14 Thesen zur ‘Corona-Krise’: Warum Demokratie und Denken in der Pandemie keine Pause haben

Nachfragen, Reflektieren und Denken müssen in Zeiten der Pandemie nicht pausieren. Im Gegenteil, gerade jetzt sind kritische Modelle gefragt, die sich sowohl mit dem “Davor” und dem “Danach” beschäftigen. Nur so können wir die Krise besser verstehen und als Chance für einen Neuanfang begreifen. Der Soziologe und Berliner Gazette-Autor Jürgen Link stellt die Normalismustheorie als ein solches Modell vor und liefert – darauf basierend – 14 Thesen.

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1. Wir brauchen belastbare Theorien

In der jetzigen Situation der Notstände braucht es belastbare Theorien mit Analyseinstrumenten eben über Notstands- bzw. Ausnahmeregime. Dazu gehört die seit den 1980er Jahren entwickelte Normalismustheorie. Denn: Ohne ein belastbares, aktuell operatives Konzept von Antagonismus kein belastbares Konzept von Notstand – und ohne ein Konzept von Normalismus kein aktuell operatives Konzept von Antagonismus. Diese Konzepte sind in der Publikation Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus ausführlich systematisch und historisch entwickelt.

2. Anstatt von Kontrollverlust von Denormalisierung sprechen

COVID 19 ist ein kontingentes Ereignis, das nicht simulierbar war – weder für die Hegemonie noch für die Dissidenz. Dieses kontingente Ereignis hat eine Kaskade von Denormalisierungen und darauf antwortenden Notständen ausgelöst, die allerdings simulierbar waren und in der oben erwähnten Publikation einigermaßen genau simuliert wurden. Der hegemoniale mediopolitische Begriff für Denormalisierung (Verlust der Normalität) ist „Kontrollverlust“ (losing control), was wir aus der so genannten „Flüchtlingskrise“ kennen. Der Begriff der Denormalisierung ist allerdings sehr viel operativer: Er ist zyklologisch gefasst, bezieht sich also auf jeweilige Reproduktionszyklen (die Luhmanns Teilsystemen entsprechen: Es kommt aber auf die zyklische Reproduktion in jedem Teilsystem an: im ökonomisch-kapitalistischen Teilsystem bekanntlich auf die ununterbrochene Reproduktion von monetärem Wachstum).

3. Entscheidungseliten wollen die Strategie aus der Finanzkrise neu auflegen

Es ist immer ein Zeichen für die Validität einer Theorie, wenn der mediopolitische Interdiskurs entsprechende diskursive Komplexe ‚naiv‘ gehäuft verwendet. Das gilt auch jetzt aktuell für den Komplex „Normalität“ und Notstand. Vor allem geht es um den Zeitpunkt der „Rückkehr zur Normalität“ und die Frage einer „neuen Normalität“. Nachdem mit der EU und vor allem Deutschland, dem UK und den USA alle G7-Länder in den Virus-Krisenmodus geschaltet haben, zeichnet sich die fundamentale Strategie ihrer Entscheidungseliten (einschließlich der Zentralbanken) deutlich ab: Sie zielt auf eine Wiederholung der Strategie aus der Krise von 2007ff. (Kurzbegriff „Finanzkrise“).

Weil die damaligen Taktiken der Normalisierung anscheinend erfolgreich gegen die Denormalisierung waren, heißt es nun: mehr vom gleichen. Also: Mehr Staatsschulden, um die Wirtschaft mit Liquidität zu „fluten“ – mehr staatliche Subventionen (vor allem für die Banken und Konzerne; ferner Kurzarbeitergeld, billige Kredite für Kleinunternehmer und Prekäre). Dabei Aufhebung aller Austeritätsmaßnahmen: Ade schwarze Null, Ade Defizitregeln des EU-Stabilitätspakts. Bruch sämtlicher Tabus: Pläne für (subventionierende) Verstaatlichungen und Corona-, also Eurobonds. In dem Buch “Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne” (NAP) ist die Denormalisierungskrise von 2007ff. genauer analysiert. Sie stellt sich als ein Prozess aus 10 Phasen dar (S. 264ff.). Insgesamt folgen auf Phasen der Denormalisierung solche der Normalisierung. Dabei spielt der jeweilige Zeitmodus eine wichtige Rolle: Die Phasen der Denormalisierung sind durch Zeitkontraktion (enge Zeitfenster, gerade auch für Entscheidungen), die der Normalisierung umgekehrt durch Zeitdehnung („gekaufte Zeit“, Wolfgang Streeck) gekennzeichnet.

4. Reglementierung im Notstand bedeutet Reglementierung der Daten

Ein wesentlicher Bestandteil der notständischen Reglementierung ist im Normalismus selbstverständlich die Reglementierung der Daten. Die notständischen Entscheidungseliten, zu denen außer den Regierungen die großen Datenmonopole des Silicon Valley gehören, monopolisieren die Daten. Gleichzeitig verstärken sie den Zugriff auf Daten und vergrößern deren Generierung (Big Data, siehe NAP, S. 282ff.). Typisch ist das „Tracking“ von Bewegungsprofilen mittels der Smartphones, das nun mit der Eindämmung des Virus begründet werden kann. Das zweite Element der notständischen Reglementierung ist die der Information, also der Medien. Ohne dass bereits zu formeller Zensur gegriffen werden müsste, funktionieren die hegemonialen Medien, ob parastaatlich oder privat, als willige Vollstrecker von Selbstzensur. Abweichende Daten, Informationen oder Einschätzungen, die die Massen „verwirren“ könnten, werden unterdrückt oder mindestens „aus den Schlagzeilen gehalten“. Statt dessen werden die Kanäle mit unsäglichen „psychologischen“ oder „philosophischen“ Albernheiten vollgestopft.

5. Der “Wille zum Wachsteim” bleibt

Wie 2007ff. erscheint die Kurve der Aktien als die Mutter aller denormalisierten Kurven, in der sich der „Wille zum Wachstum“ des Zyklenkombinats der Moderne konzentriert. Trump sagt es offen, alle anderen denken es geheim: Die Viruskurve hat die Aktienkurve und damit alle ökonomischen Kurven denormalisiert – der Krieg des Projekts der Moderne gegen den Virus wird gewonnen, wenn die Aktienkurve die Viruskurve schlägt. Alle Maßnahmen haben als erstes Ziel eine sogenannte V-Formation der Aktienkurve. Alles wie damals: In seiner berühmten Rede an der Wall Street vom 14.9.2009 (ein Jahr nach dem Lehman-Crash) brachte Obama Denormalisierung und Normalisierung auf den Punkt: „We are beginning to return to normalcy. But normalcy cannot lead to complacency. […] History cannot be allowed to repeat itself“. Der Kommentar dazu in NAP (S. 276) lautete: „Der Geschichte etwas verbieten zu wollen, dürfte niemals frei von Ironie (ob komischer oder tragischer) sein“. Trump, der sich in einem persönlichen Überbietungskrieg gegen Obama sieht, erklärte bereits am 23.3., dass zu Ostern (12.4.2020) alles „normal“ sein werde.

6. Wichtige Unterscheide zur Krise nach 2007

Zum einen ist die jetzige Krise also eine Wiederholung der Krise von 2007ff. Es gibt aber wichtige Unterschiede: Durch die enorme zusätzliche Zeitkontraktion sind mehrere Zyklen präkollaptiven Risiken ausgesetzt (basale Alltagszyklen wie das Gesundheitswesen, sodann viele basale ökonomische und kulturelle Zyklen). Das heißt nichts anderes als dass akut Ausbrüche von Antagonismen drohen. Diese Situation hat eine Kaskade von Notständen ausgelöst. Solche flächendeckenden Notstände gab es in der Krise von 2007ff. nicht. Man kann in der momentanen Krise beobachten, wie die Entscheidungseliten sehr schnell Notstände erklären – meistens bevor diese verfassungsjuristisch aufgearbeitet und legitimiert werden.

7. Vom “Ausbruch des Antagonismus

Denormalisierung bedeutet also Riss im Kontinuum eines Zyklus, typischerweise als „Crash“. Ein solcher Riss oder Crash ist Symptom eines verdeckten Antagonismus in dem betreffenden Zyklus. Und die aktuell operative Neudefinition der alten dialektischen Kategorie Antagonismus lautet: „Ausbruch“ eines Antagonismus bedeutet nicht normalisierbare Denormalisierung, hegemonial als „Kollaps“ bezeichnet. Was da antagonistisch kollabiert, ist immer ein Reproduktionszyklus. Eine ernsthafte Krise wie diese zwingt auch die hegemoniale Kultur, basale Dimensionen ihrer Struktur zu erörtern und die Krise als Denormalisierung (wenn auch ohne diesen Begriff) zu behandeln.

Das geschieht mittels statistischer Formulierung der Krisenprozesse als Kurven. Die Normalismustheorie beruht genau auf dieser Einsicht: Moderne Normalitäten werden mittels flächendeckender statistischer Verdatung aller modernen Massen von Dingen, Menschen und Geld produziert und reproduziert und lassen sich mittels entsprechender Prozesskurven erfassen, analysieren und managen. In NAP wird die „normalistische Kurvenfamilie“ mit den beiden Basiskurven Normalverteilung und (schlangenförmiges) Normalwachstum analysiert. Das ist alles absolut aktuell: Zur normalistischen Kurvenfamlie gehört die Exponentialkurve (Denormalisierung) und die Biegung zur logistischen Kurve (Normalisierung). Deshalb jetzt die prominente Rolle der Exponentialkurve und die von Dispositiven wie #flattenthecurve.

8. Die Phase der Normalisierung wird nach der Coronakrise viel schneller verlaufen

Aus dem Vergleich mit der Krise von 2007ff. ergibt sich eine fundamental wichtige Prognose: So wie die Phase der Denormalisierung 2020ff. zeitlich gestauchter verläuft als 2007ff., so wird auch die Phase der Normalisierung kürzer und massiver verlaufen. 2010ff. begann die „Schäublisierung“ der Finanzkrise, also der Schwenk von der extrem flexiblen Geldschwemme zur Austerität (Sparzwang). Obwohl sich diese Austerität als universell gab, war sie in Wirklichkeit extrem differentiell und traf gezielt vor allem die unteren Normalitätsklassen der ehemals 3. Welt, die Mittelmeerländer und die unteren sozialen Strata. Diese Phase der Normalisierung verstärkte also den Antagonismus zwischen den beiden oberen und den drei unteren Normalitätsklassen und innerhalb aller Länder den zwischen oben und unten. Auch dabei ist schon jetzt klar, dass die gesteigerte Wiederholung diese Antagonismen ins Präkollaptive verstärken wird. In den 3 unteren Normalitätsklassen werden ganze Länder und Kulturen kollabieren (wie es sich bereits im Iran abzeichnet). Die Folge wird ein „Chaos“ mit Massensterben, weiterer Bellisierung und noch kaum vorstellbaren zusätzlichen Massenfluchten sein.

9. Es geht um mehr als nur Ökonomie

Zweifellos leiden in dieser „Viruskrise“ insbesondere ökonomische, also kapitalistische, Teilzyklen unter präkollaptiver Denormalisierung: der Kreditzyklus (Schulden), der industrielle Zyklus (besonders Auto und Öl), der Arbeitszyklus (drohende Arbeitslosigkeit) und damit auch der Konsumzyklus. Der Begriff der „Kette“ („Lieferkette“) steht für die zyklische Reproduktion. Deshalb sind schon griffige Formeln wie „Corona-Kapitalismus“ im Umlauf. Als diskurstaktische Formel okay – aber es wäre ein Irrtum, jetzt in Ökonomismus, also monotonen Ableitungsmurxismus (das u ist kein Druckfehler) zurückzufallen. Wir haben es mit einem Kombinat relativ autonomer Reproduktionszyklen zu tun, dem Zyklenkombinat der Moderne. Dazu gehören neben den ökonomisch-kapitalistischen Zyklen die Zyklen des Wissens und der Technik, der Zyklus des Sozialen, der politische Zyklus, der militärische Zyklus und die kulturellen Zyklen sowie die Zyklen der Subjektivitäten.

Diese Zyklen sind untereinander eng gekoppelt und verknotet. Im momentanen „neoliberal“ genannten Total-Kapitalismus dominieren zwar die ökonomischen Zyklen, aber nicht monoton. Das ist entscheidend wichtig – denn darauf beruht die Möglichkeit für das hegemoniale („moderne“ einschließlich „postmoderne“) Zyklenkombinat, Denormalisierungen einzelner Zyklen durch Kompensation mittels anderer Zyklen zu verschieben – mit dem Ziel zunächst einzelner und schließlich allgemeiner Normalisierungen. Genau das spielt sich momentan ab: Mittels sozialer und politischer Kompensationen sollen denormalisierte ökonomische Zyklen „aufgefangen“ und am Kollaps gehindert werden. Überall geht es um die Wiederherstellung von Kontinuitäten: der Aktienkurven durch Riesen“pakete“ zusätzlicher Staatsschulden, der Kurven der industriellen Konjunktur durch Staatsaufträge, der Arbeitskurven durch Kurzarbeitergeld usw., der Konsumkurven durch Helikoptergeld (Trump).

Dass es nicht um bloße Ökonomie geht, zeigt die große Bedeutung des „Alltags“ (Tourismus, Unterhaltung, Sport, Festivals usw.) für den Normalismus. Jede Gesellschaft braucht eine Art Alltagsrhythmus, und dieser Rhythmus ist in der westlichen Moderne eben (statistisch begründete) Normalität mit normalistischen Ritualen wie vor allem dem Sport. Daran zeigt sich die ungeheure Vehemenz der momentanen Denormalisierung, die den gesamten normalistischen Alltag, vor allem den Sport, zerschlägt. Der nun zuerst und zu Recht im Focus der Aufmerksamkeit stehende Zyklus des Gesundheitswesens ist, wie sich nun zeigt, ein wesentlicher Teilzyklus des Alltags, der durch seine Denormalisierung radikal mit denormalisiert wird.

10. Dominanz des militärischen Zyklus

Der „Ernst“ der Lage, den auch die hegemonialen Entscheidungseliten betonen, besteht im diesmal ziemlich großen „Restrisiko“, dass das Spiel der Verschiebungen und Kompensationen zwischen den Denormalisierungen und Normalisierungen einzelner Zyklen am Ende doch irgendwo zum Kollaps führen könnte. Es ist dieser „Ernst“, der überall zunächst zykleninterne Notstände generiert, die inzwischen längst eine Tendenz zum interzyklischen „Ausufern“ zeigen – und das führt mit Notwendigkeit zur Ankopplung und eventuell sogar zur Dominanz des militärischen Zyklus im Zyklenkombinat. Macron hat die Krise als „Krieg“ definiert, und Trump hat Kriegsvollmachten gefordert (19.3.2020). Überall werden die Armeen samt Reservisten mobilisiert und eingesetzt, einschließlich der Hilfstruppen privater Sicherheitsunternehmen (und neofaschistischer „Bürgerwehren“ auf freiwilliger Basis). Die typische erste Militarisierung betrifft die Außengrenzen, bevor auch das interne Territorium militarisiert wird. Krieg ist der Offenbarungseid des Normalismus: Er hebt jede Normalität auf, indem er den Antagonismus offen erklärt, um ihn im gleichen Atem mit Waffengewalt zu „vernichten“. Notstand ist allerdings noch nicht gleich Kriegszustand – es gilt zunächst, Typen und Tendenzen von Notstandsregimen zu analysieren.

11. Das Rechts-Links-Mitte-Extreme-Modell ist als Dispositiv politischer Normalisierung zu begreifen

Manche (auch hegemoniale) Stimmen machen sich Sorgen, dass die Demokratie unter dem ausufernden Notstand dauerhaften Schaden leiden könnte (was z.B. Überwachungsregime betrifft: Modell China). Dabei geht es also um den politischen Zyklus. Auch dessen Krise ist nur als Denormalisierung wirklich zu begreifen. Dazu gehört die Einsicht, dass die parlamentarisch-repräsentative Demokratie westlichen Typs im ganz präzisen Sinne als „Normaldemokratie“, als normalistische Demokratie analysiert werden muss: Das Rechts-Links-Mitte-Extreme-Modell ist präzise als Dispositiv politischer Normalisierung zu begreifen, weil die idealtypische Kumulierung der Stimmen um die linke und rechte Mitte mit abnehmender Stärke zu den beiden symmetrischen Extremen präzise einer Quasi-Normalverteilung entspricht. Auf diese Weise lässt sich der politische Zyklus sehr glatt mit anderen normalverteilten Zyklen koppeln.

12. Rückkehr des Protonormalismus

Da normalistische Kulturen sich seit langer Zeit entwickelt haben (etwa seit Anfang des 19. Jahrhunderts), haben sie zeitlich und räumlich verschiedene Ausprägungen entwickelt. Man kann dieses breite Spektrum zwischen zwei polare Idealtypen ordnen: Der eine Pol entspricht einer „steilen“ Normalverteilung mit engem Normalspektrum, massiven Normalitätsgrenzen und einem symmetrisch doppelten breiten Anormalspektrum (oben und unten, links und rechts). Dieser Typ herrschte im Westen bis etwa 1945: er ist als Protonormalismus zu bezeichnen. Die dazu passende Subjektstruktur ist autoritär und diszipliniert. Der umgekehrte Idealtyp entspricht einer „flachen“ Normalverteilung mit weit außen platzierten und porösen Normalitätsgrenzen, so dass die meisten Individuen ins Normalspektrum „integriert“ und „inkludiert“ werden können („Diversität“, „Singularitäten“, „Postheroismus“ usw.). Dieser Typ (flexibler Normalismus) dominiert im Westen seit 1945. In einer großen, präkollaptiven Denormalisierung wie momentan gerät der flexible Normalismus unter Stress und entsteht eine hegemoniale „Nachfrage“ nach protonormalistischen, typischerweise militaristischen, aber auch „opferbereit-disziplinierten“ Subjektivitäten. Das protonormalistische Subjekt führt einen „Krieg“ gegen alle „anormalen“ Erscheinungen und Personen. Es fühlt sich wohl in einem Klima der Einschüchterung, des Verdachts und der Denunziation. Notstandsregime wirken auf solche Subjekte als starke Attraktoren und können sie unter Umständen an die oberen, aber vor allem auch mittleren und unteren Schalthebel der Macht hieven.

13. Wir sollten die Macht der normalisierenden Dispositive in den „reichen Ländern“ nicht unterschätzen

Wie die Formel vom „Corona-Kapitalismus“ signalisiert, droht (aus Sicht der Hegemonie) im Zuge der Denormalisierungs-Kaskade der erneute „Ausbruch“ angeblich bereits definitiv normalisierter Antagonismen wie des klassischen marxschen zwischen Arbeit und Kapital. Wie bereits erwähnt, werden alle kompensierenden Verschiebungen eingesetzt, um diesen Ausbruch abzuwehren. Wir sollten die Macht der normalisierenden Dispositive in den „reichen Ländern“ nicht unterschätzen. Diese „reichen“ Länder der vormals Ersten Welt werden in der Normalismustheorie als „1. und 2. Normalitätsklasse“ gefasst – während die Länder der früheren Dritten Welt sich auf die 3. bis 5. Normalitätsklasse verteilen. Der bereits vor Corona „ausgebrochene“ Antagonismus ist der zwischen den oberen zwei und den unteren drei Normalitätsklassen. Die klarsten Symptome des Ausbruchs sind die Kriege und die dadurch ausgelösten Massenfluchten. Bereits jetzt ist klar, dass die Pandemie-Krise diesen Antagonismus bis zum Kollaps ganzer Länder, Wirtschaften und Kulturen verschärfen wird

14. Den Notstand basisdemokratische kontrollieren

Wie soll sich die Dissidenz zur emergierenden Notstandsordnung verhalten? Sicher sind zwei Extreme falsch: Weder handelt es sich um wesentlich unbegründete, „total überzogene“ Repressivmaßnahmen – noch umgekehrt um bloße Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit. Der Notstand ist wegen der Pandemie notwendig. Es geht aber darum, ihn möglichst basisdemokratisch zu kontrollieren, statt ihn sich in ein autokratisches Ermächtigungsregime der Exekutive entwickeln zu lassen. Die erste Bedingung dafür betrifft die Subjektivität: Es gilt, sich von dem nationalistisch-bellizistischen WIR eines neuen „Burgfriedens“ wie 1914 nicht einsaugen zu lassen und ein basisdemokratisches, pluralistisches und kritisches wir zu behaupten. Dieses kleine wir ist transnationalistisch und tendentiell auch transnormalistisch. Die repressiven Notstandsregime beweisen täglich, dass die Maßnahme des Abschaltens ganzer Zyklen durchaus durchführbar ist.

Also können auch gefährliche potentiell antagonistische Teilzyklen abgeschaltet werden (konkretes Beispiel AKWs und Kohlekraftwerke). Die beste Kontrolle des repressiven Notstands von oben wäre seine Ergänzung durch eine Art BDDA (Basisdemokratische Dringlichkeitsaktionen). In dieser Richtung gibt es bereits viele Initiativen, die von den Mainstreammedien „aus den Schlagzeilen gehalten“ werden: Streikbewegungen in Italien für die autonome Schließung der Fabriken, Nachbarschafts-Komitees in Frankreich, die die Versorgung der Senioren in Quarantäne organisieren. Gerade auch für die Diskursarbeit mangelt es nicht an Dringlichkeits-Initiativen: Informationswesen (über Internetplattformen), Buchvertrieb unter Bedingungen der Schließung der Buchläden, Organisierung von Lektüregruppen und Diskurswerkstätten im Netz usw. bis hin zu künstlerischen, aktuell auf den Prozess der Krise bezogenen, Experimenten.

Anm. d. Red.: Das Foto im Text stammt von Brian Evans und steht unter einer Creative Commons Lizenz (CC BY-ND 2.0).

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