Ohrentropfen

Habe ich ueberhaupt einmal bewusst vor einem Aquarium gestanden? Ich habe diffuse Erinnerungen an fremde Wohnungen, an Bars und Fernsehbilder, Zeitungsbilder der Bueros von Bundeskanzlern und weltbeherrschungssuechtigen Konzernfuehrern. Das Aquarium stand fuer mich damals wohl ganz offensichtlich fuer eine andere, unerreichbare, erschreckend eindeutig geordnete und ganz klar machtbesessene, machtbesetzende, reiche Welt.

Familien mit Firmensitz, Swimmingpool und Sauna, mit eigenen Bediensteten und Stehempfaengen, zu denen passte dann wohl auch ein Aquarium. In meinem Imaginarium jener Zeit. Es ist Statussymbol und genuiner Bestandteil buergerlicher Repraesentanz. Die Welt im eigenen Wohnzimmer: Globus – Aquarium – 5.1-Surround-Sound-Heimkino? Ueber die Zeit ist das symbolische Allmachtsinstrument deutlich beweglicher und welthaltiger geworden.

Ich tippe meine Antworten auf die Fragen der Berliner Gazette in dieses Textdokument — und waehrenddessen sitze ich und sitzen Sie vermutlich auch in einer Art Aquarium. Das Aquarium – genauer: das Stroemungsbecken voller Gase, Liquide und Partikelstroeme — ist eine meiner bevorzugten klang- und sinnesanthropologischen Metaphern. Es macht deutlich, wie Menschen sich unaufhoerlich inmitten hoechst dichter Substanzen und Schwaden befinden, in jedem Moment. Ein Raum der Leere, eine tabula rasa, ein Nullpunkt – sie alle existieren im taeglichen Leben nicht. Sie haben fuer Menschen keine physische Realitaet. Es gibt sie aber sehr wohl als ein kulturelles Imaginarium, das wir je nach Bedarf, Lebenssituation und Neigung begeistert aufsuchen. Ich und Sie, wir suchen fasziniert – als Kollektiv aber auch individuell – nach diesen Momenten der Leere, der vermeintlichen Freiheit, der Ungebundenheit und materiellen Uneingeschraenktheit.

Gerade weil diese Momente tatsaechlich unmoeglich sind. Wir wissen das. Um psychisch aber nicht zu ersticken an einer Art klaustrophobischer Paranoia, eingeklemmt in endlose Anforderungen, Intentionen und Anrufungen unserer Gegenwart, imaginiere ich mich handelnd in solche Momente der Ungebundenheit hinein. Ein gedanklicher Befreiungsschlag. Sinnesanthropologisch grundlegend ist hierbei die Erkenntnis, dass Sie sich nie ohne materielle Stofflichkeiten bewegen koennen. Wir sind eingeschlagen in Stoffe. Wir sind durchdrungen von Gasen. Wir werden durchzittert von Vibrationen, Erschuetterungen, Klaengen. Diese vermeintlich ozeanische Alldurchdringung wird im Aquarium ploetzlich veraeusserlicht und dadurch sicht- und beobachtbar.

Die Gegenwart und ihre vorherrschende Kalifornische Ideologie der vermeintlich freien Informationsfluesse, des ungehinderten Austausches, sie bevorzugt die Bildlichkeiten des Fliessens, des Rauschens, des Stroemens. Inwieweit diese Bilder tatsaechlich der erlebten Wirklichkeit entsprechen oder nicht vielmehr eine begehrte Wunschdeutung, ein bezeichnendes, obsessives Phantasma dieser Wirklichkeit sind – die ja eher unstroemend voranhuepft, in einzelnen Modulen abgeteilt stagnierend und containerartig begrenzt -, das habe ich soeben angedeutet. Dennoch lohnte es sich, das eigene Erleben und Handeln nach Begriffen des Wassers und seiner Bewegungsformen zu beschreiben. Es lohnte sich, da es dazu fuehren koennte, dem eigenen Handeln Wege in eine beweglichere, resonanzreichere und wandlungsfaehigere Bewegungsform zu bahnen. Ueber die von Grund auf erstarrungs- und beharrungssuechtigen Artefakte und Dispositive unsere Kultur hinaus.

Ich erinnere mich an die vielen Lieder, die Musikstuecke, die Stimmen und instrumental gespielten Melodien – Solo oder im Ensemble -, die mich angeruehrt haben bislang, in meinem Leben. So sehr ich mich bemueht habe und gegenwaertig bemuehe, meine Beruehrung gedanklich, begrifflich und kategorial zu erfassen und in Sprache zu bringen: so sehr bin ich zunaechst doch erst einmal beruehrt. Etwas fasst mich an, das tatsaechlich mich in Bewegung bringt, in Vibration, in Resonanz, in Schwingung. Eine physische Wirkung zunaechst, die allerdings gedanklich, empfindungsbezogen und psychisch zugleich sich ereignet.

Klaenge koennen den mittleren Sinn des Hoerens genauso stark durchdringen wie dies die Nahesinne Tasten, Riechen, Schmecken von ihren Sinnesaeusserungen her ganz selbstverstaendlich koennen. Waehrend diese Sinne aber tatsaechlich unmittelbar physisch, in Metabolismus oder Kreislauf erfuellt werden, geschieht dies im Hoeren auf anderer Weise: Wir selbst werden in Bewegung versetzt – wenn auch oft nur minimal, oft nur an einem einzelnen, winzigen Koerperteilchen im Ohr. Ich kann mich dagegen nicht wehren – wie ich mich etwa gewohnheitsmaessig vor unangenehmen Beruehrungen, Geruechen, Geschmaeckern oder schaedigenden Nahrungsmitteln schuetze. Wir hoeren, ich hoere mit dem Koerper. Mein Koerper ist ein Hoerorgan.

Mein Koerper, jetzt, ein Freitagmorgen – nein, jetzt, ein Samstagmorgen, ich sitze kurz am Rechner, um an diesem Text weiter zu schreiben. Die Sonne scheint durch die Oberlichter mir auf die Unterarme. Mein Kopf: voll von der Musik von Art Brut, deren neuestes Album laeuft, DC comics and chocolate milk shake. Ich schreibe an diesem Text, hoere die Trambahn um die Kurve biegen vor unserem Haus, die Stadtbahn in den Bahnhof Warschauer Strasse einfahren, der Nachbar, der ueber uns auf seinem Klavier uebt. Ich rieche das Holz meines Schreibtischs, den warmen Kunststoff der Kabel und des Laptopgehaeuses, auf dem ich schreibe. Ich spuere meine Sehnen, die Restkuehle des Morgenspaziergangs, ich spuere den Kragen meines Hemdes an meinem Hals, die Knopfleiste an meinem Bauch, die Hose an meinem Oberschenkel, die Innensohle meiner Schuhe, die Kante meines Schreibtischstuhls.

In dieser Situation schreibe ich – nun, am fruehen Sonntagmorgen, ich sitze am Fruehstueckstisch, kurz vor einem Abflug – und in meinem Koerper vermengen und amalgamieren, trennen und loesen sich, erhitzen und erkalten diese Wirkungen all der Substanzen in mir und um mich herum. Nicht leicht, das als Gesamtheit von Sinnesstroemen zu erfassen.

Es gibt eine gewisse, technische gepraegte Tradition, feste Vokabularien und Kategoriensysteme zur Klassifikation der Klaenge und der Sinne aufzustellen. Entsprechend der Suche nach einer philosophischen Idealsprache soll hier eine Idealsprache der Klangbeschreibung gefunden werden. Die Erfordernisse des Berufslebens, der technischen Welt, auch des rechnenden Denkens der Computer und Netzwerke foerdern diese Tradition gegenwaertig. So wirksam und taeglich spuerbar diese klassifizierten Vokabularien aber unser Leben durchdringen: Sie sind aehnlich fruchtlos wie die Suche nach einer philosophischen Idealsprache. Sie verfehlen das wesentlich Individuelle einer Hoererfahrung. Darum werden sie unaufhoerlich weiterentwickelt, widerlegt, neuerfunden, begeistert neu gesucht und neu ausgerufen. Ich plaediere demgegenueber fuer eine laengerfristig wirkende, erweiterte und vertiefte Alltagssprache des Sprechens ueber Klang. Eine Sprache, die es gilt, durch Erfahrungen und Gewohnheiten eines anspruchsvollen Sprechens darueber zu schulen. Erzaehlen wir uns unsere Sonic Fictions, von denen etwa Kodwo Eshun spricht: Klang Erzaehlungen.

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