Neue Welt, alte Worte

>Als wir, eine Gruppe von Reportern, in den Tagen nach dem Beben auf dem Flugplatz von Phuket landeten, merkten wir, dass wir in einer neuen Welt gelandet waren.< Das ist der erste Satz in Cordt Schnibbens Buch >Tsunami – Geschichte eines Weltbebens<[DVA, 2005]. Die erste Chronik der Flutkatastrophe im Indischen Ozean eroeffnet mit einer Beobachtung, die auch Christoph Kolumbus bei der Entdeckung des Paradieses gemacht hat. Mehr als 500 Jahre spaeter sind solche Zeilen die deutlichsten Worte dafuer, dass nach dem Tsunami nichts mehr so ist, wie es einmal war. Und dass diese Erschuetterung am besten kompensiert werden kann, indem man seine Sprachlosigkeit und die Tatsache, dass die eigenen Ordnungssysteme veraltet sind, in den Sprachgestus des Besuchers aus der so genannten >alten Welt< huellt.

Kolumbus war seiner Zeit auch ueberwaeltigt. Auch er rang um Worte. Schliesslich orientierte er sich an Marco Polos Schriften, um seine Erfahrungen in der neuen Welt jenen zu vermitteln, die er als seine LeserInnen in der alten Welt waehnte: die Koenigin Spaniens, einflussreiche Kleriker, der Papst. Er schrieb fuer die Geschichte, aber ob er ahnte, dass er bald ein Massenpublikum erreichen wuerde? Die NASA-Astronauten der Apollo-Missionen aus den 1960er und fruehen 1970er Jahren, die haeufig mit Kolumbus verglichen worden sind, standen vor einem aehnlichen Dilemma. Sie machten eine Erfahrung, die buchstaeblich nicht von dieser Welt war und mussten eben dieser Welt davon erzaehlen.

Waehrend Kolumbus Tagebuch fuehrte und Briefe schrieb, sendeten die Astronauten Live-Videos. Als sie am staerksten unter Druck standen – es war Weihnachten, und man erwartete von ihnen eine passende Botschaft an die gesamte Menschheit -, zitierten sie aus der Bibel. Statt mit eigenen Worten das schier Unbeschreibbare zu beschreiben, waehlten sie Worte, die einer grossen Zahl von Menschen vertraut waren. Es waren die ersten Zeilen aus dem Buch der Schoepfung: >Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wuest und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.< Die Bibel-Lesung aus dem Weltall erreichte Millionen von TV-Zuschauern. Parallel dazu wurden Weltraumaufnahmen von der Erde ausgestrahlt. Es waren in erster Linie diese Bilder, die die Astronauten zu dem >Space Prayer< inspirierten. Jene hatten das Gefuehl, den Blickwinkel Gottes eingenommen zu haben und erzaehlten spaeter immer wieder, der Planet habe damals so ausgesehen, als sei er soeben entstanden: praehistorisch, unschuldig, unberuehrt von menschlichen Eingriffen. Die Schoepfung schien soeben abgeschlossen worden zu sein. Es war der Moment, in dem die Erde in einem bis dato ungekannten Ausmass von menschlichen Eingriffen transformiert wurde - technologisch, industriell und militaerisch. Die Netze der Politik, Wirtschaft und Kultur waren Ende der 1960er Jahre so allumfassend und engmaschig geworden, dass es ein Ausserhalb dieser Netze nicht mehr zu geben schien. Ein Aussen, seit 1492 ein zivilisationsferner Ort in Uebersee, war konstitutiv fuer die Welt gewesen. Jetzt war der Ostblock dieses Aussen. Ironischerweise lag einer der wichtigsten Aussenposten des Ostblocks eben dort, wo nach Kolumbus die neue Welt entstand: in der Karibik, auf der Insel Kuba. Darueber hinaus konnte Kuba als Ort des Tourismus in Szene gesetzt werden, im Rahmen einer Branche also, welche den vermeintlich zivilisationsfernen Ort in Uebersee zum Massenprodukt gemacht hat und welche die Idee des Aussens eigentlich nur als Illusion aufrechterhalten konnte.

1972, als das >Blue Marble<-Foto entstand, richtete sich der Blick auf die Erde als Ganzes, obwohl darauf nur die Haelfte des Planeten zu sehen war. Und eben diese Welt als vermeintlich Ganzes galt nun als zivilisationsferner Ort: praehistorisch, unschuldig, unberuehrt von menschlichen Eingriffen. Dieses Paradies wurde als das neue Aussen imaginiert. Fuer das Raumfahrtprogramm war dies ein scheinbar ueberraschender Einschnitt. Der Eskapismus der Massen kaprizierte sich zuvor auf die Weiten des Weltalls. Angesichts der >Blue Marble< richtete sich alle Wunschenergie auf den Ursprung dieser Projektion: die Erde. Beziehungsweise auf den Ursprung dieses Ursprungs: die Erde vor der Menschheitsgeschichte. Hier wurde ein schier unermesslicher Glaube an die Unschuld des kugel- beziehungsweise kreisrunden Etwas in Blau-weiss wirksam. Dieser Glaube hatte die Kraft, die gesamte Zivilisation auszublenden, die ganze Menschheitsgeschichte unter den Tisch fallen zu lassen und damit alle Kabel und Netze zu unterschlagen, welche aus dem Globus laengst begonnen hatten einen Glomus zu machen: Einen Planeten, der nicht mehr abzugrenzen war vom Weltraum, seit er technologisch vernetzt worden ist mit Satelliten, Sonden und Raumstationen, die wiederum mit den irdischen Netzen verknuepft sind. Es war und bleibt ein schmaler Grad. Das herkoemmliche Weltbild wurde mit dem >Blue Marble<-Motiv gekroent. Vis a vis des dystopisch anmutenden Mondes verlieh dieses Foto der Logik der Bi-Polaritaet symbolkraeftige Gueltigkeit. Zumindest in den Augen all jener, die darin Ganzheit und Einheit sehen wollten. Gleichzeitig deutete sich in diesem Foto die Aufloesung des bestehenden Weltbilds an. Schliesslich kam man beim kritischen Hinsehen nicht umhin, die buchstaeblich dunkle Kehrseite des sich im Rampenlicht badenden Planeten einzubeziehen. Ganzheit und Einheit wurden im Zuge dessen ebenso fragwuerdig, wie die fuer sie konstitutive bipolare Logik. Warum wollte man die bi-polare Logik mit der Rede vom ganzen Planeten um scheinbar jeden Preis vergessen machen? Darueber hinaus draengte es sich auf, jenen Ort zu kontextualisieren, von dem aus das >Blue Marble<-Foto gemacht wurde. Es war ein Ort, den man angehalten wurde zu verwechseln mit dem schier bezugslosen und von menschlichen Beziehungen losgeloesten Standpunkt Gottes. Der Punkt war jedoch verknotet mit jenen sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, militaerischen, politischen und kulturellen Netzen, welche inzwischen auch ueber die Atmosphaere des Planeten hinaus wucherten und den Weltraum als Aussen verschwinden liessen. Warum waren die Anstrengungen in der Rede von Gott so gross, diesen Punkt und somit auch den Blick, den er frei gab, von all diesen Verbindungen freizusprechen? Die Aufloesung einer Welt vollzieht sich nicht immer unter dem tosenden Geraeusch einer monumentalen Flutwelle. Im Gegenteil. Meistens steht dieser Prozess unter augenscheinlich verkehrten Vorzeichen. Wenn der Glanz der bestehenden Ordnung zu blenden beginnt, sieht man nicht so genau hin und beginnt zu phantasieren. Man sieht, was man sehen will. Unter der Oberflaeche schreitet derweil ein Prozess der Aufloesung voran. Je laenger er andauert, desto staerker wird der Glanz der bestehenden Ordnung. Es ist ein Glanz, der den Prozess der Aufloesung ueberblenden soll. Diesen Effekt bringt das >Blue Marble<-Motiv emblematisch zum Ausdruck. Nicht zuletzt, weil es als Motiv der Schoepfung in die Geschichte eingegangen ist. Vergessen wir nicht: Die Aufloesung einer Welt bedeutet immer auch ihre Neuentstehung. Bedeutet einen Vorgang der Schoepfung. Wenn 1972 ein Akt der Schoepfung stattfindet, dann kann dieser jedoch nichts mit den Vorgaengen gemein haben, die in der Bibel beschrieben werden. Erstens, weil es bei diesem Vorgang keinen allmaechtigen Schoepfer geben kann - Autor ist vielmehr die Gesamtheit der Menschen. Zweitens, weil die Bibel in diesem Zusammenhang kein Text ist, der beanspruchen kann, fuer die Gesamtheit aller Menschen zu sprechen. Die USA haben die Bibel-Lesung der NASA-Astronauten in eben dieser fatalen Weise interpretiert, so als beanspruche das Christentum universale Gueltigkeit. Mehr als 500 Jahre nachdem Kolumbus mit der gleichen Ueberzeugung die Missionierung der neuen Welt einlaeutete, weiss man, dass auf diese Weise schwerwiegende Verbrechen legitimiert wurden. Die Herrschaft im Namen des Christentums brachte Tod, Zerstoerung, Ausbeutung und psycho-soziale Deformation. Noch lange sind nicht alle Folgen bekannt. Wie Jean-Luc Nancy zu bedenken gibt: Das Christentum ist >sogar da und vielleicht vor allem da gegenwaertig, wo es nicht mehr zu erkennen ist<. Die Frage an dieser Stelle lautet demnach: Wie lange wird es dauern, bis man erkennt, dass der Schoepfungsmythos, der mit dem >Blue Marble<-Motiv einhergeht, imperiale Energie freisetzt und einem europaeischen Universalismus Vorschub leistet statt einem universellen Universalismus? Und: Wie lange wird es dauern, bis man das planetarische Bewusstsein in eine neue Schoepfungslogik ueberfuehrt im Sinne einer Aufloesung und Neuentstehung des grossen Zusammenhangs, die von der Gesamtheit der Menschen auf dem von allen geteilten Territorium namens Erde vollzogen wird?

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