Zukünfte der Zukunft: Wie Nerd-Kulturen es immer wieder schaffen, Zukunftsbilder zu prägen

Nerds sind heute im Mainstream angekommen. Doch welche kulturellen Strömungen haben sie überhaupt soweit gebracht? Und wie gelingt es Nerds, Bilder der Zukunft zu prägen? Auf der Suche nach Antworten, taucht der Künstler und Aktivist Stefan Tiron in die Welt der Spezialeffekte, der fiktiven Mega-Corporations und der Cyberpunks. Ein Essay.

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Schon immer faszinierte mich, wie erhaben Spezialeffekte (Effects, oder einfach nur FX) die Last ertragen, nur als Ersatz betrachtet zu werden. Vor allem, weil sie das Virtuelle, das Künstliche, das Nicht-Wirkliche, die Science Fiction wirklich, sinnlich, fassbar, riechbar und schmeckbar machen.

Was FX vor allem gut können, ist Zusammenhänge herstellen. Sie bringen dich dazu auszuweichen, wenn all die hyper-giftige Alien-Flüssigkeit dir vom Bildschirm aus entgegenspritzt. Sie lassen tödlich chromiertes, gestaltwechselndes, polymorphes T-1000 plausibel erscheinen und schaffen es sogar Gravitationskräfte vorrübergehend außer Kraft zu setzen (z.B. bei “Gravity”). Sie können dich sogar ins Subatomare eintauchen lassen (siehe “Ant-Man”).

Spezialeffekte lassen eine Tonne Blut aus einem Fahrstuhl in Kubrick’s Horrorfilm “The Shining” strömen und wie ein Meer voller Blut schmecken und riechen. Selbst FX aus der untersten Schublade, Low-Budget- oder Kinderzimmerproduktionen lösen etwas in uns aus, affizieren uns. Komplett unabhängig von ihrer fiktionalen Umgebung.

Die miasmatische Natur von Special Effects

Lasst uns das als ihre miasmatische Natur bezeichnen – in Ermangelung eines besseren Begriffs. In Anlehnung an das metaphysische Miasma der frühen griechischen Religion. Der Begriff steht für die Übertragung eines Übels, ohne dass es eine tatsächliche physische Präsenz gäbe.

Vergiss die Vorstellung davon, dass FX cineastisches Gedöns sind, post-production Feuerwerk. Nein, sie sind über, unter und jenseits der Produktion. Sie sind kein Add-on und kein Ersatz, keine „letzte Prise“. Sie brechen ständig die Regeln der Narration. Sie verleiben sich die Story ein, stülpen sich über jede Soft-, Hard und Wetware.

Über etwas Ähnliches habe ich, lebenslanger Nerd, Ende der 1990er geschrieben. Damals nahm ich mich einer Sache an, dir mir lieb war: Spezialeffekte und Affekte. Ihre Sensationslust, ihr “bloßer” Schockgehalt wurden ja immer kritisiert und debattiert.

Angeblich gab es FX nur um zu vergrößern, um das Publikum überzustimulieren: Das fing bei der Gothic Novel an (Ann Radcliffe, Charles Brockden Brown, ‘Monk’ Lewis u.v.a.) ging weiter bis zum Schauerroman-Horror-Splatterpunk bis hin zu CGI und den Sequel-Maschinen des Military-Entertainment-Komplexes.

Wer muss hier beschützt werden?

Die Effekte waren natürlich besonders gefährlich für jene “verletzlichen” Gruppen, die die Ordnungshüter um jeden Preis schützen wollten: Die Armen, Frauen und Kinder. Ob in der Literatur oder anderswo: Seit dem 18. Jahrhundert wird FX vorgeworfen, dass sie Spasmen hervorrufen, die Nerven und Sinne überanstrengen und letztlich zum Burnout der frisch alphabetisierten urbanen Opfer führen.

Jetzt würde ich es wagen, die Anziehungskraft der Leidenschaft als eine Art transhistorische Kraft zu postulieren. Verkörpert durch FX, die in der Lage sind, die Verflechtungen subkultureller Strömungen offenzulegen. Die uns zeigen, wie die Mitglieder dieser Bewegungen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägen, ja die sogar fähig sind, die gesamte Semiosphäre und Blogosphäre zu überfluten. Eine Strömung globalen Ausmaßes.

Seit gut 30 Jahren ist der lebendige Beweis, der Träger all dieser überbordenden Leidenschaft und Besessenheit, der Nerd (oder der Otaku in seiner japanischen Anime-Manga-Cosplay-Gaming Version).

Rache der Nerds: Der kognitive Kapititalismus

Hier greift die Doku Traceroute von Johannes Grenzfurthner in die Debatte ein und liefert ihre überzeugendste und weitreichendste Behauptung: Nur halb im Witz erklärt Grenzfurthner uns, dass der kognitive Kapitalismus die “Rache der Nerds” sei. Schließlich sind wir gezwungen, ständig Upgrades vorzunehmen, um höhere “Level” zu erreichen, uns auszubeuten unterm Stern des Kapitals.

Selbst wenn das nur zum Teil stimmt, müssen wir uns dieser Beobachtung widmen. Schließlich können wir diese Art von Kollateralschaden des internationalen Nerdtums nicht einfach hinnehmen. Die Nerd-Rache-Aussage bringt uns zurück an die Ursprünge dieses Begriffs. Der Nerd hat keine einfache Geschichte, in den 1970ern war er als herabwürdigender Begriff populär, bei Philip K. Dick taucht der “Nurd” auf.

Nur um’s klarzustellen: In einem gewissen Sinne werden wir alle zu Nerds, und zwar in dem Moment, in dem wir den Cyber-Counter-Culture-Strudel unter unseren Nägeln brennen fühlen. Ehrlich: Wir finden faszinierende Bewältigungsmechanismen in diesen verzweifelten Zeiten. Hineingeworfen in Echtzeit-Memes und Nuklearsynthese, der alles verschlingenden Gier nach Sichtbarkeit und den deflationären Hypes.

Diese Strömung hat freilich ihre eigene Zukunftsarchäologie. Also lasst uns Johannes G (und seinen Mitverschwörern Jenny Marx und Eddie Codel) folgen auf ihrem Roadtrip durch die USA von Küste zu Küste. Fortwährend auf der Suche nach Zeugnissen der Gegenkultur, 80er-Jahre-Cyberdelia-Hinterlassenschaften und dem radioaktiven Niederschlag der kalifornischen Ideologie und des Dotcom-Crashs.

Klebrige Popaganda-Schicht

Besessen zu sein und dass pietätlose und natürlich rundum gesunde Verhältnis zu dem kulturellen Fetisch deiner Wahl schließen einander nicht aus. Deine Bessenheit bringt dich dazu, ganz aktiv downzugraden, auch die schlechtesten 8-mm-Home-Movies zu akzeptieren oder Fanzines, übersät mit tactical-media-Handschrift.

Während du Zuhause in deinem improvisierten Raumschiff meditierst, dich auf Cons (großen Fan-Treffen) herumtreibst oder mit gleichgesinnten Nerds abweichende Dialoge einstudierst, erwirbst du etwas, was ich mit dem englischen Begriff coating umschreiben würde, eine Art Beschichtung. Mit der Zeit nimmt deine klebrige Popaganda-Beschichtung ziemlich verstörende, kritisch-relevante Züge deiner Lieblings-Blockbuster-Franchise an.

Damit im Hinterkopf sollten wir Johannes’ liebstes Accessoire begutachten: ein Marine-Cap und ein Rucksack von der Marke Weyland-Yutani. Weyland-Yutani ist eine Firma, mehr als das. Es ist eine internationale Ansammlung von kosmischen Proportionen. Ein Konglomerat der Zukunft, der Slogan “Building better worlds”. Versteckte Vertragsklauseln, illegaler Biowaffenhandel. Es ist alles dabei.

In unserer lupenreinen Gegenwart, gefangen im Archipel Googlag, fällt es leicht zu vergessen, dass die Firmen diesen Faden aufnehmen, ihr inhumanes Antlitz können sie dabei niemals ablegen, wie einen Schatten.

Nicht nur die Riesentiere unserer Gegenwart, nein auch physische Orte wie Tunnel tragen die Insignien von FX in sich. Tunnel also. Johannes nimmt uns mit zum “River Road Tunnel”. Der befindet sich im Griffith Park, einer Location aus “Zurück in die Zukunft II” (1989).

Er zeigt uns, was dieser Tunnel ist: Ein zweitklassiges Wurmloch. Dieselbe Stelle wurde in “Falsches Spiel mit Roger Rabbit” (1988) als Eingang zu Toontown genutzt – der Film in dem es um die “Zerstörung des Öffentlichen Nahverkehrs durch Autos geht” (so Johannes). Aber es gibt noch mehr! Es ist außerdem der Eingang zum NORAD Militärkomplex in dem Film “War Games” (1983). Hier wurde zum ersten Mal das Image des einsamen Jung-Hackers, der gegen das System kämpft, fürs breite Publikum popularisiert.

Nerd-Kultur: Weiß, männlich, privilegiert?

Traceroute ist zum einen ein ziemlich glorreicher Info-Dump. Zum anderen versucht der Film, die exklusive Clubmentalität der Nerd-Kultur aufzubrechen – ein Charakteristikum vieler tragisch weißer, privilegierter und 100-Prozent männlicher Enklaven.

Wie das geht? Natürlich durch Besessenheit! Sie bringt entfernte Verwandte, Cypherpunks und Gamer etwa, zusammen. Denkt an all die so genannten Minderheiten, die die besessensten aller Nerds waren. Von wegen weiße Nerdkultur: die indigenen Navajo-Code-Talker benutzten Diné bizaad [tìnépìz̥ɑ̀ːt] oder Naabeehó bizaad [nɑ̀ːpèːhópìz̥ɑ̀ːt] um im zweiten Weltkrieg gegen die Nazis zu kämpfen.

Stephen Bishop, ein vormaliger Sklave, zeichnete die Karte der Mammoth Höhle (das größte Höhlensystem der Welt) von 1842. Seine Karte war die Grundlage für die allersten interaktiven Fiktionen, und dem ersten Abenteuerspiel, das Colossal Cave Adventure – ein Vorläufer des gesamten Abenteuerspielgenres und von Role-Plays.

Die Sex-Arbeiterin und Lifetime-Nerd Miss Maggie Mayhem vom Noisebridge-hackspace in San Francisco spricht über sexuelle Gefälligkeiten und Programmiersprachen und beseitigt somit die letzten verbliebenen puritanischen Traumata.

Traceroute ist eine von Cyberkultur-Kratern übersäte Mondlandschaft, die von Leuten wie Jack Parsons durchquert wird. Parsons war Mitglied des Suicide Squads, dessen Leidenschaft für Raketen und Okkultismus die NASA und ihr Jet Propulsion Lab angefixt hat.

Die Dekonstruktion der Nerd-Kultur geht weiter: Die romantische Aura, die Erfindergenies wie Elon Musk oder Horrormeister wie H.P. Lovecraft noch heute umgibt, wird entromantisiert. Die Ikonizität dieser Einzelhelden, die solange rum-nerden, bis ein scheinbar unlösbares Problem gelöst wird, stellt Traceroute in Frage.

Dark Arts: Die Zukunft der Erzählung der Zukunft?

Wie lassen sich die unzähligen Infos über die (un)geschriebene Geschichte des Nerdismus kulturell verorten? Wie Rolle spielen Past Futures, also vergangene Zukünfte? Ich habe mich dafür diesem Text aus dem Jahr 2014 von Molly Osberg zugewandt. Sie konstatiert, das die “Dark Arts” eine Cyber-Renaissance darstellen, hier würden “William Gibson, Akira und Blade Runner” weitergeschrieben.

Mit anderen Worten: Weyland-Yutani, dieser Monolith des US-Cyberpunks und ostasiatischer Cyberfiction/Mecha-Kultur wirft seine langen Schatten. Ähnlich wie bei E. Coli finden hier seltsame Kreuzungen statt, die in die gesamte Kultur diffundieren.

In ihrem Essay beschreibt sie die Tumblr-isierung all der Nerd-Narrationen und Imaginationen der Zukunft. Sie wundert sich, dass die meisten Bilder, die wir von der Zukunft haben, noch immer geprägt sind durch Erzählwelten, die vor drei Dekaden errichtet wurden (und die in unzähligen Sequels recyclet werden). Hat unsere Gegenwart kein Bild von der Zukunft? Sieht die Zukunft so aus: Ein Digital-Archipel, glatt, wireless, kugelsicher, schwarz?

Die Images der Zukunft, die wir brauchen, findet sie in den kuratierten, rebloggeten und gemashten HD-Tumblrs der Nerds. Dieser Full-HD-Nerdismus füllt jene Lücke, die die Retro-Science-Fiction der Gegenwart hinterlässt.

Beim Wandern durch diese Tumblrs wird die Oberfläche einer neuen Erzählung spürbar: Stealth-Design trifft auf Samurai-Schwerter, das wird gemasht mit Bio-Tech-Cybersicherheitsfirmen, angeführt von Freelance-Söldnern, deren Körper überzogen sind mit öligen Ferro-Flüssigkeiten. High Contrast in Graustufen: Sowietischer Brutalismus trifft auf die High-Fashion der Robo-Kultur, auf “Luxus ohne Angst” und auf pure Datensets.

Anm. d. Red.: Zur weiterführenden Lektüre sei das Buch Past Futures empfohlen, das bei MIT Press erschienen ist. Das Foto oben stammt von slworking2 und steht unter einer Creative-Commons-Lizenz.

2 Kommentare zu “Zukünfte der Zukunft: Wie Nerd-Kulturen es immer wieder schaffen, Zukunftsbilder zu prägen

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