Minusvisionen

1968 erscheinen die >Bottroper Protokolle< in der Edition Suhrkamp. Arbeiter, Angestellte, aber auch ein Pfarrer und ein Beat-Saenger schildern ihren von einer Zeche und deren Stillegung gepraegten Alltag.

Martin Walser steuert ein dreiseitiges Vorwort bei. Auf dem Umschlag steht sein Name genauso gross wie der der Verfasserin des restlichen Buches, Erika Runge. Walser schreibt passend: >Alle Literatur ist buergerlich. […] Arbeiter kommen in ihr vor wie Gaensebluemchen, Aegypter, Sonnenstaub, Kreuzritter und Kondensstreifen. Arbeiter kommen in ihr vor. Mehr nicht.< Er schraenkt zwar ein: >Bei uns<, aber sagt nicht, wo es anders ist. Ob etwa in der DDR, wo man den >Zirkel schreibender Arbeiter< gruendet. Solche Zirkel mag es auch im Westen geben, doch der Erfolg der Bottroper Protokolle ist ueberwaeltigend. Die ganzen siebziger Jahre durch findet das Buch hohen Absatz. 1976 geht die Auflage in die zweiten Hunderttausend. Protokolle werden zur literarischen Mode, auch in der DDR. Befragt das polizeiliche Protokoll unter Zwang den vermutlichen Taeter, so kommen im zivilen Protokoll freiwillig die Opfer zu Wort. Behinderte, Lehrlinge, Alte, Auslaender, Drogensuechtige oder Frauen man leiht den sozial Schwachen gerne eine Stimme, keinen Stift. Reden koennen sie, Schreiben muessten sie noch lernen. Aber wenn sie erst schreiben koennten, wuerde sie das von den reinen Opfern unterscheiden: sie wuerden sich buergerlicher Kunstgriffe bedienen, und ihre Stimme waere nicht mehr authentisch als Ausdruck eines vom buergerlichen Autor bestimmten massenhaften Phaenomens. Erika Runge bekennt spaeter: >Ich habe die Aussagen der Bottroper nach meinen Vorstellungen verwendet, habe sie benutzt wie Bausteine, ohne zu fragen, ob die Erzaehler mit dem Ergebnis einverstanden sind. Sie haben weder ueber Auswahl noch Anordnung noch ueber die Sprachweise der Veroeffentlichung mitbestimmt.< Doch erst als mit Christiane F. ein Protokoll zu internationaler Prominenz fuehrt, erkennt die Kritik, dass Verfaelschungen nicht nur ideologisch wirken, sondern konkrete Leben betreffen. Nur haette Christiane F. die genaue Wiedergabe des Gesagten weniger geschadet? Wohl hoechstens insoweit, als dass das Buch unleserlicher und damit auch weniger erfolgreich gewesen waere. Dafuer haette es aber auch genuegt, mit dem Stoff noch ein paar Jahre zu warten. Heroin und Benachteiligung schockieren nicht mehr. Erst in den 1990er Jahren findet das Protokoll neue Popularitaet. Nun gibt man mit ihm gerade denen, die ohnehin permanent im Rampenlicht stehen, auch noch eine literarische Stimme. Interviews mit Prominenten werden in kostenlose Textbeitraege von Prominenten umgeschrieben, unter die man verschaemt das Woertchen Protokoll und den Namen des eigentlichen Verfassers plaziert. Das ist unauthorisiertes Ghostwriting und die Originalstimme kaum zu erkennen. Nun mag das, was die meisten erzaehlen, nicht dicht und interessant genug sein, um einfach abgedruckt zu werden. Stars moegen zwar ein spannendes Leben fuehren, aber sie verhalten sich in Interviews nicht anders als in einem polizeilichen Verhoer und geben nur eingespielte Versatzstuecke von Individualitaet preis. Aber es geht auch anders. Ein entscheidendes Leseerlebnis ist fuer mich >Ich<, die Autobiographie des Schauspielers Helmut Berger. Man merkt ihr an, wie eng sie sich an die Mitschnitte haelt, interessante Reste werden irgendwie in die Kapitel gestopft. Trotzdem ist das Buch ein grosses Vergnuegen. Helmut Berger ist so frei in seinen Erzaehlungen, wie er Koennen, Geld und Ruhm hat wieder fahren lassen: weil er sich ganz in ihnen verlor. Ich bin mir sicher mich an ein eigenes, leider ohne Aufnahmegeraet gefuehrtes Gespraech mit ihm erinnernd , sein Buch waere ein noch viel groesseres Vergnuegen, wenn die Ghostwriterin sich noch mehr zurueckgenommen und auf Formulierungshilfen ganz verzichtet haette. Sie konnte in dem Wettstreit der Eitelkeiten nur verlieren. Fuer meinen jetzt in der Edition Suhrkamp erschienenen Protokollband interviewte ich gescheiterte Unternehmer. Sie haben genug gewagt und verloren, von dem sie spannend erzaehlen koennen ohne zwingend persoenlich zu werden. Alle von mir Interviewten sind weder unfaehig noch zu beschaeftigt, sich schriftlich zu aeussern, einige schreiben professionell. Von ihrer Rede ein Protokoll zu erarbeiten, sollte nicht nur als >Aussage von< interessant sein, sondern in der persoenlichen muendlichen Rede. Als ich anfing, das Gesagte zu tippen, wurde deutlich, wie wenig die freie Rede dem aehnelt, auf das man sich in zeitgenoessischen Romanen und Artikeln als >natuerlichen Ton< eingeschworen hat. Ihre Protokolle zu lesen, war dann fuer viele wie ein erster Blick in den Spiegel oder ein erstes Sich-selber-hoeren. Man moechte diese Erscheinung sofort aendern und ist von ihr nichts kommt einem so aehnlich ­ zugleich seltsam angezogen. Es bedurfte einiger Geduld, bis ich es in allen Protokollen bei der Korrektur von Sachfehlern, Missverstaendlichkeiten und grammatikalischen Fehlern belassen durfte. Andererseits hakte ich zwar nach, aber bestritt nicht. Ich wollte ganz dem erzaehlten Ablauf folgen.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.