Parka, Jeans und lange Haare

>Jugend< ist ja ein hoechst schillernder Begriff geworden. Bei manchen dauert sie bis Ende dreissig, bei anderen bis fuenfzig oder gar bis ans Lebensende. Es war und ist bekanntlich unsere Generation gewesen, die den Jugendlichkeitswahn fuer sich entdeckt und ihn dann kultiviert hat, von der Mode ueber Stilfragen und Ernaehrungsgewohnheiten bis hin zur Rock- und Popkultur.

Natuerlich braucht es fuer gelingende Freund- oder Liebschaften mehr als gemeinsam veranstaltete Grill-, Sauf- oder Kiffabende. Es braucht Themen, Ideen und Gefuehle, die Enthusiasmus erzeugen, einen hohen Intensitaetsgrad besitzen und starke mitmenschliche Bindungen untereinander hervorrufen. Nur, wo Seele zu Seele findet, Geist zu Geist; nur, wo Zusammengehoerigkeit um ihrer selbst willen und nicht wegen eines Zweckes gesucht wird; und nur, wo aus dem Ich und Du sogar ein Wir hervorgeht, kommt es zur echten Gemeinschaftsbildung. In diesem Sinne wohnt Freundschaften von Anfang an ein irrationaler Zug inne, der der Welt des Kalkuels, der Buchfuehrung und des Geldhandels unversoehnlich gegenueberstehen.

Seit die Anerkennungsdialektik weniger von Angesicht zu Angesicht als vielmehr uebers Visuell-Technische laeuft, wird der Wunsch, sich im Anderen zu spiegeln und/oder sich vom Anderen gespiegelt zu wissen, von Idolen, Zeichen und Symbolen gestillt. Vor allem in Jugendkulturen ist das zunehmend ritualisiert worden. Dort werden sie vor allem benutzt, um sich von anderen abzugrenzen. Den Zwangscharakter, den solche Insignien ausueben, den Konformitaetsdruck, den Subkulturen erzeugen, sollte man nicht unterschaetzen, besonders wenn sie von einem diffusen Begriff von >Freiheit< gespeist oder aufgehuebscht werden.

Der Mensch sprueht zwar oft vor Einfaellen, schwaetzt gelegentlich aber auch zu viel. Eines ist aber sicher: Werden Zeichen und Symbole nicht mit konkreten Inhalten gefuellt, bereichern sie nur das reichhaltige Fuellhorn hohler und leerer Phraseologie. Das hat nicht nur der postmoderne Diskurs zu Genuege gezeigt, das lernt auch jeder Philosophiestudent im Hegel-Proseminar, aber auch jeder, der fuer einige Zeit Lebensstile, Deutungsmuster und Jargon solcher Communities geteilt oder kopiert hat.

In meinem Fall waren das genau jene Themen, die man von meiner Generation im Allgemeinen auch erwartet: Musik, die der Who und der Deads etwa; Buecher, die von Hesse, Kerouac und Castaneda; diffuser Protest gegen die spiessige Erwachsenenwelt, der sich in vermeintlich nonkonformistischer Haltung, mit langen Haaren, schlampiger Kleidung und Pseudosprachen geaeussert hat; aber auch das gemeinsame Leiden an Frauen, an solchen, die man haben konnte und nicht wollte, und solchen, die man haben wollte, aber nicht bekam.

Spaeter, nachdem >Klingsors letzter Sommer< vorbei war, >Gammler, Zen und hohe Berge< sich als leeres Versprechen herausgestellt hat und sich auch der >Steppenwolf< zur Ruhe gelegt hatte, besetzte Politik den frei gewordenen Platz des Koenigs. Statt >Jungromantik<, Eskapismus und Kleinstadt-Dandytum wueteten fuer einige Zeit kommunististischer Verbalradikalismus und das Geschwurbel von der Verbesserung der Welt.

Bewaehrt hat sich, sieht man von der wiedererwachten Liebe zum Rock’n’Roll einmal ab, relativ wenig. Die sentimentalen und die Vergangenheit verklaerenden Blicke verraten es laengst. Die bereits anrollende Welle der 68er dieses Jahr wird reichlich Anschaungsmaterial dafuer bieten. Im Rueckspiegel betrachtet waren, wie wir inzwischen wissen, etliche Dummheiten, Naivitaeten und Ideologien im Spiel, die das Erleben neuer Erfahrungen, das Entdecken anderer Realitaeten oder den Zwang zum eigenen Denken eher behindert als gefoerdert haben. Vom Ausschlusscharakter, den alle diese Zwangsformen in sich tragen, mal ganz zu schweigen. Erst im reiferen Alter und in der Auseinandersetzung mit anderen Haltungen und Mentalitaeten, lernt man, das Wichtige vom Aufgeblasenen zu unterscheiden und sich von Lautsprechern, wechselnden Moden, Stilen und Trends nicht mehr vereinnahmen zu lassen.

Geblieben ist allerdings der Widerspruchsgeist gegen Borniertheiten aller Art, gegen Wahrnehmungs- und Urteilsroutinen, die in fraglos befolgten Gewissheiten und selbstbewusster Realitaetsverleugnung gipfeln und/oder sich haeufig in selbst gestrickten Lebensluegen aeussern. Sie der mentalen Inventur zu unterziehen, ist das, was mich neben der Wahrnehmung von dem, was ist, heute intellektuell allein noch reizt. Freilich war das Sich-Loesen von vertraut gewordenen Denkschablonen, das Akzeptieren auch >unbequemer Wahrheiten< und das nachmalige Aufbrechen zu neuen Ufern mitunter hart, beschwerlich und schmerzhaft. Vor allem Freundschaften haben darunter gelitten. Nicht wenige sind daran zerbrochen oder werden seitdem nur noch lose gepflegt. Schon daran sieht man, dass auch starke Gefuehlsbindungen fluechtigen Charakters sind und man mit Ritualen, Symbolen und Zeichensystemen nicht unbedingt weit kommt.

Mit Menschen anderer Kulturen, Hautfarbe oder Sprache hat das aber wenig zu tun. Auch als Jugendlicher hatte man via Schueleraustausch, Festivals und den Besuch einschlaegiger Lokale oder Reisen mit der Bahn, per Autostopp oder spaeter mit dem eigenen umgebauten Kaefer hinreichend Kontakt zu ihnen. Warum auch nicht. Aufgrund des globalen Inhalts, den die Rock- und Popkultur und all ihre Insignien transportieren, lange Haare, Parka, Jeans, wurden Interessen, Themen und Zeichen ja geteilt. Die Erfahrung von Mangel oder Armut hat daran wenig geaendert. Das kannten wir selbst. Um wie Keruacs Helden on the road in die Ferne schweifen zu koennen und unseren diffusen Traum von Freiheit und Ungebundenheit zu froenen, mussten wir vorher erst in die Fabrik ans Fliessband, um uns dort das entsprechende Kleingeld fuer den Traum von Freiheit hart zu erarbeiten. Von Pfadfindern, christlichen Amenpredigern oder Dritte-Welt-Junkies habe ich damals im Uebrigen nie viel gehalten.

Interessanterweise erfaehrt der Gemeinschaftsbegriff, nachdem ihn die Soziologie verabschiedet und durch den der Gesellschaft ersetzt hat, in der Literatur und Philosophie eine kleine Renaissance. Verwundern kann das nur den, der die >weichen Wissenschaften< nicht kennt. Anders als in den >harten Wissenschaften< ist dort der berechnende Verstand noch wenig, der Wunsch nach geistiger und seelischer Naehe dafuer umso staerker ausgepraegt.

Es war der Strassburger Philosoph Jean-Luc Nancy, der vor einem Vierteljahrhundert >eine Gemeinschaft< skizziert hat, zu der wir alle via Geburt, Herkunft oder Sprache fraglos dazugehoeren. Diese Gemeinschaft, er meint damit >die Menschheit<, stellt bestimmte Ansprueche an den Einzelnen und legt ihm gewisse Pflichten auf. Weil sie von Sprachen, Kulturen, Ethnien und Geschlechtern, Traditionen und Symbolen abstrahiert, bleibt sie in seinen Augen >undarstellbar<.

Maurice Blanchot, Dichterphilosophoph und Wanderer zwischen den politischen Extremen, hat Nancys >Gemeinschaftsforderung< spaeter mit der kommunistischen Idee einer sich selbst genuegenden, sich selbst transparenten Gesellschaft verknuepft. Um deren historische Existenz zu verbuergen, hat er ausser zwei fluechtigen Ereignissen kaum Belege dafuer gefunden: Den Mai 68, als Studenten, Arbeiter und Intellektuelle sich ohne Ansehen von Bildung, Geschlecht oder Klasse ploetzlich zu einer spontan-explosiven Kommunikation zusammenfanden. Sowie ein Trauergeleit, bei dem eine bunte Vielheit [Multitude] ihren Toten stellvertretend fuer das gesamte Volk [gemeint waren die Buerger von Charonne] die letzte Ehre erwiesen haben.

In beiden Faellen will Blanchot >eine noch nie gelebte Art von Kommunismus< beobachtet haben. Indem sie nur zusammengekommen waren, um sich danach augenblicklich gleich wieder zu verlieren, vollziehen sie, die Revoltierenden von Paris ebenso wie die Trauernden von Charonne, trotz der sie trennenden Unterschiede die Gemeinschaftsforderung, ohne dabei in jenen Totalitarismus< zu verfallen, der zu den schrecklichen Blutbaedern in Asien, im Osten Europas oder in Mittelamerika gefuehrt hat.

Blanchots Beobachtung zeigt, dass die Gemeinschaftsforderung, die Nancy erhebt, Chimaere ist. Sie wird zur Farce, je groesser die Gruppe oder Ethnie ist. Gemeinschaft stellt sich, wenn ueberhaupt, nur fluechtig ein, sie verschwindet, wenn das sie verbindene Element sich aufloest oder sich als Trugbild erwiesen hat. Die Gemeinschaft ist und bleibt das Unmoegliche. Sie scheitert nicht an gesellschaftlichen Bedingungen, an Regeln, Normen oder Kommunikation, sie scheitert vielmehr an ihrer eigenen Masslosigkeit, am Wunsch nach Verstaendigung, Versoehnung oder emotionaler Verbundenheit mit dem Anderen.

Der Ort, an dem uns das Gemeinschaftsverlangen sich als illusionaer erweist, ist der Tod. Im Sterben des Anderen, vornehmlich eines Freundes oder einer Geliebten, erfahren wir unsere Endlichkeit hautnah. Indem wir den Tod des Anderen annehmen, ihn mit dem Freund zu teilen und ihn dabei wie den eigenen betrachten, bringt der Tod uns zwar ausser sich, aber auch der Moeglichkeit der Erfahrung von Gemeinschaft nahe. Aber nur kurzzeitig. Nach dem Tod des Anderen stellt sich das Gefuehl des Verfehlens wieder ein. Der Mensch ist das, was ihm fehlt.

Darum gilt es, den Riss und den Abgrund, der die Menschen voneinander trennt, die Zerrissenheit, die uns durchzieht, auszuhalten und auf >Totalisierungen<, in welch wohlmeinender Absicht sie auch immer an uns herangetragen werden, zu verzichten. Es gilt die >Werklosigkeit< allen Werkens zu akzeptieren, auf Anerkennung zu verzichten und zu begreifen, dass >unmittelbar verwirklichte Utopien< ohne Zukunft und ohne Gegenwart bleiben. Nur die Erfahrung gemeinsamer Einsamkeit und Fremdheit schuetzt vor politischem Missbrauch. Bei rechtem Gebrauch oeffnet sie, und das waere mein optimistischer Ausblick, vielleicht sogar unbekannte Raeume individueller Freiheit.

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