Ein Zusammenfluss von Strömen

Die Wasserwelt von heute ist eine Welt des ständigen Fließens. Das Zusammenleben der Menschen ist ein Zusammenfluss von Strömen. Wie lässt sich dieser Zustand beschreiben? Wie kann man ihn intellektuell erfassen? Antworten auf diese Fragen finden sich bei Michel Serres, einem 1930 in Agen, Frankreich, geborenen Philosophen, der im Juli nach Berlin kommt.

Es gibt keine tabula rasa. Der Raum ist nicht leer. Doch spätestens seit dem 18. Jahrhundert wollen bürgerliche Individuen des alten Europa sich – besoffen von eigener Subjektrelevanz – allzu gerne als einzig relevante Körper begreifen: Körper, die diesen Namen verdienen.

Doch die gesamte erreichbare und für menschliche Kreaturen lebbare Welt ist ein Ineinanderfließen von Körpern ohne eindeutige Außengrenzen. Lebende Wesen sind löcherig, sprich: porös. Unaufhörlich dringt Schweiß aus uns heraus, verlassen Gerüche unsere Poren und dringen Dämpfe und Gase, Kleinstlebewesen und Schwebeteilchen, feinste Stäube in uns ein.

Nicht nur die bekannten Körperöffnungen organisieren den Kommerz zwischen Innen und Außen: Unser gesamter Körper ist in permanenter Austauschbewegung zur sogenannten “Umwelt”, die richtiger wohl “Inwelt” genannt werden sollte: Die Welt darin sind wir.

Diese Welt ist eine Welt der Flüssigkeiten und Gewässer, der Ströme und Flüsse, der Mischungen und Gemenge. Wo sie enden, ist kein Leben mehr möglich. Der reine Raum, die reinen Substanzen sind menschenfeindlich. Wüsten. Gasplaneten. Monde in Permafrost. Wie können wir aber eine wirre Gemengelage der Ströme erzählen und verstehen?

Das Denken in Strömen

Michel Serres, der französische Mathematiker, Wissenschafts- historiker und sogenannt unsterbliches Mitglied der Académie française, hat zu Beginn der 1990er versucht eine Antwort darauf zu geben. Was Serres vorschwebt: Keine Analyse, keine Auflösung in vermeintlich rein(gemachte) Ursubstanzen sucht Serres, sondern ein Beziehungsgeflecht, das dynamisch zusammenfließt: eine Syrrhese.

In Aufklärungen: Gespräche mit Bruno Latour (2009 bei Merve erschienen), sagt Serres es wie folgt: “Was ich zu formen, zusammenzusetzen zu fördern suche – ich finde nicht das richtige Wort –, ist eine Syrrhese und nicht ein System, ein mobiler Zusammenfluss von Strömen. Turbulenzen, Tiefdruckgebiete, die sich über Hochdruckgebiete schieben, wie auf der Wetterkarte, Knoten aus Stroh. Ein Beziehungsgeflecht.”

Am 30. und 31. Juli, gegen Ende unseres Sommerseminars Liquid Writing, führt Michel Serres im Rahmen des Festivals Wassermusik 2010 am Haus der Kulturen diverse Sommergespräche – und wir arbeiten gerade daran, dieses Highlight (so wie auch andere kongeniale Programmpunkte des Wassermusikfestivals) in die Module des Seminars einzubauen. Eine ideale Ergänzung, oder?

In solchen Räumen, die zusammenfließen, fahren, leben und schreiben wir – schreibe ich auch diesen Text: Während diskretes Klackern der gefederten Tastatur die Anzeige dieser Buchstaben begleitet, knattert vor meinem Haus der Presslufthammer, um Schienen der Trambahn freizulegen. Von nebenan ertönt derweil mit 230 Hertz der ewige Drone der Fußballtröten.

21 Kommentare zu “Ein Zusammenfluss von Strömen

  1. Ich muss daran denken, dass die ganze Welt aus Grenzen, Zäunen, und anderen Vorrichtungen besteht, um genau das zu verhindern, was Sie das Zusammenfließen nennen.

  2. Das ist unheimlich inspirierend, vielen Dank! Ich kannte Michel Serres noch gar nicht, und bin sehr dankbar für diesen Hinweis auf diesen Philosophen, wie mir scheint, nicht nur passend zu diesem Sommer, kompatibel auch mit anderen Jahreszeiten :)

  3. Vom Rafting-Kurs bis zur kombinierten Boots- und Velotour reicht das große Wasserfestival „L’Eau en Fête“

    ( http://lafetedeleau.free.fr )

    Es startet an diesem Wochenende im Südelsass. Sechs Wochen lang wird ein vielfältiges Programm geboten.
    Schönen Gruss! Mirka

  4. Das erinnert alles ein wenig an Jean-Luc Nancy, der in diesem Organ ja auch schon über Fluides und Soziales schrieb:

    “Die Welt, eine Welt im Allgemeinen, ist im Wesentlichen fluessig, das heisst, dass sie zur Vermischung einlaedt, sowie zum Getuemmel, zum Fliessen, zum Tauchen und zum Ertrinken, aber auch zur Navigation, eben in dieser bestimmten Art, sich zu bewegen, sich Stroemungen und Winden hingebend sowie ihren Appellen zur Geschmeidigkeit und Gehorsam.”

    ( http://berlinergazette.de/das-liegende-auge )

    Er sagt aber auch an selber Stelle:

    “Die originaeren Welten sind in einer gewissen Weise immer >fluessig<: beispielsweise die grossen Wuesten, die grossen Steppen, die grossen Waelder sind Spielarten des Meeres, des Ozeans, des fluessigen, beweglichen, wellenfoermigen Milieus."

    Was ja der These widerspräche, Wüsten seien "menschenfeindlich".

    Oder?

  5. Umwelt als Inwelt denken. Das finde ich sehr spannend. Danke für den Beitrag!

  6. Ich mag das Twitter-Widget, das sekündlich neue Wassernachrichten aus aller Welt bringt. Die Tweets tröpfeln so aus dem Nichts und verschwinden im Nichts. Fluide.

  7. @zk Serres und Nancy bemühen sich zwar beide um ein Denken, das routinierte Kategorien in Richtung auf erfahrbare Körperlichkeit und spürbare Materialität hin überschreitet; doch beide gehören durchaus zu unterschiedlichen Generationen und Denkschulen:

    Nancy ist im strengeren Sinne Philosoph und Philologe, also auf der Suche nach reinen Aussagen und Begriffen – während Serres (auch berufsbiographisch) streng genommen kaum einem einzelnen Fach der >Humanities< zuzuordnen ist, er bewegt sich zwischen Kreuzungen, Mischungen und Hybriden und lehnt vor allem Reinheiten und kategoriale Absolutheiten ab.

    Zur Menschenfeindlichkeit der Wüsten: ein Selbstversuch in der Empirie der Wüsten brächte hier mit Sicherheit einiges an sensorisch und körperlich spürbarer Aufklärung. ;)

    Als Philosoph überträgt Nancy darum allein die Metapher – nicht die stets gemischte Erfahrungstatsache! – des Flüssigen auf den wiederum allein begrifflich-topographisch reinen Fall der Wüste.

    Auch er würde sich allerdings kaum zu der Behauptung versteigen, die empirischen Wüsten wären deshalb in jeder Hinsicht identisch mit Flüssigkeiten und nicht mehr menschenfeindlich.

    *

    @solfrank Auch hier gilt: ein Selbstversuch in der Empirie des Mondes brächte sicherlich einiges an sensorisch und körperlich spürbarer Aufklärung. ;)

    Gegenfrage: Wenn tatsächlich einmal (in einigen Jahrhunderten vielleicht? wie sähe dann aber wohl die Erde aus?) der Mond terraformt worden wäre, verließe er dann nicht die bisherige Kategorie des Mondes – und wäre eher ein Erden-Beiboot? Ein Mini-Erdenklon?

  8. @Holger: der Mond wäre nicht mehr der Mond, wenn er plötzlich sich so verändern würde, wie Du es beschreibst. Nur würden wir ihn dann anders nennen? Würden wir dann tatsächlich alle aufbrechen dorthin? und ihn besiedeln?

    Umgekehrt müsste man vielleicht fragen: Ist die Erde noch die Erde, wenn sie sich, wie heute, so stark verändert? Sollten wir sie anders nennen? Und ihre Menschenfreundlichkeit in Frage stellen?

  9. @solfrank: Entschuldigung, wie kann es hier um die Menschenfeindlichkeit eines Planeten gehen, der von Menschen gemacht wird bzw. dessen Menschenfeindlichkeit von Menschen gemacht wird? Das gilt sowohl für Mond als auch Erde..

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