Netzutopien für die Alma Mater

Was können wir vom Internet lernen? In Bildungsinstitutionen wird diese Frage noch nicht ernsthaft gestellt. Dabei prägt die Kommunikationskultur des Internet die meisten SchülerInnen von heute – und damit nicht zuletzt alle wichtigen Bedingungen des Lernens. In unserer großen Umfrage zum Thema BILDUNG reflektiert der Coach und Psychologe Claas Triebel die Chancen und Unwägbarkeiten der neuen Verhältnisse.

Lernprozesse funktionieren nicht nur über die Aufnahme von Informationen, sondern vielmehr über deren Verarbeitung. Man kann das mit dem Prozess des Verdauens vergleichen – es wird etwas aufgenommen, geschluckt oder wieder ausgespuckt. Dann wird unterschieden, welche Inhalte man sich aneignet und welche ausgeschieden werden.

Das wichtigste Lerntool bin somit immer ich selbst und meine Fähigkeit das Aufgenommene zu integrieren oder auszusondern. Auf welchem Weg ich die Informationen aufnehme, spielt dabei eine nachgeordnete Rolle: am besten ist ein Mix, der möglichst viele Sinne anspricht.

Was kein Apple-Gadget und Highspeedinternet bieten kann

Ich selbst bin ein Bücher-Narr, habe häufig den Computer dabei, nutze ein iPad und stelle fest, dass ich über diese Kanäle die klassische gedruckte Zeitung allmählich ersetze. Aber diese Medien sind nur Erweiterungen der Möglichkeiten zu lernen, nach Marshall McLuhan sind Medien ja an sich “Erweiterungen des Menschen”, Erweiterungen des Körpers also.

Es geht auch ohne diese Erweiterungen. Insofern lerne ich natürlich immer und überall wo ich bin. Denn meinen Körper führe ich immer mit mir.

Die meisten und wichtigsten Dinge im Leben lernt man ohnehin nicht, indem man liest oder irgendwo im Unterricht sitzt: wie man sprechen und laufen und Eigenverantwortung und Einfühlungsvermögen lernt – daran hat noch kein Gadget von Apple und kein Hochgeschwindigkeitsinternet etwas geändert. Und das wird auch nicht geschehen.

Orte der Informationsspeicherung wie Bibliotheken oder auch Hörsäle, in denen ein Professor von der Kanzel herab zu hunderten von Menschen spricht, werden vor dem Hintergrund technologischer Möglichkeiten Informationen an jedem beliebigen Ort aufnehmen zu können deutlich an Bedeutung verlieren. Das Gespräch, die Diskussion, das Handeln, das Erleben, Prozessschritte des Lernens also, die dem Aneignen, Verarbeiten und Aussondern von Wissen dienen, sollten an Bedeutung zunehmen.

Campus der Zukunft: Drahtlosnetz und ein paar Beamer reichen nicht

Ich hoffe, dass Bildungsinstitutionen sich entsprechend entwickeln werden. Schulen und Hochschulen sind derzeit noch weitgehend damit überfordert neue Medien in ihre Didaktik einzubauen. Es genügt nicht den Campus mit drahtlosem Internet zu versorgen und in jedes Unterrichtszimmer einen Beamer zu hängen.

Die Verarbeitungsanteile, der Austausch und das aktive Lernen also, sollten vielmehr Bedeutung erlangen, um den Möglichkeiten und dem Bedeutungswandel unterschiedlicher Lernformen Rechnung zu tragen. Das bedeutet jedoch, dass in Schulen und Hochschulen nicht nur an den Lehrplänen etwas geändert werden muss, sondern sich strukturell sehr vieles erneuern sollte.

Fächer wie Interneterziehung greifen in diesem Zusammenhang zu kurz. Sie übertragen das Modell des Lehrens als Informationsvermittlung auf einen neuen Inhalt ohne zu bedenken, dass sich die Grundbedingungen Informationen aufnehmen zu können, geändert haben. Darin liegt eine Chance für das Bildungssystem sich grundlegend zu erneuern.

Bildungsinstitutionen sollten sich darauf konzentrieren, was sie ausmachen könnte: sie sollten Orte sein, an denen man vor allem als Persönlichkeit reifen kann, an denen man für das Leben lernt, an denen man sein möchte um bestimmten Menschen zu begegnen.

Dafür müsste sich die Rolle der Lehrenden von Informationsvermittlern hin zu Coaches der Lernenden entwickeln. Dafür müsste sich im Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden sehr viel verändern. Dafür müsste das Bildungssystem vom Kopf auf die Füße gestellt werden, damit es wieder laufen lernt und Schulen und Universitäten nicht zu Informationstankstellen verkümmern. Ein Gebiet, auf dem sie mit dem weltweiten Netz nicht im entferntesten konkurrieren können.

11 Kommentare zu “Netzutopien für die Alma Mater

  1. Ein sehr schöner Text, der einfache aber wichtige Dinge nochmal auf den Punkt bringt. Danke.

  2. Endlich bringt mal jemand auf den Punkt, dass es nicht ausreicht, alle Menschen mit Internetzugang zu versorgen und dann ist man im digitalen Zeitalter angekommen.

  3. Ein gutes Plädoyer für eine Reform des Bildungssystems im Angesicht des Internet.

  4. Aber eine Stelle möchte ich hinterfragen: Können wir tatsächlich ohne sie — ohne unsere Erweiterungen des Körpers?

  5. ich bin wie immer dankbar für einen intellektuellen Ausflug in mir unbekanntes Gebiet, bin aber auch gleichzeitig skeptisch, ob sich das Bildungssystem so einfach umkrempeln lässt, so einfach auf den Kopf stellen lässt…

    Jede Krise härtet das jeweilige System nur ab, habe ich mal gelesen.

    Warum sollte diese Krise dazu führen, dass das System so grundlegend in Frage gestellt und reformiert wird?

  6. Da schließe ich mich Silvia an und sehe auch nicht, dassn das System grundlegend reformiert wird. Dazu wäre es auch noch zu früh. Auf die Tageszeitung als Infoquelle werde ich jedenfalls nicht verzichten können und auch nicht wollen.

  7. Danke für die Kommentare.
    @Rainald Krome – da gibt es ein schönes Bild von Salvador Dalí, das die Situation, des modernen Menschen zeigt: das soft selrf portrait (google bildersuche). und ganz klar: ohne die erweiterungen funktioniert die welt wie wir sie kennen nicht mehr.
    @Silvia und rehse: ich stehe dem Bildungssystem ebenfalls sehr skeptisch gegenüber. Langfristig wird den Institutionen allerdings nichts anderes übrig bleiben als sich tiefgreifend zu reformieren. Einfach ist das allerdings ganz gewiss nicht.

  8. Toller Artikel !

    Bezogen auf die Situation an den Hochschulen ist es höchste Zeit, dass sich etwas verändert. Es funktioniert einfach nicht, wenn hochgerüstete E-Learning-Zentren an den Hochschulen den Lehrenden erklären wollen, wie Lehr-Lernsituationen zu organisieren sind. Die wissenschaftlich begründete und durch Lehr-Lernforschung unterstützte Didaktik muss wieder einen höheren Stellenwert bekommen an den Hochschulen. Wir brauchen starke Professuren für Didaktik, unterstützt von den Fachdidaktiken, die hochschuldidaktische Aktivitäten koordinieren und denen die technologische Infrastruktur einer Universität unterstellt wird. Selbst die Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft (GMW) hat in einer Studie festgestellt, dass didaktische Fragestellungen bei der Einführung von E-Learning eine untergeordnete Rolle gespielt haben.

  9. Lieber Herr Triebel,
    das kann ich so unterschreiben. Was wir mehr brauchen ist das Lernen in Gemeinschaft und das so viel beschworene Lebenslange Lernen. Das Neue Lernen braucht auch einen Lernort, eine andere Architektur, den Lernraum als “dritter Pädagoge”. Dialog, Diskurs, die gemeinsame Anstrengung auf der Suche nach der bestmöglichen Lösung – das können die neuen Medien unterstützen und beschleunigen, aber nicht ersetzen.
    Ich habe gerade zwei Lehraufträge beendet, weil ich die Bedingungen an den Hochschulen nicht vorgefunden habe.

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