr stellen wir fest, dass keine Busse mehr in die Richtung unseres Hotels fahren. Auf Polnisch spreche ich einen Mann an der Bushaltestelle an. Sofort schlüpft er in die Rolle des allwissenden Einheimischen. Obwohl es eiskalt ist, trägt er bloß ein T-Shirt. Vermutlich um sich aufzuwärmen, verhält er sich überaktiv: beim Sprechen springt er fast in die Luft und gestikuliert so stark, dass man aufpassen muss, nicht plötzlich von einer seiner “Gesten” niedergeschlagen zu werden.

Noch bevor ich protestieren kann, bestellt er uns ein Taxi und erzählt uns seine Lebensgeschichte. Er sei Mathematiker, arbeite aber im Zollamt und liebe die Bundesliga. Das Taxi kommt, er macht einen Preis aus und steigt mit uns ein, da „es nun wirklich kein Umweg ist, ihn bis nach Hause zu fahren“.

Wir fahren sehr lange obwohl die Stadt wirklich nicht so groß ist. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind, meine Kollegen verstehen kein Wort von dem Monolog des Einheimischen. Sie gucken mich misstrauisch an. Mir wird das Ganze langsam ein bisschen unheimlich und ich muss an eine Fahrt durch Bangkok denken, bei der mich der Taxifahrer ohne zusätzliche 1000 Bat nicht aus dem Auto aussteigen lassen wollte.

Nachdem unser Zollbeamter endlich aussteigt, fahren wir noch ewig, bis wir im Hotel ankommen. Doch bezahlen müssen wir nicht. Es wurde bereits bezahlt, so der Fahrer. Ich bin erleichtert, aber kann nicht einschlafen.

Eine Uhr, die schon lange keine Ahnung mehr von Zeit hat

Nach der Konferenz, laufe ich zum Bahnhof Szczecin Gumieńce („gumieńce“ klingt ein bisschen wie “Gummistiefel”), der laut Karte viel näher bei der Universität liegt, als der Hauptbahnhof. Bahnhof Gumieńce sieht aus wie die altpreußischen, seit Jahrzehnten ungenutzten Bahnhöfe der Schmalspurbahn in den Masuren.

Es gibt ein Gleis und eine sehr alte Uhr, die schon lange keine Ahnung mehr von Zeit hat. Auf der einzigen Infowand hängt eine Fahrauskunft aus dem Jahr 1995. Ich warte in der Sonne und werde ein bisschen nervös. Drei Minuten später fährt pünktlich ein Regionalzug aus Deutschland ein, der genau eine Minute lang in Gumieńce hält. Ich steige ein. Jetzt könnte ich eine Seteczka trinken, auch ohne Hering.

Anm. d. Red.: Das Foto The Inquisitive stammt von Hampshiregirl (cc-by-nc-sa 2.0).

10 Kommentare zu “Aufgekratzt und gelähmt: Winter-Reise durch Polen

  1. Gut geschrieben! Was mich bei meinen Fahrten (geschäftlich) 1992-95 in Polen immer gewundert hat: Während ich die Namen der polnischen Städte auf polnisch benannte, sprachen meine polnischen Partner meist die deutschen Namen aus. Was mich heute wundert ist die Amerika-Hörigkeit der Polen bzw. des offiziellen Polen.
    Zur polnischen Küche: Jawohl, Hering in Öl un dazu Wodka ist was Feines. Dazu vielleicht noch: Eingelegte Pilze, gebratener Hecht mit Graupen und davor eine Rote-Rüben-Suppe.

  2. @ Juergen: vielleicht hast Du die Namen falsch ausgesprochen ;) ? Was die einseitige enthusiastische Einstellung den USA gegenueber angeht, ist es tatsaechlich immer wieder merkwuerdig – und nichts scheint der Faszination zu schaden, auch nicht die Touristen Visa Pflicht (trotz EU Mitgliedschaft)oder die ganze Raketenabwehrgeschichte.

  3. ein Bericht über Weihnachten in Polen wäre aus dieser Feder wünschenswert — Charlie Chaplin im Santa Claus Kostüm..

  4. @Karolina Golimomowska: Meine Bemerkung (erster Absatz) bezog sich auf den Nationalstolz (nicht Nationalismus!) der Polen, der, so hört man immer wieder, größer sein soll, als bei anderen Völkern in Europa und der, wenn man die polnische Geschichte betrachtet, auch nachvollziehbar wäre. Wie siehst Du das?

  5. Lieber Jürgen, entschuldige, aber ich sehe keinen Link zwischen den deutschen Namen der polnischen Städte (dein erster Absatz) und dem Nationalstolz der Polen – vielleicht liegt es an zu viel Hering im Öl in den letzten Tagen. Was meinst du genau?
    Mit dem Nationalstolz: da bin ich gegen Pauschalisierung jeder Art, und so richtig vergleichen kann ich es auch nicht. Den gibt es auf jeden Fall, aber ob der stärker ist als z.B. in GB, USA oder anderen Ländern? Hängt auf jeden Fall auch von der Generation ab.
    @ bojan: vielleicht schreibe ich demnächst einen kurzen Bericht über Weihnachten in PL!
    Danke für Euer Interesse und Kommentare!

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