Neue Öko-Logik: “Alles ist eingebunden, nichts bleibt als nicht-verwertbarer Müll zurück.”

Das groß angelegte Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt „Licht Luft Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne“, jüngst in Berlin gestartet, untersucht die Geschichte der ökologischen Frage im 20. und frühen 21. Jahrhundert und bezieht diese auf gegenwärtige urbane Garten- und Landwirtschaftsbewegungen, auf Selbstversorgung, Recycling, Selbstbau und nachhaltige Stadtentwicklung. Der Kurator Florian Wüst geht der Frage nach, ob und wie aus der Moderne der 1920/30er Jahre eine Vision für Nachhaltigkeit abgeleitet werden kann. Ein Interview.

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Frei nach dem Motto “von der Zukunft in die Vergangenheit und wieder zurück”, adressiert unsere erste Frage die neuen Bildungsformen, die das Projekt “Licht Luft Scheiße” aufgreift. Deklarierter Ausgangspunkt ist hier die Frage: “Für welche Zukunft lernen wir?” Wir fragen zurück: Liegt dieser Frage bereits eine implizite Antwort zu Grunde? Etwa: eine andere Zukunft als die, die der Kapitalismus uns aufdrängt.

Die neuen Bildungsformen innerhalb unseres Projekts werden in der Nachbarschaftsakademie im Prinzessinnengarten Kreuzberg ausprobiert und praktiziert. Marco Clausen und Åsa Sonjasdotter haben das Programm an Veranstaltungen, Workshops und anderen partizipativen Formaten mit “Aus den Ruinen der Moderne wachsen” betitelt. Hierin ist durchaus eine “aufgedrängte” Zukunft angesprochen, die als ein Leben in den Ruinen der Moderne und damit des Kapitalismus verstanden wird, und zu der wir eine Alternative suchen: eine Zukunft, in der Menschen und Biosphäre nicht weiter ausgebeutet werden.

Dieses Anliegen erfordert einen sorgsamen relationalen Umgang miteinander und mit allem, was uns umgibt. Deshalb versucht die Nachbarschaftsakademie, was ja auch in ihrem Namen steckt, ein Lehren und Lernen zu entwickeln, das die soziale und die ökologische Frage zusammendenkt.

Inwiefern reflektiert die Frage nach der Zukunft auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Von welcher Vergangenheit können wir (für eine andere Zukunft) lernen?

Bei unseren Recherchen fanden wir immer wieder verblüffend, auf wieviele Theorien, Konzepte und Praxisbeispiele wir stießen, in denen im Prinzip alles bereits erkannt, gesagt, gemacht, gebaut erscheint. Und hier spreche ich lediglich von Ökopionier*innen der westlichen Welt. Gleichzeitig wurde uns gewahr, welcher Grad an Amnesie gegenüber all diesem Wissen bestand und weiterhin besteht, das in der Vergangenheit entweder kolonialisiert, verdrängt oder schlichtweg vergessen wurde, zurückgeblieben in der Vorwärtsbewegung des industriellen Fortschritts und Wachstums.

Eine Amnesie, die der Moderne zugrunde liegt: Auf das Alte hat das Neue zu folgen. Die große Frage bleibt, was wir heute anders machen können, um die immer dringlichere Transformation hin zu einem nachhaltigeren Leben und Wirtschaften voranzubringen und die vielfältigen Ansätze dazu eben nicht scheitern und verlorengehen zu lassen. Längst zeigen sich die gewaltigen Auswirkungen der Klimakatastrophe, das Terrestrische, so Bruno Latours Begriff, schlägt zurück. Wir stehen an einem Punkt, an dem die Frage nach einer anderen Zukunft immer mehr zu einer globalen Überlebensfrage wird. Vielleicht ist das die Voraussetzung gegen das ökologische Vergessen, so fatal das auch klingen mag.

Das Projekt “Licht Luft Scheiße” untersucht “Denkmodelle und Praktiken aus dem letzten Jahrhundert, die sich in unseren heutigen Vorstellungen von Nachhaltigkeit wiederfinden”. Wie können sie Referenz- und Ausgangspunkte bilden, um, wie ihr sagt, “die Idee eines anderen, alternativen Lebens in der globalisierten Welt neu zu betrachten und zu aktualisieren”? Wie kann eine solche Übersetzung des Vergangenen in die Gegenwart und Zukunft funktionieren, angesichts der Tatsache, dass die Formen des Planetarischen im Zuge des Klimawandels gänzlich neue Qualitäten haben? – etwa in puncto Interdependenz, Komplexität und Verwickeltheit. Waren Denkmodelle und Praktiken tatsächlich bereits in der Lage diesem Zustand gerecht zu werden?

Das Denken in biologischen Kreisläufen, die Einsicht, dass alles Lebendige miteinander zusammenhängt, z.B. im Monismus eines Ernst Haeckel, dessen Naturphilosophie die Einheit von Geist und Materie vertrat, oder auch in Leberecht Migges Beharren auf die von ihm keineswegs erfundene Praxis der Kompostierung menschlicher Fäkalien, der “Scheiße” im Titel unseres Projekts, besteht seit langem. Natürlich ließen sich vor 100 Jahren die Effekte dessen, wo wir uns heute technologisch befinden, nicht oder nur schwer antizipieren. Die Dimensionen haben sich verschoben, nicht aber der Gehalt der Erkenntnis, dass die Externalität von Natur ein Konstrukt ist, das – ich zitiere Timothy Morton – dazu dient, die menschliche Symbiose innerhalb der Biosphäre befremdlich erscheinen zu lassen.

“Licht Luft Scheiße” lässt mit der Ausstellung “Archäologien der Nachhaltigkeit” in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst eine Art archäologische Wunderkammer entstehen – inwiefern ist wird hier eine Archäologie der Zukunft greifbar, die nicht gänzlich musealisiert, sondern noch ungezähmt und formbar ist?

Das ist eine gute Frage. Ausstellungen, oder was auch immer in einem Galerieraum passiert – ein solcher ist ja die nGbK –, tragen in sich den Moment der Musealisierung: etwas wird in einen abstrakten Raum überführt und als Gegenstand ästhetischer Erfahrung zumindest ein Stück weit der Wirklichkeit “da draußen” enthoben. Aber genau hier liegt meines Erachtens die Möglichkeit, die Kraft eines anderen Blickwinkels, eines Perspektivwechsels, der Konstruktion von Zusammenhängen, die nicht offensichtlich sind.

Unser kuratorisches Konzept basiert darauf, die gesammelten Objekte als Fragmente zu begreifen und assoziativ zu arrangieren. Zugleich wollten wir die Darstellung möglichst roh belassen, die eingebauten Holzwände blieben ungestrichen, die vielen Reproduktionen historischer Bilder, Grafiken und Pläne sind ganz einfach mit kleinen Magneten angebracht. Die Papiere wellen sich, manches hängt einwenig schief. In dieser Geste mag sich eine Ungezämtheit vermitteln, wie ihr das so treffend anbringt: Fundstücke, wie aus dem Sand einer Ausgrabungsstätte geschürft. Was davon für wen wie zusammenpasst oder auch nicht, bleibt offen – und damit auch die potentielle Formbarkeit einer Zukunft, die nach Initiative auf persönlicher wie politischer Ebene verlangt.

Ihr habt zwei Jahre für dieses Projekt die Denkmodelle und Praktiken aus dem letzten Jahrhundert erforscht. Was war die größte Überraschung in dieser Forschungsphase? Gab es Funde, die alle Erwartungen übertroffen haben?

An dieser Stelle kann ich nur für mich und die Recherchebereiche sprechen, die ich betreut habe. Meine Ko-Kurator*innen des Ausstellungsteils in der nGbK, Sandra Bartoli und Silvan Linden, haben natürlich ihre je eigenen Überraschungen erlebt, zum Beispiel sicher bei der Begegnung mit den Nachfahren von Paul Robien. Für mich war die Sichtung des Nachlasses von Raoul H. Francé und Annie Francé-Harrar im Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz ein faszinierender Einblick darin, mit welchen wissenschaftlichen wie künstlerischen Mitteln die beiden ihre Erforschung der Bodenorganismen betrieben und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machten. Oder auch die Architektin Merete Mattern, auf deren Ökostadt-Entwürfe ich eher zufällig stieß und die nun mit vier Blättern und Fotografien sowie einem wunderbaren städtebaulichen Modell ihres Wettbewerbbeitrags für die Großsiedlungen Ratingen West von 1966 in der Ausstellung vertreten ist.

Ein Teil des Projekts “Licht Luft Scheiße” ist die “Pflanzenwerkstatt der Moderne”. Sie untersucht, “inwiefern die Pflanzenforschung durch die funktionalistischen, sozialreformerischen und utopistischen Strömungen der Moderne beeinflusst wurde und umgekehrt”. Welche Lektionen lassen sich daraus für die Gegenwart und Zukunft ableiten?

Der Anspruch, aus unserer „Pflanzenwerkstatt“ Lektionen für Gegenwart und Zukunft ableiten zu wollen, wäre etwas vermessen für eine kleine Ausstellungseinheit, die sich lediglich exemplarisch und explorativ auf die Suche nach Verbindungen begibt, die bisher wenig erforscht wurden.

Im Sinne einer Zirkulation von Ideen lassen sich im Zeitalter der Moderne, also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vielfältige Beeinflussungen und Wechselwirkungen beobachten, die zum Teil bis heute nachwirken: Durch die fachliche Ausdifferenzierung der Pflanzenwissenschaften konnten sich neue Perspektiven wie die Ökologie etablieren, die dann prägend auf Vorstellungen von Naturschutz wirkten. Fragen der Lebensreform nach einer vegetarischen Ernährung beschäftigten wiederum Botaniker, die nach wissenschaftlichen Lösungen suchten. Studien zur Morphologie und Anatomie der Pflanzen im Rahmen der kunstgewerblichen Ausbildung regten neue Visualisierungstechniken an und zugleich nutzen Botaniker innovative Darstellungsmittel wie morphologisch-anatomische Pflanzenmodelle für Lehre und Forschung. Der Begriff Pflanzenwerkstatt der Moderne ist bewusst gewählt, berücksichtigt er doch genau diesen Prozesscharakter sowie die Wirkung und Weiterentwicklung der zirkulierenden Ideen bis in unsere Zeit.

Was für eine Idee von Nachhaltigkeit kann „Licht Luft Scheiße“ vor diesem Hintergrund ästhetisch und diskursiv greifbar werden lassen, beziehungsweise zur Diskussion stellen? Provokant gesprochen: Ist Nachhaltigkeit, so wie es im 20. Jahrhundert quasi planwirtschaftlich angedacht worden war, überhaupt ein sinnvolles Konzept? Wäre angesichts der von Dir in Anlehnung an Timothy Morton angesprochenen Verwickeltheit und Prozesshaftigkeit des Mit-Seins nicht Nachhaltigkeit, sondern Durchwurschteln gefragt und entsprechend als soziale Kunstform zu kultivieren?

Durchwurschteln als soziale Kunstform ist ein verlockendes Bild, aber ich meine, dass genau das in den privilegierten Teilen der Welt bereits seit langem passiert und vor sich geht. Die Auswirkungen des gnadenlosen Extraktivismus erleiden die Anderen. Durchwurschteln perpetuiert ein zutiefst ungerechtes und zerstörerisches System. Mit „Licht Luft Scheiße“ postulieren wir Nachhaltigkeit als ein Konzept, das den vemeintlichen Gegensatz von Ökologie und Ökonomie auflöst. Alles ist eingebunden, nichts bleibt als nicht-verwertbarer Müll zurück. Wie weit wir hiervon in unserem durchmodernisierten und von Marktmechanismen diktierten Alltag entfernt sind, brauche ich nicht zu erwähnen. Aber was ja auch Fridays for Future klarmacht: Es ist noch nicht zu spät, etwas zu tun.

Anm.d.Red.: Die vorletzte Antwort stammt von Kathrin Grotz, die zusammen mit Patricia Rahemipour (beide Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin) und Katja Kaiser die “Pflanzenwerkstatt der Moderne” als ein Teil der „Über Natur“-Ausstellung im Botanischen Museum kuratiert hat. Das Bild (©Gitte Villesen: There is an affinity, 2019 ) stammt aus dem Projekt Licht Luft Scheiße. Perspektiven auf Ökologie und Moderne, das noch bis zum 27.10.2019 in Berlin zu sehen ist. Alle Termine in der Übersicht hier. Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion.

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