Proteste in Istanbul: Welche Ziele verfolgt eigentlich die #Occupygezi-Bewegung?

In den Massenmedien kursieren vor allem Bilder von den brutalen Seiten des Protests in Istanbul. So entsteht ein verzerrter Eindruck – nicht zuletzt von der Motivation der Demonstranten. Zeynep Tufekci, ihres Zeichens Soziologin an der Princeton University, hat in den letzten Tagen vor der Räumung des Parks viel Zeit mit informellen Gesprächen verbracht. Jetzt zeichnet sie das Portrait einer weitgehend auf Gewaltlosigkeit verpflichteten Bewegung rund um den Gezi Park.

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Alles begann mit der Bekanntgabe der Regierung, dass der Gezi Park abgerissen und an seiner Stelle eine Nachbildung der osmanischen Armeebaracken mit einem integrierten Einkaufszentrum gebaut werde. Der Park ist eine der wenigen verbliebenen Grünflächen im Taksimviertel. Die kleine Gruppe von anfänglichen Demonstranten wurde um 5 Uhr morgens von der Polizei angegriffen, ihre Zelt abgebrannt und Bäume entwurzelt. Die Nachricht darüber verbreitete sich schnell in den Sozialen Medien, besonders über Twitter und Facebook, sowie über SMS und Telefonate. Daraufhin begannen die Menschen sich im Park zu versammeln.

Auf Gewaltlosigkeit verpflichtet

Nach massiven Auseinandersetzungen, die etwa einen Tag andauerten, zog sich die Polizei zurück. Die meiste Zeit danach war der Park eine Art Festivalort: laut und ausgelassen, mittendrin immer wieder Unterbrechungen durch Tränengas. Am 11. Juni kam die Polizei zurück. Während dieser erneuten Auseinandersetzungen gab es tatsächlich ein paar Leute, die Molotov-Cocktails auf die Polizei warfen – und die Fernsehstationen haben sich genau auf diese Bilder konzentriert – aus meinen Beobachtungen kann ich aber sagen, dass den Protestierenden im Park solch ein Verhalten fremd ist. Während gewalttätiger Ausschreitungen haben sie eine Menschenkette um den Park gebildet und über Megaphone zum Ende der Gewalt aufgerufen.

Ich habe fast jedes Stück des Parks abgelaufen und mit vielen unterschiedlichen Menschen gesprochen. Alle haben eine starke Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit geäußert. Selbst die kleinste Streitigkeit wird im Park sofort aufgelöst. Ich habe das selbst miterlebt, als ein etwa 14-Jähriger einen Streit mit einem älteren Mann anfangen wollte, weil dieser seine Freundin falsch angeguckt habe. Mehrere Leute haben sich gleichzeitig eingeschaltet und ihn wieder beruhigt. „Hier wird nicht gekämpft!“ – ist im Park zu hören sobald Spannungen auftreten. Diesbezüglich ist der Park kein Raum für „Leben und leben lassen“, auch wenn er es in vielen anderen Bereichen so ist.

Es gibt auch eine Kampagne im Park, die mit vielen Schildern auffordert, keinen Alkohol im Park zu konsumieren. Das ist ironisch, da es viele Menschen stört, dass die Regierung versucht, die Lebensart und Themen wie Alkoholkonsum über Gesetze zu regulieren. Den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, ist Sauberkeit im Park, gutes Benehmen, Kooperation und Gewaltfreiheit sehr wichtig. Überall weisen Schilder darauf hin, dass im Park nichts verkauft werden darf. Essen, Atemmasken, medizinische Versorgung und andere Dinge wie Kleidung werden kostenlos verteilt. Um den Park herum gibt es Straßenstände, an denen Helme, Atemmasken und türkische Sesambagels verkauft werden.

Ich habe über einen Zeitraum von mehreren Tagen mit Demonstranten gesprochen. Obwohl es eine Vielzahl an Beschwerden gibt, sind die Menschen vor allem aus drei Gründen in den Park gekommen:

1. Viele der Beschwerden drehen sich um Erdoğans zunehmend autoritären Regierungsstil. „Er denkt, wir zählen nicht.“ „Er hört nie auf jemanden.“ „Warum versuchen sie Gesetze über meinen Lebensstil durchzusetzen? Was geht ihn das an?“ „Warum können wir nicht einmal einen kleinen Park haben?“

Erdoğans Partei AKP hat zum dritten Mal die Wahlen gewonnen und ist in vielen Bereichen der Gesellschaft beliebt. Auch einige, die jetzt im Park demonstrieren, haben ihn gewählt. Seine Partei hat durch ein Programm von Reformen und Entwicklungen viele gute Dinge im Land erreicht. Jeder Vergleich mit Mubarak und einem Ägypten von vor zwei Jahren ist deshalb vollkommen fehl am Platz. Das Land ist gespalten, aber es wird nicht von einem nicht-gewählten Autokraten regiert. Dank eines Wahlsystems, dass kleine Parteien bestraft – es gibt eine 10%-Hürde für den Einzug ins Parlament – und einer spektakulär inkompetenten Opposition, hat die AKP fast zwei Drittel der Sitze im Parlament und etwa die Hälfte der Stimmen. Dadurch können sie ziemlich jedes neue Gesetz durchbringen.

Einige Demonstranten finden, Erdoğan regiere „als hätte er 90%“. So hat er kürzlich verkündet, dass eine dritte Brücke über die Bosporus-Enge gebaut werde. Viele Menschen fühlten sich außen vor gelassen, denn der Plan wurde nicht mit der Öffentlichkeit diskutiert und Bedenken über den Einfluss auf die Umwelt ignoriert. Kurz darauf verkündete Erdoğan, die Brücke würde den Namen Yavuz Sultan Selim tragen, nach einem Sultan des Osmanischen Reich, der bekannt geworden ist durch ein Massaker an den türkischen Aleviten.

Verständlicherweise waren die Aleviten, die einen wichtigen Teil der türkischen Bevölkerung ausmachen, zutiefst gekränkt. „Gab es niemanden sonst in der türkischen Geschichte, dem zu Ehren man diese Brücke taufen kann?“ „Hat er keinen einzigen alevitischen Freund? Warum können Sie nicht mit den Menschen sprechen, bevor sie solche Entscheidungen verkünden?“.

Erdoğans abschätzige Sprache über die Protestierenden lässt die Situation weiter eskalieren. Er bezeichnet sie als Gesindel. Die Demonstranten nehmen es mit Humor und nennen sich selbst die Gesindelpartei.

2. Eine sehr häufige und weit verbreitete Beschwerde ist die über Zensur in den traditionellen Medien. Pinguine sind inzwischen ein Spottsymbol für die Proteste geworden, weil CNN Türk während der anfänglichen Auseinandersetzungen Pinguin-Dokumentationen zeigte, statt wie CNN International einen Livefeed von den Ausschreitungen zu schalten. Auf dem Taksim-Platz habe ich mit Journalisten gesprochen, die an den Protesten erst nach Ende ihrer Schicht teilnahmen.

Einige von ihnen haben mir unter Tränen berichtet, dass sie nicht frei sind, ihre Geschichten werden nicht veröffentlicht. Einer beschrieb, dass er aufgefordert wurde, eine Kolumne umzuschreiben, nachdem er darin scharfe Kritik geübt hatte an Erdoğans Standpunkt während des Arabischen Frühlings im Vergleich zu seiner jetzigen Position gegenüber den Protesten im eigenen Land.

Ich habe gesehen, wie der Gouverneur von Istanbul vor einigen Tagen auf CNN Türk „interviewt“ wurde. Am Morgen hatte er zugesagt, dass der Park nicht angegriffen werden würde. Den ganzen Tag lang gab es im Park Kämpfe, die Polizei setzte immer wieder Tränengas ein. Statt harte Fragen zu stellen, hat der Interviewer nur Phrasen gedroschen, die alles, nur keine Fragen waren.

Das „Interview“ endete damit, dass der Reporter zum Gouverneur meinte, sie sollten vielleicht abschließend noch einen Appell an die Eltern richten. Der Gouverneur war sofort einverstanden und sagte: „Eltern sollten ihre Kinder nicht mehr in den Park lassen. Es ist dort nicht sicher.“ Erschreckend, was hierzulande als Interview bezeichnet wird.

Ein paar Sender, die die Proteste übertragen hatten, bekamen gerade von der türkischen RTÜK, der Regulierungsbehörde heftige Strafgebühren auferlegt wegen „Anstiftens der Menschen zur Gewalt.“ Die Journalisten, mit denen ich gesprochen habe, sagten, es sei aber nicht nur Einschüchterung durch die Regierung – viele Verlage sind Teil großer Konglomerate, die ihre guten Beziehungen zur Regierung aus wirtschaftlichen Gründen aufrecht erhalten wollen.

Es ist deshalb wenig überraschend, dass Soziale Medien, und hier besonders Twitter und Facebook die Schlüsselkanäle für die Proteste und Informationen geworden sind. Die Türkei hat auch kein Äquivalent zu „Al Jazeera“, das im Arabischen Frühling eine große Rolle gespielt hat. Die meisten Menschen hörten über Twitter und Facebook von den Anfängen der Demonstration im Park und dem Polizeiangriff.

Sie konnten davon nicht in den Massenmedien hören, da diese nicht über aktuelle Geschehnisse berichten. Auch in der Politik sind Soziale Medien verbreitet. Für den Premierminister ist Twitter zwar ein Fluch für die Gesellschaft, aber alle seine Top-Leute sind sehr aktiv in den Sozialen Medien. Die AKP ist eine technologisch fortschrittliche Partei mit vielen fähigen Leuten.

Die Gerüchte über eine Abschaltung des Internets sind falsch. Während der Proteste habe ich durchgehend Tweets mit Bildern vom Park gepostet. Einige Telefonanbieter haben sogar weitere Repeater-Autos in die Gegend gebracht. Ich habe nur einmal den Zugang zum Internet verloren, als während der heftigsten Kämpfe eines dieser Autos gebrannt hat.

3. Auch das Verhalten der Polizei ist ein häufig genanntes Ärgernis unter den Protestierenden. Das ist nicht der erste Protest, bei dem es enorme Tränengas-Attacken gab. Es ist inzwischen normales Polizeiverhalten bei Demonstrationen geworden. Meiner Meinung nach ist es falsch, das Tränengas als “nicht-tödlich” zu bezeichnen. Zudem ist es inzwischen ein Mittel der Regierung, im die Versammlungsfreiheit generell zu unterbinden.

Die Aufnahmen meiner Interviews wurden regelmäßig durch Tränengas-Pausen unterbrochen: Ein Knall, dann Husten. Ich habe gesehen, wie Menschen Krämpfe bekommen haben und sich übergeben mussten. Ich habe miterlebt, wie Tränengas in den Park geworfen wurde, als er sehr voll war, wodurch eine gefährliche Situation entstand, in der die Menschen panisch versucht haben zu fliehen. Die erfahrenen Demonstranten haben die Lage aber in den Griff bekommen, zur Ruhe aufgerufen, Ausgänge geöffnet und anderen geholfen.

Internationale Regulierung von Tränengas

Es wurden auch viele Demonstranten mit Tränengas-Kanistern beworfen. In Ägypten wurden dadurch viele Menschen getötet. Ich habe einen jungen Mann gesehen, der blutend auf einer Liege zum Krankenhaustrakt des Parks gebracht wurde. Ein anderer Mann berichtete weinend, dass die Polizei die Kanister gezielt auf die Köpfe von Demonstranten werfe. „Sind sie denn keine Menschen? Sind wir denn keine Menschen?“

Tränengas-Einsätze sollte international reguliert werden. Es sollte nur in wirklich gefährlichen Situationen von den Polizei benutzt werden dürfen. In der jetzigen Situation hingegen wird schnell auf Tränengas zurückgegriffen. Eine der wichtigsten Forderungen der Demonstranten ist deshalb Versammlungsfreiheit sowie Freiheit vor dieser Art von Polizeiangriffen.

Ich gehe jetzt zurück in den geschundenen, müden Gezi-Park und werde meine Interviews solange wie möglich weiterführen. Es wäre schön, wenn ich keinen Helm dafür bräuchte, aus Angst vor den Tränengaskanistern. Der Gouverneur verspricht weiterhin, dass der Park nicht angegriffen wird. Lasst uns hoffen, dass es mit dem Tränengas bald ein Ende hat.

Anm.d.Red.: Ein weiterer Augenzeugenbericht aus Istanbul von Tayfun Guttstadt findet sich hier. Der Text oben wurde von Anne-Christin Mook aus dem Englischen übersetzt. Foto von Burak Su, Creative Commons Lizenz.

3 Kommentare zu “Proteste in Istanbul: Welche Ziele verfolgt eigentlich die #Occupygezi-Bewegung?

  1. Das ist ein schöner Beitrag. Ich kenne mich im Journalismus kaum aus. Erst jetzt, im Zusammenhang mit den Protesten in der Türkei, ist mir aufgefallen, welch umfassenden Eindruck die Lektüre von individuellen Wahrnehmungen bringen kann. Dieser Text stellt eingangs besonders heraus, dass er eine solche ist, sodass ich mich darauf einstellen konnte, das ist gut.
    Tschüß

  2. worüber regen die sich eigentlich auf? dem land geht’s blendend, wirtschaft geht bergauf!

  3. La turchia si sta occidentalizzando il centro commerciale in un parco è il segno evidente di un adesione politica alle potenze economiche mondiali…le proteste sono una presa di coscenza tutti in piedi non solo un uomo…

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