MORE WORLD: Berliner Gazette Jahresprojekt zu Klimawandel als globale Herausforderung

Klimawandel zählt zu den größten Herausforderungen in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung. Was können wir tun? In ihrem 20. Jahr beleuchtet die Berliner Gazette unter dem Motto MORE WORLD Praktiken der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. Was wir vorhaben und wie Sie sich als LeserIn einbringen können, beschreibt Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki in diesem Text.

*

„Wir müssen uns mit neuer Kraft fragen, was die Welt von uns will, aber genauso, was wir von ihr wollen, überall, in alle Richtungen, urbi et orbi, in der ganzen Welt und für die ganze Welt, ohne das/die Kapital(e) der Welt, aber mit dem Reichtum der Welt.“ (Jean-Luc Nancy)

Angebote, den Komplexitäten der Globalisierung zu entfliehen, haben Konjunktur. Insbesondere in geschwächten, kriselnden oder autoritär verwalteten Demokratien wird so etwas wie Globalisierungseskapismus zusehends populär und im selben Atemzug der Staat als autarker und abgekapselter Schutzraum zur bevorzugten Zufluchtsfiktion stilisiert. Die Verbreitung des nationalistischen Rechtspopulismus in der globalen Öffentlichkeit verstärkt die eskapistischen Tendenzen. Das ist ziemlich offensichtlich. Die Folge dieser Entwicklung springt jedoch weniger ins Auge; sie erfordert daher mehr Aufmerksamket: Die eskapistische Tendenz, die sich mit Hannah Arendt als “Weltentfremdung” beschreiben ließe, schrumpft Zugänge zur Welt. Das heißt, für alle von uns schwinden Zugänge zur Welt wie sie ist, aber auch zur Welt wie sie sein könnte. Besonders hart trifft dies marginalisierte, unsichtbar gemachte und illegalisierte AkteurInnen. Aber auch Privilegierte sind betroffen: Personen mit unbefristet gesichertem Rechtsstatus, Zugang zum höheren Bildungssystem, sozialversicherungspflichtigem Job, etc.

Diese Entwicklung macht die Zufluchtsfiktion unhaltbar und wir sind angehalten, wieder einen Sinn für die Wirklichkeit zu entwickeln. Dabei drängt sich die Frage auf, inwiefern der Staat überhaupt als Schutzraum fungieren kann. Wer diese Frage stellt, muss zunächst die Komplexitäten der Globalisierung anerkennen und Wege finden, sie nicht länger als Bedrohung zu sehen, denn das löst in den Gesellschaften alarmistische Abwehrmechanismen aus, die verheerende Folgen haben. Stattdessen gilt es die Komplexitäten der Globalisierung als Herausforderungen zu begreifen und sie gemeinsam anzugehen – Privilegierte und Nicht-Privilegierte zusammenarbeitend. So geht das MORE WORLD-Projekt davon aus, dass die Herausforderungen, die im Zuge der Globalisierung immer sichtbarer werden, nicht vom Staat allein, aber zunächst auch nicht ohne ihn bewältigt werden können; vielmehr sollten wir als Gesellschaft ein vielschichtiges Zusammenspiel von kommunalen, staatlichen und globalen Lösungsansätzen anstreben. Das MORE WORLD-Projekt lädt dazu ein, auf der Mikro-Ebene anzusetzen, sprich: kommunale Werkzeuge zu erkunden, die dem Anspruch dieses vielschichtigen Zusammenspiels gerecht werden. Wir wollen dazu drei Komplexe der Globalisierung beispielhaft aufgreifen und miteinander in Beziehung setzen: Klimawandel, Migration und Digitalisierung. Wir wollen sie als planetarische Herausforderungen begreifen, die mit kommunal verwalteten Werkzeugen angegangen werden können.

Mit diesem Ziel im Blick, ruft die Berliner Gazette in ihrem 20. Jahr dazu auf, jene Komplexitäten zu erkunden, die populistische Strömungen gegenwärtig vehement auszublenden versuchen. Zu diesen Komplexitäten gehört erstens die Tatsache, dass der Staat für grenzüberschreitende Bewegungen nicht nur durchlässig ist, sondern diese auch produktiv zu machen versucht, um sein Fortbestehen zu sichern. Zweitens die Tatsache, dass die soziale Welt immer viel reicher, sprich: vielfältiger und heterogener gewesen ist, als es homogenisierte Bilder der Gesellschaft – derzeit vom nationalistischen Rechtspopulismus ins Extreme gewendet – glauben machen. Daher gilt es den unterdrückten Reichtum des Wir sichtbar zu machen, insbesondere jene anderen Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, die sich auf kommunaler Ebene die Herausforderungen der Globalisierung aneignen und somit unerhörte Weltzugänge für alle eröffnen.

Open Call: Das MORE WORLD-Projekt lädt ein, gemeinsam kommunale Werkzeuge für planetarische Herausforderungen zu untersuchen. Dazu soll eine Rubrik in der Internet-Zeitung berlinergazette.de entstehen, die offen ist für Beiträge aus der ganzen Welt. Außerdem ist eine Reihe von Events geplant. Nähere Infos dazu finden sich am unteren Ende des Texts. Wer mehr über die Ideen und Fragestellungen des Projekts erfahren möchte, liest erst einmal an dieser Stelle weiter.

Klimawandel, Migration, Digitalisierung

Zu den dringendsten planetarischen Herausforderungen gehört heute der Klimawandel. Er gilt als etwas, das uns umgibt, umhüllt und verwickelt, das aber buchstäblich zu groß ist, um es in seiner Gesamtheit zu sehen und zu verstehen. Während der Klimawandel deshalb als etwas Ungreifbares erscheint, das überall und nirgendwo zu sein scheint, ist er doch mit allem und jedem verbunden, nicht zuletzt mit Migration und Digitalisierung. So sind die Millionen von Menschen, die im globalen Süden aus ihren Häusern fliehen, immer häufiger aufgrund des Klimawandels und der damit verbundenen Katastrophen auf der Flucht. Die Forschung hat auch erste Erkenntnisse darüber geliefert, wie die globale Erderwärmung bereits heute den bewaffneten Konflikt beeinflusst. So flüchten MigrantInnen zusehends aus ihren unbewohnbar gewordenen Häusern und zerstörten Lebenswelten, auch weil durch den Klimawandel bewaffnete Konflikte ausgebrochen sind, wie es beim Syrienkrieg zum Teil der Fall war. Das ist aber nur der Anfang, denn die fortschreitende Digitalisierung macht solche verflochtenen Beziehungen immer komplexer und dynamischer.

Die Digitalisierung ist ein weltweiter Prozess. Nicht zuletzt wird dabei der globale Ausbau der Cloud-Infrastruktur vorangetrieben: die Installation von Glasfaserkabeln, die Errichtung von Rechenzentren und Serverfarmen, etc. Diese Infrastruktur hat eine selten thematisierte geopolitische Dimension, die in Entscheidungen über so unterschiedliche Dinge wie Asylstatus oder Drohnenangriff zum Tragen kommt. Darüber hinaus spielt die Cloud-Infrastruktur bei Grenzkontrollen aber auch im Falle der Erderwärmung eine zusehends wichtige Rolle. Die politische Geographie der Cloud-Infrastruktur geht über die Souveränität der Nationalstaaten hinaus und suspendiert scheinbar auch die staatliche Verantwortung für ihre Rückkopplungen. Das ist im Falle der aktuellen Erderwärmung besonders augenfällig. Schließlich ist die Cloud-Infrastruktur bei höheren Temperaturen stärker belastet, höhere Temperaturen wiederum werden durch den Umweltstress, den die Cloud-Infrastruktur verursacht, hervorgerufen: die Hitze von Serverfarmen, etc. Inmitten dieser Umweltinfrastrukturkrise entstehen Räume, in denen Bürger- und Menschenrechte aufgehoben scheinen. Am stärksten davon betroffen sind Personen, die ihr Recht auf Bewegungsfreiheit durchzusetzen versuchen. Migration wird zu einem ‘Risikospiel’, bei dem Märkte und Staaten, die von den ‘mobilen Arbeitskräften’ profitieren wollen, das Risiko allein auf jene abwälzen, die zu den Verwundbarsten dieses ‘Spiels’ gehören: Flüchtende, Asylsuchende, Staatenlose, etc.

Wie können wir Wege finden, die scheinbare Leichtigkeit der Cloud-Infrastruktur, die den Klimawandel beschleunigt und über das Leben der Menschen entscheidet, schwerer und gewichtiger zu machen? Wie kann die Cloud-Infrastruktur durch bereits bestehende Solidaritätsnetze genutzt oder untergraben und durch alternative kommunale Strukturen ersetzt werden, die gefährdete Menschen unterwegs unterstützen können? Was für kommunale Praktiken können sich als nützlich erweisen, wenn es bei der Bewältigung von planetarischen Problemen, um das Zusammenspiel von kommunalen, staatlichen und globalen Strukturen geht?

Das sind weitreichende Fragen. Wir müssen irgendwo anfangen. Wollen wir der Komplexität der Globalisierung auf Augenhöhe begegnen, müssen wir zunächst zur Kenntnis nehmen, dass Klimawandel, Migration und Digitalisierung miteinander verbundene geopolitische Komplexe sind, die nur dann angemessen bewältigt werden können, wenn sie durch ein Zusammenspiel von kommunalen, staatlichen und globalen Organisationsstrukturen angegangen werden. Doch dies ist leichter gesagt als getan. Immerhin hat Eskapismus Konjunktur. Dabei schwinden Zugänge zur Welt. Das heißt, wie eingangs gesagt, es schwinden nicht nur Zugänge zur Welt wie sie ist, sondern auch zur Welt wie sie sein könnte. Diese Weltschrumpfung hat zwei miteinander verknüpfte Dimensionen. Erstens, komplexe Probleme, etwa der Kilmawandel, werden verdrängt. Zweitens, die spannungsreiche Vielfalt des Sozialen, wie sie im Zuge der Migration entsteht, wird verdrängt. Alles soll einfach und überschaubar werden – kann das gut gehen? Es ist zu bezweifeln. Schließlich werden die problematischen Komplexitäten durch die spannungsreiche Vielfalt des Sozialen hervorgebracht und umgekehrt. Die komplexen Probleme können nicht ohne die Potenziale des vielfältigen Sozialen bewältigt werden. Also gilt es neue Zugänge zum Wir zu schaffen, die immer auch neue Zugänge zur Welt bedeuten.

Das destruktive Blendwerk des Rechtspopulismus

Heute kommen wir nicht umhin, den Schaden zur Kenntnis zu nehmen, den der Populismus für emanzipatorische Anliegen mit sich bringt – ohne jedoch bei diesem Zur-Kenntnis-Nehmen stehen zu bleiben. Die Agenda des Populismus sollte nicht zu viel von unserer Aufmerksamkeit und Energie verschlingen. Wir brauchen ausreichend Kraft für unsere eigene Agenda. Doch zunächst zum Populismus. Zunächst müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die dominanteste Form des Populismus heutzutage der nationalistische Rechtspopulismus ist. Er verbreitet sich rasant in so unterschiedlichen Ländern wie Ungarn, Indien, USA, Türkei, Japan, Brasilien und nicht zuletzt Deutschland. Wo er BefürworterInnen findet, dort werden einfache Lösungen für komplexe Probleme in Aussicht gestellt. Diese trügerische Erfolgsformel beschwört einen homogen und autoritär geführten Staat als Schutzraum. Dabei wird ausgeblendet, dass der Staat seit Jahrhunderten ein Katalysator der Expansion von transnationalen Netzwerken und Verkehrsflüssen ist. Ausgeblendet wird somit auch, dass der Staat spätestens seit dem 15. Jahrhundert maßgeblich an der Globalisierung beteiligt gewesen ist, d.h. sowohl an der Produktion planetarischer Probleme als auch an Verbrechen mit grenzüberschreitenden Folgen, insbesondere wenn die Nation beschworen wurde, etwa im Zuge des Kolonialismus.

Wenn Rechtspopulisten also ausblenden, dass der Nationalstaat die Bedingungen für die Globalisierung geschaffen hat, dann blenden sie aus, dass der Nationalstaat exakt jene Komplexitäten und Probleme produziert, vor denen sie sich im Nationalstaat verschanzen möchten. Dieser unauflösbare Widerspruch wird heute von Rechtspopulisten systematisch verdrängt. Während sie ihre irreführende Propaganda immer weiter verbreiten, entlädt sich das Verdrängte in zusehends bedrohlichen Energien. Beispiele dafür wären Hetzjagden auf ‘die Anderen’ der Gesellschaft, die Ächtung ‘inhomogener Allianzen’, aber auch die graduelle Selbstzerstörung demokratischer Gesellschaften wie im Falle des Brexit.

Es droht die Regression in den Faschismus. Nicht von ungefähr mehren sich dazu öffentlich geführte Auseinandersetzungen, etwa unter dem Stichwort „Neo-Faschismus“. Sie geben uns, u.a. im Anschluss an die Frankfurter Schule, folgendes zu denken. Faschismus wird von einer Art Mangel an Mut getrieben: zunächst ein Mangel an Mut all jener, die aus Angst vor den Faschisten mit den Faschisten mitgehen, vor allem aber auch ein Mangel an Mut all jener, die Angst haben, sich dem Reichtum der Welt zu stellen. Aller Anfang der neofaschistischen Tendenz ist also Eskapismus: die vom nationalistischen Rechtspopulismus propagierte Abkehr von globalen Verflechtungen und transnationalen Verpflichtungen, d.h. von den Komplexitäten der ökonomischen wie auch ökologischen, der technologischen wie auch kulturellen Globalisierung.

Die eskapistische Abkehr von der Welt wird durch Formen der Irrationalität sanktioniert, die wiederum durch die nationalistische Affekt-Politik legitimiert werden. Bezeichnend ist, dass dieser Tendenz mit Appellen an die Vernunft der scheinbar verrückt Gewordenen kaum beizukommen ist. Schließlich geht die Abkehr von planetarischen Verflechtungen und das damit verbundene Schrumpfen der Welt-Zugänge mit der Wiederbelebung der proto-faschistischen Idee der Weißen Vorherrschaft einher (siehe Trump, Orban und Gauland), somit also auch mit der Revitalisierung einer Idee von Vernunft, die, dem europäischen Komplex aus Aufklärung und Kolonisierun entsprungen, letztlich auch Weiße Vorherrschaft repräsentiert und unterstützt.

Weltschrumpfung und Weltentfremdung erscheinen demnach als eine besonders perfide Form des Eskapismus: als Exzesse der Irrationalität bzw. Ekstaseneiner Vernunft, die im Zeichen der Weißen Vorherrschaft steht. Was heute als enthemmtes Ressentiment durch die Öffentlichkeit geistert, ist häufig ein Beispiel für beides: Ekstasen der Irrationalität und Exzesse einer Vernunft, die im Zeichen der Weißen Vorherrschaft steht. Diese Vorgänge vitalisieren eine nationalistische Politik des Affekts und diskreditieren im selben Atemzug affektgetriebene soziale Bewegungen, wie sie zuletzt etwa mit Blick auf die Indignados in Südeuropa im öffentlichen Diskurs noch gefeiert werden konnten. Die Diskreditierung derart revolutionärer Politiken des Affekts steht aus verschiedenen Gründen zur Disposition. Einer davon ist: nationalistische und revolutionäre Politiken des Affekts erscheinen in der breiten Öffentlichkeit im zunehmenden Maße als ununterscheidbar, so dass revolutionäre Politiken des Affekts ihres Anspruchs ‘das historisch Wahre und Richtige zu machen’ beraubt scheinen. So entsteht eine paradoxe Lage: Im aktuellen politischen Klima erscheint die breite Vielfalt revolutionärer Affektpolitik, wie sie nicht zuletzt in experimentellen Protest- und Aktionsformen zum Ausdruck kommt, tendenziell delegitimiert, während die ‘irrationalen’ Anliegen und Vorstöße der Nationalisten und extremen Rechten im zunehmenden Maße legitim und vernünftig erscheinen. Die Öffentlichkeit wird durch diese zwei gleichzeitigen Bewegungen eingezäunt.

Beide Bewegungen, so unterschiedlich sie auch sind, haben gemeinsam, dass sie dazu beitragen, den öffentlichen Diskurs für Dissens und für eine größtmögliche Pluralität von Diskurs-TeilnehmerInnen zu schließen – letztere würden auch marginalisierte, unsichtbare und illegalisierte AkteurInnen umfassen, für die diskursive Öffnungen in der Regel am wenigsten gesichert sind. Es versteht sich von selbst, dass das kontinuierliche Öffnen und Offenhalten des öffentlichen Diskurses seit jeher die zentralen Grundlagen jeder Demokratie sind und den Reichtum des Wir katalysieren. Doch gerade in diesem historischen Moment – in Deutschland, in Europa, in den USA und darüber hinaus – gilt es den größten kollektiven Mut aufzubringen, um ein solches grundlegendes demokratisches Engagement zu praktizieren und um den damit verbundenen Reichtum des Wir zu leben. Wir sind es, die nun herausgefordert sind zu erkunden, wie sich dieser Mut manifestieren kann.

Wer braucht schon verstellte Weltzugänge?

Beim Erkunden und Suchen, gilt es kritisch zur Kenntnis nehmen, dass Mut zur Demokratie und Mut zum Wir sich heutzutage immer wieder nur als Selbstverteidigung der Privilegierten ausnimmt. Gemeint ist hier die Mitte bzw. Mehrheit der Gesellschaft: Personen mit unbefristet gesichertem Rechtsstatus, Zugang zum höheren Bildungssystem, sozialversicherungspflichtigem Job, etc. Die Selbstverteidigung dieser Personengruppe ist ausgesprochen problematisch, denn sie verhält sich komplementär zu der durch den Rechtspopulismus genäherten proto-faschistischen Tendenz. Aus den Reihen der Priviligierten heißt es etwa – übrigens treffen sie damit einen wichtigen Punkt –, dass die Nationalisten die Errungenschaften der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bedrohen. Doch es interessiert sie nicht, wer von diesen Errungenschaften ausgeschlossen geblieben ist. Ihr einziger Maßstab für die bedrohliche Lage sind sie selbst: sie haben bislang von den exklusiven Errungenschaften profitiert; dies scheint jetzt nicht mehr ohne Weiteres möglich zu sein, weil ihre Freiheit, Sicherheit, Einfluss, Status, etc. in Frage gestellt werden.

Ausschließlich mit ihrem Selbsterhalt und ihren Gewissheiten beschäftigt, was sich übrigens auch in ihrem teils unreflektierten Fixiertheit auf die Nationalisten spiegelt, unterstützen die Privilegierten mit ihrer Selbstbezogenheit letztlich eine durch den Rechtspopulismus dominant gewordene Tendenz: es wird zusehends normaler, prekäre Entwicklungen nur auf sich selbst zu beziehen, nicht jedoch auf andere. Das sollte uns zu denken geben. Schließlich werden durch die diskursiv-politischen Schließungen von Weltzugängen nicht in erster Linie die Privilegierten bedroht. Sondern insbesondere marginalisierte, unsichtbar gemachte und illegalisierte AkteurInnen, etwa staatenlose Personen oder people of color, wie uns die Aktivistin Jennifer Kamau erinnert.

Daher: Wenn wir heute MORE WORLD fordern, dann tun wir dies für und mit jenen, die uns – laut rechtspopulistischer Propaganda – angeblich nichts angehen, die wir unbeachtet lassen und ausschließen sollen. Doch wir fordern das auch für und mit den Privilegierten. Auch sie brauchen mehr Zugänge zur Welt wie sie ist und wie sie sein könnte. Denn – und das ist der springende Punkt – nur wenn wir alle zusammen ein Mehr an Weltzugängen herstellen und nutzen, können wir planetarischen Herausforderungen konstruktiv begegnen.

Mehr Welt, mehr Wir: Renaissance der Commons-Frage

Wir sind heute herausgefordert, den Trend zur Weltschrumpfung umzukehren. Sprich, wir müssen Bedingungen für ein Mehr an Welt schaffen, das, im Sinne der Hegel‘schen „positiven Unendlichkeit“, ein Immer-Noch-Mehr an Welt ist. Mit anderen Worten: Wir müssen Bedingungen schaffen für ein unendliches Mehr jener Reichtümer der Welt, welche durch die Weiße Vorherrschaft und ihre weiße, männliche Rationalität (sowie ihre dunkle Kehrseite) gewaltsam ausgeblendet oder bekämpft worden sind. Insofern gilt es, die Anerkennung und Unterstützung jener anderen Formen des Zusammenlebens zu fördern, sowie jener anderen Affekt-Politiken, die tagein, tagaus im Schatten hegemonialer Diskurse auf der Mikro-Ebene des Kommunalen praktiziert werden. Darüber hinaus gilt es, Solidarität und Austausch mit kommunalen AkteurInnen zu fördern, die globale Dynamiken anerkennen und sie in jenen Netzwerken und Bewegungen verorten, die unsere Gesellschaften so spannungs- und konfliktreich zusammenhalten. Schließlich sind es diese AkteurInnen, die kommunale Strukturen nutzten und sie mit staatlichen und globalen Strukturen verbinden, um planetarische Herausforderungen anzugehen. Auf diese Weise kann das Zusammenspiel von kommunalen, staatlichen und globalen Lösungsansätzen gefördert und sichtbarer werden.

Eine wichtige Inspirationsquelle für dieses Anliegen ist Avery F. Gordons „The Hawthorn Archive“. Dieses beeindruckend kaleidoskopische und genresprengende Buch basiert auf Gordons in den 1990er Jahren begonnene Forschung über utopische Traditionen, die systematisch vom westlichen Kanon ausgeschlossen wurden. Organisiert in Form eines Archivs aktueller und fiktiver Erfahrungen alternativer Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, macht Gordons Buch eine Vielfalt von „unterjochtem Wissen“ (Foucault) sichtbar und aneignungsfähig. „The Hawthorn Archive“ präsentiert utopische Traditionen, die nicht von einem fernen Zukunftsort handeln, der nach den Idealen der Menschen gebaut werden müsste, sondern vom alternativen Zusammenleben und Zusammenarbeiten im Hier und Jetzt. Dabei bilden die Bewegungen, die im England des 17. Jahrhunderts für die Commons (und gegen Einhegungen) kämpften, einen zentralen Bezugspunkt für eine Vielzahl anderer Kämpfe, darunter Kämpfe für die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei in Amerika oder für die Dekolonisierung im Globalen Süden. Es versteht sich von selbst, dass diese Kämpfe immer noch stattfinden. Die Erschließung ihrer Geschichte durch die Aufrufung von Dokumenten nicht als Zeugen, sondern als Stimmen, ermöglicht es, zeitgenössische Kämpfe in einen größeren Kontext zu stellen und zu verstehen, wie man sie in der Gegenwart überhaupt erst erkennt. Schließlich finden viele der zeitgenössischen Praktiken des alternativen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens im kommunalen Alltag einfach statt, anstatt als explizit politische – um nicht zu sagen utopische – Projekte deklariert und registriert zu werden. Daher werden diese nicht deklarierten Handlungen tendenziell übersehen, wenn wir gemeinsam die Welt im Allgemeinen und die Globalisierung im Besonderen begreifen wollen. Der Reichtum an kommunaler Praxis und Imagination bleibt in den „utopischen Rändern“ verborgen, wie Gordon es ausdrückt.

Um den potenziellen Reichtum des Kommunalen im aktuellen politischen Klima zu erkunden, lohnt es, auf die 1990er Jahre zurückzublicken, also auf die offizielle Aufbruchphase des aktuellen Kapitels der Globalisierung. Vergleicht man unsere gegenwärtige Lage mit den damaligen Entwicklungen, so stellt sich die Frage, worin die Kontinuität, die Wiederholung und die Differenz besteht. Eines ist gewiss: Die inzwischen weitgehend vergessenen sozialen Bewegungen der Neunziger waren, wie wir heute auch, herausgefordert, sich an mehreren Fronten zugleich zu positionieren und dabei neue Allianzen einzugehen. So kamen sie beispielsweise nicht umhin sich gleich mehrfach antagonistisch aufzustellen – sowohl gegenüber der Globalisierungseuphorie (apropos ‘weltweiter Siegeszug des freien Marktes und der liberalen Demokratie’) als auch gegenüber der Globalisierungsphobie (siehe etwa der damals international erstarkende Rechtspopulismus oder rassistisch motivierte Anschläge auf Asylheime in Deutschland). Da soziale Bewegungen der Neunziger eine kritische Distanz zu den tendenziell ‘irrationalen’ Reaktionen auf die Globalisierung kultivierten, ermöglichte die kritische Distanz eine analytische Nüchternheit, die im aktuell ausgesprochen ‘irrational’ aufgeheizten Klima als Werkzeug ausgesprochen hilfreich sein dürfte. Insofern könnten die kritischen Bewegungen der Neunziger als verschüttete Werkzeugkästen betrachtet werden, die es in diesem historischen Moment auszugraben gilt. Wir könnten sie auf die Frage hin inspizieren, wie sie zukunftsweisende politische Praktiken ermöglicht haben, allen voran das Revival der Commons-Praxis, also die kommunale Selbstverwaltung von Ressourcen und Lebensgrundlagen, die im Zuge der entfesselten Globalisierung im zunehmenden Maße zerstört oder eingehegt, sprich: privatisiert werden.

Rund um die Commons-Frage entstanden Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, die lokal und global zugleich waren – kein Wunder, schließlich sprechen wir hier von Bewegungen der frühen Internet-Ära. So konnten kommunale Kooperationsformen grenzübergreifend praktiziert werden, ganz im Geiste der von der Aktivistin und Wissenschaftlerin Angela Davis so genannten “hyper-empathy” – einer Empathie, die Solidarität über die Grenzen und Beschränkungen des Nationalstaats hinaus ermöglicht.

Im Zuge dessen entstanden Allianzen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden sowie zwischen dem Westen und dem Osten. Ersteres etwa im Falle von Bewegungen so unterschiedlich wie Zapatismus, Kein Mensch ist Illegal oder Afrofuturismus, letzteres etwa im Falle des Netzaktivismus oder Cyberfeminismus. Dabei konnte nicht zuletzt das Zusammenspiel von kommunalen, staatlichen und globalen Strukturen zukunftsweisend erprobt werden. Ein besonders schillerndes Beispiel dafür sind die Zapatisten. Um Lebensgrundlagen kommunal zu organisieren, beanspruchten die Zapatisten regionale Autonomie, appellierten an den Rechtsstaat und knüpften internationale Solidaritätsnetzwerke – all das im Schatten von und im Widerstand zu der räuberischen Expansion privatwirtschaftlicher und staatlicher Global Player.

Jenseits von nostalgischer Verklärung sollten wir diese an den utopischen Rändern verborgenen Ansätze sichtbar machen und dabei das unterjochte Wissen des Kommunalen freilegen, um es nach seiner Brauchbarkeit für die heutige Lage zu befragen: Wie haben die sozialen Bewegungen der 1990er das Kommunale und, allgemeiner gesprochen, das Wir modelliert? Welche Lektionen bieten sie für heutige (planetarische) Herausforderungen im Konnex von Kilmawandel, Migration und Digitalisierung? Was können wir von ihren Misserfolgen lernen?

Open Call for Contributions: Das MORE WORLD-Projekt lädt ein, gemeinsam kommunale Werkzeuge für planetarische Herausforderungen zu untersuchen. Wir spüren aktuell eine große Dringlichkeit, alle möglichen Fallstudien sowie kleine und große Beispiele der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dafür schaffen wir innerhalb unserer Internetzeitung berlinergazette.de einen eigenen Bereich: ein offenes Forum für ForscherInnen, AktivistInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen, KulturarbeiterInnen, ProgrammiererInnen, etc. Sie und alle denkbaren WissensproduzentInnen sowie ExpertInnen des Alltags sind eingeladen Beiträge im Umfang von 10.000 Zeichen zum MORE WORLD-Themenschwerpunkt beizutragen: Essay, Berichte, Interviews, etc. Die Deadline: 29. April 2019. Einreichungen unter: info(at)berlinergazette.de

Events: Das MORE WORLD-Projekt wird mit zwei Veranstaltungen lanciert. Zuerst ein Event am 24. Januar um 19 Uhr mit der Soziologin und Schriftstellerin Avery F. Gordon. Mehr Infos hier. Daraufhin wird am 3. Februar um 13 Uhr ein Event im Rahmen der transmediale im Haus der Kulturen der Welt stattfinden, darunter mit der Menschenrechtlerin Abiol Lual Deng, dem Performancekünstler Alexander Karschnia und der Journalistin Magdalena Taube. Mehr Infos hier. Höhepunkt des Projekts ist die Berliner Gazette-Jahreskonferenz, die vom 10.-12.10.2019 im Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) stattfinden soll. Save the Date! Mehr Infos zur BG-Jahreskonferenz hier: https://more-world.berlinergazette.de

2 Kommentare zu “MORE WORLD: Berliner Gazette Jahresprojekt zu Klimawandel als globale Herausforderung

  1. Rund zwei Millionen Jahre lang war der CO2-Ausstoß der Erde stabil. Dann, vor gut 200 Jahren, begann der Mensch, Maschinen nicht mehr durch Muskelkraft, Wind oder Wasser anzutreiben, sondern durch Verbrennung. Schuld am Klimawandel ist der Mensch! Seither hat sich der CO2-Ausstoß erhöht – und mit ihm die Temperatur der Erdoberfläche um durchschnittlich 0,8 Grad Celsius. Das klingt wenig, ist aber genug, um unseren Planeten durcheinanderzubringen!

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.