Cineastische Poetik: Was passiert, wenn ein Regisseur Romane schreibt?

Oskar Roehler, Regisseur von Filmen wie „Der alte Affe Angst”, „Die Unberührbare” und „Lulu & Jimi”, legt mit 52 Jahren sein Romandebut „Herkunft” vor. Die Literaturwissenschaftlerin und Berliner Gazette-Autorin Annika Bunse hat die 583 Seiten gelesen und beleuchtet, wie filmisch das Buch ist.

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Oskar Roehler fühlt sich nicht ganz heimisch auf der Buchpremiere, es ist seine eigene. Filmpremieren scheinen ihm eher zu liegen. Roehler, der berühmt-berüchtigte Regisseur und Drehbuchautor, fremdelt sichtlich auf dem neuen Terrain, das er so kühn betreten hat: Literatur. Roehler blickt fragend ins Publikum, während der Moderator eine Verbündete aus der Filmwelt begrüßt. Seine „Unberührbare”, Hannelore Elsner, ist ihm zu Ehren ins Babylon gekommen.

Fremdeln im Literaturbetrieb

Elsners Anwesenheit und erster Applaus machen Mut und rufen den eigentlichen Oskar Roehler auf den Plan: Da sitzt dann plötzlich nicht mehr der verspätete Schreiberling, der sich dafür ein bisschen schämt, sondern ein Filmemacher von Welt, radikal, wild und eigenwillig. Regisseur Roehler blickt durch den Kinosaal, lehnt sich zurück und entspannt sich. Er ist hier im Kino zu Haus, nur auf seiner eigenen Buchpremiere fremd. Aber das scheint ihm jetzt egal zu sein.

Dieser Gegensatz greift ebenso für sein erstes Buch: Es schildert eine entfremdete Heimat und heißt deshalb sachlich „Herkunft”. Der Titel klingt zunächst nach einer Eins-a-Autobiografie mit Verkaufsgarantie. Man erwartet pikante Details aus dem Privatleben eines großen deutschen Filmemachers. Doch der Autor selbst will sich das persönliche Genre unbedingt vom Hals halten.

Zerstörer der Kindheit waren die eigenen Eltern

Auf der letzten Seite des Buchs heißt es plakativ: „Alle handelnden Personen sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit realen Menschen wäre rein zufällig.” Auch als ihm im Babylon die Frage nach Schein oder Sein direkt gestellt wird, winkt er gelangweilt ab und sagt: „Ach nein, da steckt doch ‘ne Utopie, ‘ne Mission dahinter, von dem, was du beschreiben willst. Das hat gar nichts damit zu tun, dass ich hier versucht hätte, irgendwelche Leute zu verunglimpfen.”

Bei der Premiere im Kino werden diese Worte jedoch ironisch gebrochen, geht es doch den ganzen Abend nicht um Robert, die Hauptfigur des Romans, sondern um den kleinen und den großen Oskar, den Regisseur und den Autor des Romans. Roehler schafft es schlussendlich nicht mehr den Schein zu wahren: „Ich wollte immer nur meine Kindheit, die zerstört wurde, aufschreiben. Sie war noch vor der Konsumgesellschaft und deshalb sehr karg, sehr ärmlich und auf Grundbedürfnisse reduziert. Aber dadurch auch sehr dicht und intensiv.“

Die Zerstörer der Kindheit waren die eigenen Eltern. Klaus Roehler und Gisela Elsner betrieben beide die Profession, zu der ihr Sohn erst mit 52 Jahren fand: Schreiben. Elsner und Roehler waren Mitglieder der Gruppe 47, gehörten damals zur literarischen Avantgarde. Oskar Roehler selbst nennt sie nicht ohne Stolz Vorboten der 68er: „Das waren so Prototypen, die vorher schon mal ins All geschossen wurden, ne?“ Seine Mutter war die erfolgreichere Schriftstellerin, der Vater wurde Verleger von Günther Grass. Die beiden Intellektuellen zerfleischten sich in einer kräftezehrenden Amour fou.

Das neue Objektiv ist auf “extrascharf” gestellt

An seinen Erzeugern, den unerreichbaren Künstlerpersönlichkeiten, praktiziert der verstoßene Sohn nun seine persönliche Vendetta. In seiner Kunst lässt er beide aufeinander los und sich gegenseitig zerstören, zeigt ihre Abgründe und leeren Ideale und versucht dabei doch nur eins: sie zu verstehen, sich anzunähern. Dafür hat Roehler in „Herkunft” sein neues Objektiv, das Erzählen, auf extrascharf gestellt.

Die Mutter mit der schwarzen Cleopatrafrisur wird in voller Exzentrik gezeigt, ihre Selbstinszenierungsstrategien werden vorgeführt – es ist kein Making-Of, eher wie Porno. Seine Nora-Figur ist irisierende Borderline-Persönlichkeit und Kleinmädchen mit Kirschkleid in einer Person. Sie schneidet sich ein geldstückgroßes Loch über die Schlagader, um interessiert das pulsierende Leben darunter zu betrachten. Der Vater, die Rolf-Figur, ist von Akribie besessen und von Idealen getrieben.

Auch der geliebte Nazi-Großvater und Gartenzwerg-Fabrikant Erich und seine Feindin, die Schwester Marie, der blonde Engel mit den Eisaugen, der mit Elli, des Bruders Frau, eine Affäre beginnt und all die anderen Figuren werden von Roehler hochgradig psychologisiert und intentional beobachtet. Hier kann er das machen, was im Film unmöglich ist: Gedanken sichtbar.

Familien- und Zeitgeschichte bilden bei Roehler aber nur eine Bühne für seine präzise gezeichneten Figuren, die er gnadenlos in ihren Grenzgebieten erfasst. Seine Sprache ist chirurgisch genau: Roehler observiert analytisch, nimmt die leisesten Schwingungen wahr und schreibt sie den Figuren direkt ins Gesicht. Er hat mit „Herkunft” eine cineastische Poetik erschaffen.

Anm.d.Red.: „Herkuft” von Oskar Roehler ist bei Ullstein erschienen. Foto: Mike Jennings, CC BY.

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