Pink, Pessimismus und ein Playboy

Auf der Suche nach dem Glueck, nach Liebe, nach Freiheit oder nach dem wahren Land begegnet der Mensch immer anderen Menschen. Manche sind ebenfalls auf der Suche, manche sind schon verzweifelt, weil sie die Wahrheit um den Verstand gebracht hat und manche brauchen Luegen um den naechsten Schritt zu wagen. In Maxim Gorkis Stueck >Nachtasyl< treffen diese Menschen in >einem Keller, wie einer Hoehle< aufeinander. Sie stehen am Rande der Gesellschaft, trinken oder beschaeftigen sich mit niederen Arbeiten. Ueber 100 Jahre nach der Urauffuehrung in Moskau unter der Regie von Konstantin Stanislawski, verlor das Stueck bis heute nicht an Bedeutung. Noch immer funktioniert es als ein Spiegelbild unserer Zeit, das sich in den immer gleichen Wuenschen, Hoffnungen und Schicksalen der menschlichen Seele aeussert.

Auch Thomas Langhoff erkannte das Potenzial des Stueckes und inszenierte am Berliner Ensemble ein realistisches Schauspiel, das sich heute, genauso wie vor 100 Jahren, in einem russischen Keller abspielen koennte. Nur die Kleidung und die Sprache sind 2010 etwas moderner geworden. So traegt die Pelmeniverkaeuferin Kwaschnja eine pinkfarbene Daunenjacke, Aljoschka ist ein Schuhmacher im Dauerrausch und Adidas-Sporthosen und Nastja, ein naives, vertraeumtes Maedchen, tritt mit blonder Peruecke und kurzem Rock auf. Und damit sind nur drei der insgesamt 17 Figuren genannt, die allesamt fuer zeitlose Persoenlichkeiten stehen. Dargestellt werden diese von einem Ensemble bestehend aus charismatischen Schauspielern, jungen Talenten und Charakterkoepfen, die unterschiedlicher nicht haetten sein koennen und dadurch dem Zuschauer in Erinnerung bleiben.

In den ersten Minuten des Stuecks dominiert der Schlosser Andrej Mitritsch unfreiwillig die Szene. Waehrend der Zuschauer versucht, sich zwischen den Gespraechsfetzten zu orientieren, werden diese uebertoent durch die Geraeusche des Schlossers, der an seinen Schluesseln feilt. Er sitzt auf einem Bierkasten, waehrend sich die anderen in der Kulisse tummeln. Das Buehnenbild im Theater des Berliner Ensembles aehnelt dem Inneren eines Lastwagens. Ein nach vorn offener Kasten, die Seiten mit LKW-Planen verhangen, ein einfaches dreistoeckiges Konstrukt mit Leitern dient als Liegeflaeche und Rueckzugsort zugleich, der nur durch einen milchfarbigen Vorhang vor den Blicken des Publikums abgeschirmt werden kann. Nur einer bewohnt eine verschliessbare Kiste mit einem Radio darinnen: der Dieb Wassjka Pepel, der schon seit seiner Kindheit >immer nur der Dieb< war. Mit Anzug und zurueckgegeltem Haar wirkt er wie ein Zuhaelter und ist doch der Playboy der Truppe, die in Wirklichkeit keine ist. Auf engstem Raum vereint herrscht in der Gruppe weder eine Hierarchie noch ein Gefuehl von Gemeinschaft. Erst Luka, ein Pilger, der nur eine Nacht in der Unterkunft verbringt, kann das Vertrauen einiger Figuren gewinnen. Durch sein Talent, Hoffnungsfunken zu entzuenden, in dem er Luegen von besseren Orten, von besseren Zeiten und besseren Moeglichkeiten verbreitet, macht sich Luka zunaechst Feinde, doch auch Freunde. Der totkranken Anna schenkt er Mitleid und verspricht ihr das Paradies nach dem Tod. Dem alkoholsuechtigen Schauspieler erzaehlt er von einem Krankenhaus, in dem man kostenlos eine Entziehungskur machen koenne. Dass dies nur ein Vorwand ist, um ihn zu ermutigen, mit dem Trinken aufzuhoeren, behaelt er fuer sich, versichert aber: >Ja klar! Der Mensch kann alles… wenn er nur will…< Auch den Dieb Wassjka ermutigt er, mit seiner Flamme Natascha, der Schwaegerin des Nachtasylbesitzers, aus dem Elend auszubrechen. Wassilissa, die Schwester und Ehefrau des Nachtasylbesitzers hatte zuvor eine Affaere mit Wassjka und kann nicht von ihm lassen. Sie will mit Wassjka fliehen um sich von ihrem Ehemann zu befreien. Als der sich weigert, macht sie ihm ein Angebot: >Meine Schwester… gefaellt dir weiss ich…[…] Wenn du es willst, dann nimm sie dir! […]Befrei mich [dafuer] von meinem Mann! Erloese mich…<. Der Hoehepunkt dieser Dreiecksbeziehung vollzieht sich am Ende des dritten Aktes. Ein Mord und Enttaeuschung druecken die Stimmung. Und auch Luka ist verschwunden. Pessimismus steht wieder an der Tagesordnung. Im letzten Akt sitzen die verbliebenen Nachtasylbewohner auf Pfandkaesten und loben den Pilger: >Er hat alles gesehen… alles verstanden…<. Als dann noch der Schauspieler erhaengt aufgefunden wird, sind alle Hoffnungen, die Luka einst geschuert hatte, verpufft. >Nachtasyl< ist ein Stueck, das eine Welt zeigt, die dem bildungsbuergerlichen Theatergaenger vermutlich verborgen bleibt. Der Blick auf die Buehne ist fast ein voyeuristischer. Und doch sind die Sehnsuechte, Wuensche und Gedanken der Protagonisten den unseren so aehnlich. Auch wenn wir nicht in einem dreckigen Keller hocken, wir sehnen uns nach Hoeherem und Besserem und manchmal auch nach Luegen, die uns Mut machen. Dann werden wir enttaeuscht und muessen neu beginnen. Der Keller kann eben genauso eine saubere Wohnung, ein Haus oder ein Schloss sein. Mensch ist man ueberall.

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