Nach den Protokollen: Digitale Infrastruktur und menschliche Handlungsmöglichkeiten


Menschliche Handlungsfähigkeit verändert sich in Zeiten der Digitalität grundlegend. Der Transformationsprozess ist mehrdimensional und widersprüchlich – eben das zeichnet Handlungsfähigkeit in technologisierten Umgebungen heute aus. Im zweiten Teil seines Essays geht der Medientheoretiker und Berliner Gazette-Autor Felix Stalder auf die Macht der Protokolle ein.

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Während der Diskurs rund um das emanzipative Empowerment die Nutzerperspektive einnimmt und auf das “front-end”, die öffentlich zugänglichen Teile der neuen Infrastrukturen fokussiert, so konzentriert sich der Kontrolldiskurs auf die nicht-öffentlich zugänglichen Seiten der Infrastrukturen, das sogenannte “back-end”.

Nimmt man das back-end der Plattformen in den Blick, dann fallen vor allem die enormen Machtdifferentiale zwischen denen, die Zugang zu diesen tieferen technologischen Ebenen haben, und jenen, die das nicht haben, ins Auge. Diese neuen Machtkonzentrationen beruhen auf zwei Fähigkeiten, welche die BesitzerInnen der Infrastruktur sich erschaffen haben. Zum einen ist da die Verfügung über die durch die Nutzung der Infrastruktur entstandenen Daten.

Jede Aktion, die ein Computer ausführt, kann grundsätzlich aufgezeichnet werden. Viele Aktionen müssen auch aufgezeichnet werden, damit ein Computer funktionieren kann. Gleichzeitig werden Optionen in Programme eingebaut, die weitere Daten aufzeichnen und diese nicht den NutzerInnen, sondern den BetreiberInnen der Infrastruktur zu Verfügung stellen.

In hoher Auflösung und Echtzeit

Das reicht von einfachen Apps für Mobiltelefone – etwa Taschenlampen –, die sehr viel mehr Daten sammeln, als sie für ihre eigentliche Funktion benötigen, bis hin zu ganzen Plattformen wie Facebook oder Google, die darauf ausgelegt sind, möglichst detaillierte und konsistente Profile über alle NutzerInnen anzulegen. Daraus entsteht ein Bild der Gesellschaft in hoher Auflösung in Echtzeit. Dieses Wissen ist für kommerzielle wie auch für sicherheitspolitische Akteure von großem Interesse.

Aber Wissen alleine generiert noch keine Handlungsfähigkeit. Diese entsteht hier dadurch, dass die gleichen Akteure auch über die Möglichkeiten verfügen, die Infrastruktur laufend anzupassen. Das reicht von Drohnen, die automatisch Metadaten auswerten und daraufhin ihre Ziele angreifen, bis zu Anpassungen des Interfaces, so dass gewisse Handlungen wahrscheinlicher werden als andere.

Besonders am “weichen” Ende des Handlungsspektrums sind die Manipulations- und Kontrollmöglichkeiten für den einzelnen Nutzer kaum wahrnehmbar. Gilles Deleuze führte bereits Anfang der 1990er Jahre in seinem Text über die Kontrollgesellschaft das Bild einer Tür ein, die programmiert werden kann, um sich unter gewissen Umständen zu öffnen oder verschlossen zu bleiben. Besonders in Hinblick auf dynamische Infrastrukturen lässt sich aus der Perspektive der NutzerInnen meist nicht feststellen, warum eine Option besteht oder nicht besteht.

Oft lässt sich auch nicht feststellen, welche Optionen fehlen. Darunter liegt die kybernetische Annahme, dass, um die Handlungen eines Akteurs (Mensch oder Maschine) zu beeinflussen, es am zielführendsten ist, die Umgebung zu manipulieren, in der sich der Akteur befindet. In den letzten Jahren wurde dieser Ansatz unter dem Begriff des Nudging neu aufgelegt und einer der wichtigsten Vertreter, Richard H. Thaler, wurde 2017 mit den “Nobelpreis” für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.

Protokolle als konstituierende Macht

Die dritte Perspektive zur neuen Formen der Handlungsmacht zielt auf eine noch tiefere Ebene, jene der Protokolle. Protokolle und Standards sind Regeln, die festlegen, wie unabhängige Akteure interagieren können, ohne in eine hierarchische Beziehung zu einander einzutreten. Diese Regeln können durch ausdrückliche oder implizite Normen, technische Spezifikationen, Verträge oder andere Formen der Kodifizierung ausgedrückt werden.

Das Internet ist am besten als eine Struktur von mehrschichtigen Protokollen zu verstehen, mit einer Hardware- Steuerung ganz unten und Endnutzer-Services wie Facebook ganz oben. Protokolle definieren nicht den Inhalt der Interaktion. Sie geben keine Befehle, sondern definieren deren Form. Sie sind eine Art “konstituierende Macht”, allerdings in einer ganz anderen Weise als bei Toni Negri, wo das Konzept als die demokratische Kraft der revolutionären Erfindungen definiert ist.

Die konstituierende Kraft von Protokollen liegt auch darin, dass sie neue Räume der Interaktion schaffen, die ihre ganz eigenen Möglichkeiten haben. In diesen Räumen, und das ist ihr wichtigstes Merkmal, bleibt jeder Akteur formal unabhängig, kann und muss selbst bestimmen, was unter den spezifischen Bedingungen, welche eine Interaktion erst ermöglichen, zu tun ist.

Um dies metaphorisch auszudrücken: Protokolle schaffen Bühnen, auf denen sich mehrere Akteure treffen können, und definieren dabei nicht nur die Dimensionen der Bühne (das heißt, was möglich ist und was nicht), sondern auch deren Schräglage, so dass die darauf agierenden Akteure in ihrer Bewegung –scheinbar aus eigenem Willen – eher in die eine Richtung als in die andere tendieren.

Im Unterschied zum Konzept von Negri, der diese Macht des Konstituierens als einen bewussten Akt der revolutionären Willensbildung sah, entziehen sich die sozio-technischen Protokolle der wirkungsmächtigsten digitalen Infrastrukturen der demokratischen Verhandlung. Nichtsdestotrotz bilden sie zunehmend die Voraussetzungen, unter denen Willensbildung sich vollziehen und Handlungsfähigkeit erreicht werden muss.

Diese Voraussetzungen sind nicht neutral, und sie können es auch nicht sein. Sondern sie sind geprägt durch das, was man als ihre spezifische Affordanz bezeichnen könnte, nämlich durch ein Set von fördernden und hinderlichen Eigenschaften, die gewisse Handlungen möglich (oder leichter) und andere unmöglich (oder schwerer) machen.

Nun kann und muss jeder und jede selbst entscheiden, wie er oder sie sich unter diesen konkreten Umständen verhalten soll. Mit anderen Worten bilden diese Protokolle die Voraussetzungen der Interaktion, können durch diese aber kaum reflektiert werden und, besonders in geschlossenen technischen Systemen, auch nicht von außen geändert werden. Aber auch von Innen sind Änderungen oft nicht einfach, weil ja die NutzerInnen ihre eignen Handlungen auf die Möglichkeiten des Protokolls abgestimmt haben und entsprechend radikal von Änderungen betroffen wären.

Können und Nichtkönnen unter den Bedingungen von Facebook

Wenn Facebook etwa seinen Filtermechanismus verändert, dann liegt meist keine gezielte Zensur im klassischen Sinne vor, sondern es werden einfach die Bedingungen geändert, unter denen die Auswahl von Posts, die den NutzerInnen in ihrer persönlichen Timeline angezeigt werden. Diese haben sich nun mit ihrem Verhalten darauf einzustellen. Damit erwächst jenen, die die Protokolle festlegen bzw. verändern, eine enorme konstituierende Macht, in dem sie die Bedingungen festlegen, unter denen andere dann agieren müssen.

Diese Macht spricht nicht im klassisch disziplinierenden Modus von “Du musst!”, sondern im konstituierenden Modus von “Du kannst!”. Dass dieses “Können” aber durch bereits festgelegte Konditionen geformt wird, muss einfach hingenommen werden. Denn die Alternative zur Akzeptanz dieser Bedingungen ist ein “Nichtkönnen” auf der tiefer liegenden Ebene. Viele kennen das aus ihrem persönlichen Verhältnis zu Facebook. Trotz wachsendem Misstrauen gegen die Plattform und die Welt, wie sie dadurch erschaffen wird, sind die wenigsten bereit, den radikalen Schritt des Austritts zu wagen und auf alle Handlungsmöglichkeiten ganz zu verzichten.

Alle drei Veränderungen der Handlungsfähigkeit, die hier mit den Begriffen Empowerment, Kontrolle und Protokolle skizziert wurden, existieren gleichzeitig und in widersprüchlichen Verhältnissen, die sich von Situation zu Situation unterscheiden. Aber es ist genau diese Mehrdimensionalität und Widersprüchlichkeit, die Handlungsfähigkeit in technologisierten Umgebungen heute auszeichnet. Auch Kultur – im engeren wie im weiteren Sinn – wird so mitkonstituiert. Akteure des Kulturfelds, die durch ihre Handlungen vielfältige Öffentlichkeiten zu generieren versuchen, sehen sich darin mit harten digitalen Gegebenheiten konfrontiert.

Auf die Ebene der Protokolle haben sie kaum Einfluss, dazu wäre staatliche Regulierung notwendig. Auf die am “back-end” angehäuften Daten und Optionen haben sie nur insoweit Zugriff, als die Betreiber der Infrastrukturen, etwa Facebook oder Google, ihnen diesen gewähren, was gemäß aktuellen Geschäftsmodellen vor allem über den Verkauf von Werbemöglichkeiten geschieht. Den größten und direktesten Einfluss haben die bestehenden Akteure auf die UserInnen, deren Meinung heute nicht mehr einfach privat ist, sondern für viele die glaubwürdigste Form von Öffentlichkeit darstellt, und über eine beachtliche Reichweite verfügen kann. Im besten Falle entstehen hier neue Allianzen zwischen Kulturschaffenden und ihrem Publikum – das damit aufgehört hat, reines Publikum zu sein.

Anm.d.Red.: Der erste Teil des Texts erschien in der Berliner Gazette unter dem Titel “Digitalität und Handlungsfähigkeit: Was bedeutet ‘Agency’ im Zeitalter des Netzes?”. Eine gedruckte Fassung des Texts ist in dem von Ruedi Widmer und Ines Kleesattel herausgegebenen Buch Scripted Culture: Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung verfügbar. Das Bild oben stammt vom Cover des Buchs unter einer Creative Commons Lizenz.

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