Es war einmal in Leipzig… Nudisten und Zombies beim Gottesdienst

Orte in Delaware und in Ohio tragen den Namen Leipsic. In North Dakota liegt zudem das im Jahre 1901 von Russlanddeutschen gegründete New Leipzig. Aber warum ist das interessant? Der Video-Regisseur, Schriftsteller und Berliner Gazette-Autor Joerg Offer hat neulich etwas Unerhörtes in Leipzig erlebt und Sie, werte Leserin, werter Leser, werden sich nach der Lektüre seines Erfahrungsberichts fragen: Hat sich das wirklich in Deutschland zugetragen? Oder vielleicht doch eher in einem Leipzig aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten?

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Als ich vor kurzem völlig ahnungslos Leipzig bereiste, ahnte ich noch nicht, in welch gefährlichen Strudel aus schamlosem Exhibitionismus und menschenverachtender Tristesse ich dort geraten sollte. Eigentlich war ich nur zum Finalisieren eines Drehbuches zu einem Freund gefahren. Vor Ort jedoch geriet meine brave Welt völlig aus den Fugen.

Ganz in mein Tagwerk am Rechner versunken, starrte ich von der Wohnung des Freundes regelmäßig hinüber auf die Fassade eines modernen Mehrfamilienhauses. Erst nach einiger Zeit bemerkte ich, dass die mir zugewandten, bis zum Boden reichenden Fenster, allesamt ohne Vorhänge und Gardinen einen vollkommen offenen Einblick gewährten.

Fenster zum Hof

Das erinnerte mich an Holland. Dort ist es seit langem Tradition, sein Leben mit jedem Betrachter von außen zu teilen. Wurzelnd in historischem Calvinismus, der wohl strikt dazu anhielt, jedermann zu beweisen, das im Inneren des Hauses nichts Unrechtes, Unmoralisches oder Gottloses vonstatten ging. Diesem Brauch schienen die Bewohner des vielleicht 30 Schritte entfernten Gebäudes seltsam verpflichtet.

Als ich an einer heiklen Textstelle im Drehbuch werkelte, geschah es nun, dass ich in meinem Augenwinkel eine nackte, brünette junge Frau telefonieren sah. Nun mache ich mir aus Sinnestäuschungen im Allgemeinen nicht viel. Daran gewöhnt, das mein verschrobenes Gehirn unvollständige Informationen mit leichter Hand sehr individuell interpretiert, ignorierte ich das Bild.

Zu meinem großen Schrecken erblickte ich geraume Zeit später immer noch dieselbe Frau. Sie starrte direkt zu mir herüber, gestikulierte wild und telefonierte – einzig mit einem schwarzen Slip bekleidet.

Unterwäsche für die Außenwelt

Triumphierend ob dieses voyeuristischen Coups, rief ich meinen Gastgeber herbei, der das Ereignis nur mit einem Achselzucken quittierte. Das geschähe andauernd, er kenne die Frau fast gar nicht angezogen. Sie sei aber nicht die einzige Exhibitionistin. Niemand auf der anderen Seite nähme Notiz von den Blicken der Außenwelt. Mein Interesse war entflammt.

Im Laufe meines Aufenthalts registrierte ich regelmäßig nackte oder halbnackte Menschen. Das reichte von der aparten Tochter, über die dauernackte Brünette, bis zur gesetzten Hausfrau und Mutter. Oder auch diesem Mann, der häufig nur in Unterhose am Computer saß.

Ein Blick auf die Schilder am Hauseingang ergab, dass 80 Prozent der Bewohner promoviert hatten. Der Rest musste sich mit Doppelnamen, Architekten- oder Ingenieurstiteln zufrieden geben.

Also ein Haus voller Nacktakademiker, ein Haufen perverser Calvinisten, die ihren Glauben sehr obskur auslegten. Eine obszöne Irreführung protestantischen Glaubens! Noch ganz benommen von dieser Reizflut, machte ich mich mit meinem Gastgeber auf den Weg, ein paar Fotos für das Deckblatt meines Drehbuches zu schießen.

Familienhölle – Fehlanzeige

Der Plan war, einige erleuchtete Fenster und Türen von Einfamilienhäusern früh Abends zu fotografieren. Denn mein Buch spielte sich in diesen Familienhöllen ab. So irrten wir durch die Stadt und wurden doch nirgends fündig.

Niemand in Leipzig schien in einem Einfamilienhaus wohnen zu wollen. Ganz klar: Hier würde mein Film floppen. Man würde mit dem Sujet nichts anzufangen wissen. “Einfamilienhäuser sind bestimmt nur amerikanische Science-Fiction”, sagen sich die Leipziger vermutlich. Derart belustigt trieb es uns aus der Stadt heraus, in Dörfer rings um Leipzig, deren Ortsnamen alle mit seltsam verqueren ‘-tzsch’ und ‘-witz’ Endungen zu glänzen wissen.

Dort existierten sie auch, die Einfamilienhäuser, doch wohin wir auch kamen, nirgends brannte Licht. Alle der Straße zugewandten Fenster waren vollkommen abgedunkelt und mit schweren Vorhängen zugezogen. Aber die Orte waren bewohnt! Es war erst 19 Uhr, kein Leben weit und breit.

Es war, als verstecke man sich vor uns, als eile uns der Ruf voraus, im Namen der Inquisition mordend und brandschatzend durch die Lande zu ziehen. Vor meinem geistigen Auge sah ich Familien zitternd auf dem Boden ihrer Wohnzimmer liegen, ihren Kindern die Münder zuhaltend, bis der Schein unserer unglückseligen Scheinwerfer ihr Haus kurz erleuchtet hatte und rasch von dannen zog.

Ich muss hier raus…

Man konnte den Eindruck gewinnen, die Umgebung sei als Neutronenbombentestgebiet benutzt worden – die Kette von entsetzlich entvölkerten Geisterstädten wollte nicht abreissen. Erst in Leipzig zurückgekehrt, gelang es uns, einige Bilder von spärlich erleuchteten Objekten zu ergattern. Während ich die magere Ausbeute am Laptop sortierte und gelegentlich das Haus der calvinistischen Nacktakademiker taxierte, erinnerte ich mich schon einmal solch menschenfeindliches Gebiet durchfahren zu haben. Und zwar im protestantischen Nordhessen.

Dort lebten Menschen auch in merkwürdig sauberen, tristen und abweisenden Siedlungen, in denen es verpönt schien, Licht und Lebensfreude nach außen dringen zu lassen. Steinerne, protestantische Verzichts-Ethik. Es war also nicht das Problem einer post-sozialistischen Strukturschwäche.

… und lande im Fegefeuer

Während meine Gedanken von Sachsen nach Hessen flogen und imaginäre Demarkationslinien des Dreißigjährigen Kriegs rekapitulierten, probierte die minderjährige Tochter eines Akademikers gegenüber, ohne große Not, minutenlang drei verschieden farbige Büstenhalter an. Ich würde im Fegefeuer enden, soviel war mir in diesem Moment klar, aber ich würde sie sicher alle wiedersehen, die Nackten… und die lebenden Vorstadt-Toten!

23 Kommentare zu “Es war einmal in Leipzig… Nudisten und Zombies beim Gottesdienst

  1. Ein toller Reise- ähm Drehbericht! Das nächste Mal möchte ich beim Finalisieren eines Drehbuchs auch dabei sein : )

  2. die freie Körperkultur hört sich auf den ersten Blick nach einem DDR-Backlash an, apropos: wir können es noch immer nicht lassen. Aber wenn ich es recht bedenke, erinnert es fast noch mehr an den Westen, Kalifornien oder so, wo Hemmung und Exhibitionismus Hand in Hand gehen, ich muss an den Bo Derek Film “Die Traumfrau” denken, in dem der männliche Hauptdarsteller auch ständig am Teleskop hängt, um nackt wildernde Nachbarn auf ihren Terassen zu beobachten. Natürlich hat er kein Sexleben.

  3. Keine Angaben über die Ansehnlichkeit der präsentierten Körper? Überraschend!

  4. @ Sarah: das heisst der Autor hat all das evtl. gar nicht erlebt, hat gar nicht Feldforschung betrieben, stattdessen einen fiktionalen Text verfasst auf der Basis von Marktforschung? Ich bitte um Aufklärung.

  5. Leider trug sich alles genau so zu…vor Zeugen! Bei der inneren Kontextuierung ist natürlich der Einfluß meiner verschrobenen Synapsen zu erkennen. Die Körper der von mir erblickten Menschen waren zum Teil sogar recht ansehnlich, was ihren Auftritt noch wirkungsvoller machte. Ausserdem schienen mir die Nudisten eher klassische Westdeutsche zu sein, auf der Suche nach ihrem sächsischen Klondyke!

  6. ich bin ja auch ossi (manche sagen auch wossi, weil zu westzeiten sozialisiert) und kann mit fkk recht wenig anfangen. dass die leute in leipzig sich nackisch vor ihre fenster stellen, könnte ein fortleben der fk-kultur im semi-privaten räumen sein. quasi die neoliberale variante…

  7. @ Magdalena: was ist daran neo-liberal? oder hat dieses Wort hier den ökonomischen Kontext verlassen?

  8. ich meine: wie kann eine neoliberale variante von fkk aussehen? öffentliches eigentum (der körper) wird privatisiert und dann zur schau gestellt… oder so ähnlich

  9. Typisch das die Nackten wieder mehr Interesse hervorrufen als die Vorstadt-Toten! Mir ist das Phänomen der verschlossenen Orte sehr bekannt. Habe es aber vorher noch nie bewusst mit Protestantismus verknüpft.

  10. Bin ja schon froh, wenn Texte doch umfassend gelesen und rezipiert werden, mein eigener männlicher Bekanntenkreis scheint sich schnell in irgendwelchen Anfangszeilen (“Geil…nackte Weiber, Voyeurismus! Aber ist das nicht schrecklich pubertär?”) zu verlieren, schon komisch das gewissen Schlüsselbegriffe, derart reflexive Geisteseinschränkungen hervorrufen. Sollte es demnächst mit Holocaust Vokabular garnieren…mal sehen…

  11. Unser Herr Offer gerät ja mitunter in die seltsamsten Situationen. Oder ist es sein seltsamer Blick, der den gnadenlosen Vollzug der Alltäglichkeit erkennt, die trügerischen Fassaden des mittelmäßigen Vorsichhinlebens durchschaut? Solcherlei Blicke sind wichtig, da sie helfen, die allseits evidenten Lücken des allgemeinen Verständnisses der Wirklichkeit auf erfrischende Weise zu schließen.

  12. wenn seine texte auch arg individuell sind, aber ich lese ihn immer wieder gerne, er kann halt wirklich gut schreiben, das muß man ihm lassen!

  13. Du redest, redest und redest… Nimm mich endlich mal mit! Ich will auch in Leipzig was erleben!

  14. Lieber Peter! Noch hete wurde mir aufgrund des Textes zugetragen, das auch in Düsseldorf ausgiebiges Home FKK nicht unüblich sein, also ist eine Reise nach Leipzig gar nicht von Nöten! Desweiteren schilderte man mir den Fall eines evangelischen Pfarrers, der dort jeden abend vollkommen nackt, bei offenem Fenster, seine Zähne putzt! Scheint also tatsächlich ein protestantisches Phänomen zu sein. Im übrigen hätte ein katholischer Bischof, wegen Trunkenheit am Steuer niemals büßen müssen. Sei es auch nur schlicht und ergreifend der Fahrbereitschaft des Bistums und dem entsprechend gestellten Chauffeur geschuldet.

  15. Hehe…eher eine Runde protestantischen Alkohols zu später Stunde…aber danke für den Hinweis…ich werde nur noch nüchtern kommentieren!

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