Piratenpartei – ein Politik-Startup ohne Geschichte?

Die Piratenpartei ist seit einigen Monaten allgegenwärtig: Sie wirbelt besonders in der Netzpolitik viel Staub auf und ist urplötzlich in mehreren Parlamenten vertreten. Ein von unternehmungslustigen Digital Natives lancierter Politik-Startup ohne Geschichte? Oder steckt doch mehr hinter dem Hype? Politikwissenschaftler und Berliner Gazette-Autor Christoph Bieber analysiert die Partei auf deutscher sowie europäischer Ebene.

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Mit der Piratenpartei setze ich mich nun seit Anfang 2008 auseinander – die Piraten waren bei der hessischen Landtagswahl angetreten und in Gießen, wo ich damals als Assistent am Institut für Politikwissenschaft arbeitete, fanden sich tatsächlich einige Plakate.  Gelegentlich sogar der sprichwörtliche Tapetentisch in der Fußgängerzone. Man konnte tatsächlich der Meinung sein, dass sich hier die so genannten Digital Natives auf eine etwas unbeholfene Weise in den politischen Raum gewagt hatten – das Themenspektrum war eng und techniklastig und ganz offenbar nur schwer zu vermitteln: ganze 6.962 Wähler gaben den Piraten ihre Stimme (0,2 %), bei der „Neuauflage“ der Landtagswahlen waren es dann 13.796 Stimmen (0,5 %).

Politische Nische: Das Internet

Durch die Protestkampagne gegen die von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (und den durch die Debatte um die schwedische Filesharing-Plattform „The Pirate Bay“ begünstigten Achtungserfolg bei der Europawahl im Juni 2009) erhielt die Partei einen massiven Zulauf von Mitgliedern. In den wenigen Monaten bis zur Bundestagswahl festigte sie ihren Charakter als Protestpartei.

Zentraler Ansatzpunkt war für viele Menschen die wichtiger werdende Nutzung des Internet als alltäglicher Lebensraum. Außerdem wurde wahrgenommen, dass die etablierten Parteien nicht in der Lage waren, für diesen Bereich eine vernünftige Politik zu formulieren. Diese Entwicklung markiert den eigentlichen Gründungsmoment der Piratenpartei, etwa drei Jahre nach der formalen Gründung im Jahr 2006.

Diese erste Wachstumsphase wird in der Rückschau zu einem wichtigen Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu anderen Ländern – sie geschah in einem Zeitraum, der auch vom Durchbruch der sozialen Netzwerke gekennzeichnet war. Damit erweiterten sich sowohl die Möglichkeiten zur Nutzung digitaler Plattformen und Werkzeuge für den parteiinternen Gebrauch wie auch die Reichweite der Online-Kommunikation.

Gründe für den Erfolg

Entscheidend für den Erfolg dürfte nun aber die Anwesenheit einer zwar noch unfertigen, aber eben doch vorhandenen Organisationsstruktur sein: in allen Bundesländern gab es bereits Landesverbände, insgesamt waren seit der Bundestagswahl etwas mehr als 10.000 Mitglieder registriert. Und selbst wenn die Resultate zwischen 2009 und 2011 bei knapp zwei Prozent stagnierten, so ist dieser Zeitraum eher als Stabilisierungsphase zu bewerten.

Der Durchbruch bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin ist schließlich auf mehrere Faktoren zurückzuführen, die organisatorische Festigung hat ebenso zum Wahlerfolg beitragen wie die Ausweitung des Themenspektrums, die wachsende Unzufriedenheit mit der Regierungskonstellation, die Arroganz der Konkurrenz oder der Absturz der FDP.

So erwartbar ein gutes Wahlergebnis der Piraten auch gewesen sein mag, so überraschend war die darauf folgende zweite Explosion der Mitgliederzahlen: bis zum Jahresende wurde die 20.000er-Marke erreicht. Zugleich stieg der Altersschnitt der Partei auf knapp unter 34 Jahre an. Die beinahe zeitgleich stattfindenden Wahlen im Frühjahr 2012 führten zu einer weiteren Ausdifferenzierung – sowohl in thematischer, aber auch in personeller Hinsicht.

Dann kam #zensursula

Bedingt durch die föderale Organisationsstruktur und den bürokratischen Formalia bei der Anmeldung und Vorbereitung dieser Wahlen (Unterstützerunterschriften sind für die Neuanmeldung von Listen und Direktkandidaten zwingend erforderlich) hat die digitale Parteistruktur ein breit gefächertes analoges Gegengewicht erhalten – genau dies fehlt in den meisten anderen europäischen Ländern (noch). Dort hat es nicht selten ähnliche Entrüstungsstürme wie im Rahmen der #zensursula-Kampagne gegeben. Aber diese führten eben zu keinem Aufbau von Parteistrukturen.

Die ACTA-Proteste könnten hier in manchen Fällen ähnlich wirken, doch das Beispiel aus Deutschland zeigt sehr deutlich, dass es einige Zeit braucht, bis sich eine auch in Wahlkämpfen leistungsfähige Organisation formiert hat. Interessant wird in dieser Perspektive die Europawahl 2014 sein – sofern auf Ebene der nationalen Systeme bis dahin wahrnehmbare Formierungsprozesse stattfinden.

Eine Rolle spielen dürfte dabei das Lern- und Adaptionsverhalten der etablierten Parteien, die sich in Deutschland gerade in einer Art „Piratisierungswettbewerb“ zu befinden scheinen. Interessant ist dabei, dass nun längst vergessene Ansätze wie „virtuelle Ortsvereine“ (SPD, 1995) oder „Online-Parteitage“ (Die Grünen, 2001) neu aufgelegt werden – inwiefern solche Modernisierungsversuche funktionieren können, ist zurzeit noch unklar. Anders als beim Entstehungsprozess der Piratenpartei, stehen der Online-Orientierung in den etablierten Parteien über Jahrzehnte gelernte Verfahren der innerparteilichen Kommunikations- und Entscheidungskultur gegenüber.

Die Nicht-Laufbahn-Politiker

Gleichwohl wissen die „alten Mitgliederparteien“, dass sie neue Wege gehen müssen, wenn sie aus Modernisierungsstau und Beteiligungskrise entkommen wollen. Die Auskopplung von „Innovationszentren“ wie D64 (SPD) oder CNetz (CDU/CSU) deutet zumindest an, dass es innerhalb der Parteistrukturen nach wie vor kaum überwindbare Hindernisse zu geben scheint.

Eine weitere Pointe des Piratenerfolgs liegt neben den vielfältigen und uneinheitlichen Mobilisierungseffekten auch in der Selektion politischen Personals. War noch vor zehn, fünfzehn Jahren regelmäßig der Ruf nach „Quereinsteigern“ in die Politik zu hören (wer erinnert sich noch an Jost Stollmann oder den Professor aus Heidelberg?), so drängt über die Piratenpartei nun eine ganze Reihe solcher Nicht-Laufbahn-Politiker in die Parlamente.

Weder die „Ochsentour“ durch die Parteihierarchie, noch eine professionalisierte Ausbildung zum „Berufspolitiker“ führte die #15piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus oder die #6piraten in den Kieler Landtag (okay, Angelika Beer ist eine Ausnahme, allerdings machte sie ihre Parteikarriere bei den Grünen). Von den #20piraten in Düsseldorf sind gut die Hälfte den IT-Berufen zuzuordnen, aber es finden sich auch ein Feuerwehrmann, ein Versicherungskaufmann und ein Polizeikommissar darunter.

Mit der Hinterfragung althergebrachter Organisationsregeln, der Durchlüftung von Kommunikationsgewohnheiten, der Aktualisierung des politischen Themenspektrums scheint der Erfolg der Piratenpartei einen breit angelegten Innovationsschub im gesamten Parteienspektrum auszulösen – die Zuführung neuen Personals ist dabei ein weiterer, unerwarteter Impuls, der auf die Lernfähigkeit und Flexibilität des deutschen Parteiensystems verweist.

Anm. d. Red.: Das Bild oben ist ein Banksy. Der Autor dieses Artikels ist Herausgeber des Buches Unter Piraten, das im transcript Verlag erschienen ist.

4 Kommentare zu “Piratenpartei – ein Politik-Startup ohne Geschichte?

  1. jetzt hab ichs:
    der Artikel von Matussek hieß:
    „Debatte: Das maschinenhafte Menschenbild der Piraten“

    …und ließ kein gutes Haar an den Piraten, die angeblich allesamt dümmliche Lady-Gaga-Fans, “wohlstandsverwahrlost” usw. sind und mit ihrer Urheberrechts-Bekämpfung an die Nazis erinnern (?). Na, vielen Dank! Hoffentlich liest Matussek die BG

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