Mit Leib und Laptop

Der Unterschied zwischen lernen und sich bilden besteht fuer mich im Tempo der Aufnahme neuer Informationen. Lernen ist schnell, ploetzlich. Sich bilden bedeutet ueber lange Zeit etwas reifen zu lassen, es dringt durch andere Kanaele ein und schafft eine gewisse Selbstgewissheit und Gelassenheit mit sich in der Welt. Als ich in San Francisco in unserem Tanzstudio auf dem Boden lag und eine Gast-Professorin uns durch unsere Anatomie sprach und ich mein Steissbein lokalisieren konnte, wurde mir der Unterschied zwischen lernen und sich bilden bewusst. Wir versuchten das schon eine ganze Weile und endlich gelang es, das Ende meiner Wirbelsaeule zu orten. Seitdem tanze und bewege ich mich anders und weiss um die wirkliche Mitte meines Koerpers.

Von da an bin ich mit einer groesseren Gelassenheit an alle Dinge herangegangen. Es gibt einfach mehr, als wir rational erfassen koennen. Diese Bereitschaft, Dinge nicht zu kontrollieren und bewusst herbeizufuehren, sondern sich auf etwas Ungewisses, nicht Beweisbares einzulassen, waechst immer mehr und wird sicher auch nicht enden, es ist ein offener Prozess in fliessenden Kurven. Dieses grundlegende Vertrauen zu mir als eine Einheit von Koerper, Geist und Seele uebertraegt sich in meiner Arbeit mit meinen Kollegen, Studenten aber auch privat zu meiner Familie, meinen Kindern und meinen Freunden. Das Koerperwissen, dass nun ueber Jahre gewachsen ist, trage ich in mir und gebe es in Workshops an andere weiter.

In meiner Arbeit als Choreographin arbeite ich neben dem Einsatz verschiedener Tanztechniken viel mit inneren Bildern, Erinnerungen, die im Koerper gespeichert sind. Das innere Selbst und seine Bewegung wird aktiviert und erzeugt die aeussere Bewegung. Beispielsweise bei unserer Tanzoper RITUALE befragte ich die beteiligten Kuenstler nach ihren eigenen persoenlichen Ritualen und band diese in das Stueck ein. Diese Rituale wiederum hatten stark mit Kindheitspraegungen zu tun oder hatten einen sehr physischen Bezug.

Da in der Tanzoper auch die Saenger und Musiker in die Choreographie eingebunden sind, performen diese in einigen Szenen wie beispielsweise in einer Prozession oder sitzend an einem Lagerfeuer. Hier ist die Praesenz der Koerper sehr gefragt. Es gibt fliessende Grenzen zwischen Festgelegtem und Improvisation.

In den Proben haben wir neben einem handfesten Training auch Koerperarbeit, also Body Mind Centering [BMC] praktiziert. Das ist eine bewegungsorientierte Bewusstseinstechnik, die diesen Prozess der Oeffnung und Praesenz sehr unterstuetzt. BMC hat zwei Hauptrichtungen: einerseits die Untersuchung von Bewegungsentwicklung beziehungsweise Bewegungsmustern, andererseits das Studium verschiedener Koerpersysteme wie Knochen, Muskeln, Nerven etc. Es ist ein erfahrungsbetontes Studium, das auf anatomischen, physiologischen, psychologischen und entwicklungsgeschichtlichen Prinzipien basiert. Die Arbeit damit ist erfrischend, lustvoll und spielerisch und schafft in Gruppen grosses Vertrauen, zum eigenen Koerper, aber auch zu den anderen.

Die in Deutschland ueberschaeumende Bildungsdebatte, die das Hirn fokussiert, laesst extrem viel ausser Acht. Zum Beispiel den Bezug zu sich selbst, zum eigenen Koerper, die Gewissheit: Ich bin in der Welt mit meinem atmenden, fuehlenden Koerper. Oft wissen die Menschen wie viele Laptos, Tische, Schraenke sie besitzen aber nicht, wie viele Knochen sie in sich tragen. Bildung bewirkt Idenditaet, auch ueber und durch den Koerper.

Ich arbeite in sehr verschiedenen Kontexten, so fuellt sich mein Tag mit diversen Bildungserlebnissen wie z.B. mit Studenten der Malerei an der Hochschule fuer Grafik- und Buchkunst Leipzig; Studenten der Burg Giebichenstein, die an einer Performance arbeiten; meine eigenen Produktionen, die mich mit unterschiedlichen Generationen von Taenzern zusammenfuehren oder in einer kommenden, wo ich wieder mit Saengern, Instrumentalisten und Taenzern arbeiten werde.

In der Vorbereitung eines neuen Werkes spielt die Recherche im Internet natuerlich eine Rolle, ich begebe mich auch oft in Bibliotheken und lese oder gehe in Museen und betrachte beispielsweise die Maria Gottesmutter. Die neue Produktion wagt sich an die Ikone und gleichzeitige Leiblichkeit dieser Frau heran, im Juni 2010 wird die Premiere sein: Maria XXX zu den Haendelfestspielen Halle. [Anm. d. Red.: Die Verfasserin des Textes ist Choreografin, sie lebt und arbeitet in Leipzig.]

4 Kommentare zu “Mit Leib und Laptop

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