Mein schwarzer Mai in Bangkok

Erbarmungsloser Straßenkampf zwischen regierungskritischen Demonstranten und schwerbewaffneten Militärs – die aktuellen Bilder vom Bürgerkrieg in Bangkok rufen Erinnerungen an den Black May von 1992 wach. Ich hielt mich damals in der Khaosan Road auf, jener weltberühmten Anlaufstelle für Rucksacktouristen. Plötzlich fielen Schüsse im Paradies.

An jenem Tag im Mai zu Beginn der 1990er war die Stimmung in der Khaosan Road im Grunde wie immer: Es waren 40 Grad im Schatten; in den Bars war der muskelgestählte Körper von Sylvester Stallone zu sehen; die Individualtouristen schlürften genüsslich an ihren Drinks. Doch etwas war anders. Seit Mittag waren immer wieder Schüsse zu hören, die nicht aus den Fernsehlautsprechern der Bars kamen.

Mobile Phone Mob

In der weitläufig-mehrspurigen Hauptverkehrsstraße, die parallel zur Khaosan Road verläuft, hatten sich mehrere hunderttausend Menschen versammelt. Es waren großenteils Studenten und arbeitstätige Vertreter der Mittelklasse.

Diese vermeintlich unkontrollierbare Menschenmasse, die als der “mobile phone mob” in die Geschichte eingegangen ist, sollte von einer stattlichen Anzahl Soldaten in Zaum gehalten werden. Uniformierte Soldaten, die wie für einen Kriegseinsatz bewaffnet waren. Um die Menge einzuschüchtern, schossen sie wiederholt in die Luft.

Nach Sonnenuntergang spitzte sich die Situation zu. Den Schüssen folgten immer längere Phasen von Tumult und Aufruhr. Pausenlos waren Schreie zu hören. All dies waren Anzeichen dafür, dass die Drohkulisse aus den Fugen geraten war.

Bedrohlicher Karneval?

Zu allem Überfluss standen auf der Hauptverkehrsstraße plötzlich ungefähr zehn entführte Linienbusse parallel nebeneinander und bildeten eine Art Straßenbarrikade. Auf den Fahrzeugen befanden sich Demonstranten mit Transparenten und Percussion-Instrumenten.

Alles sah ein bisschen nach Karneval aus – sie tanzten wild und machten einen Heidenlärm –, doch der Rundumblick lieferte ein weniger feierliches Bild. Die Menschenmenge auf der Straße vermochte es nicht mehr geschlossen aufzutreten, mit jedem Moment drohte sie mehr und mehr zu zerklüften.

Einzelne und kleine Gruppen rannten ziellos durcheinander, schienen sich in die Seitengassen flüchten zu wollen. Ihre Bemühungen wurden von einem Kugelhagel begleitet, der seinen Charakter unmissverständlich geändert hatte. Die Soldaten hielten ihre Waffen nicht mehr gen Himmel, sondern horizontal. Blindlings schossen sie in die Menge hinein.

Nachrichten aus dem Aufstand

Ein holländischer Individualtourist, der in der Khaosan Road untergekommen war, hatte das Treiben schon eine ganze Weile aus sicherer Entfernung vom Straßenrand aus beobachtet. Als sich der Kugelhagel zu verdichten begann, rannte er samt seiner professionellen Kameraausrüstung los. Auch ich konnte nicht mehr stillstehen. Gemeinsam versuchten wir auf die andere Seite der Hauptstraße zu gelangen.

Nach 100 Metern Sprint brach ein Verwundeter vor uns zusammen, den mein holländischer Begleiter rasch fotografierte: eine klaffende Kopfwunde, schräg hinter uns die Busse, auf denen noch immer die Demonstranten wild trommelten, ihre Sprechchöre herausschrien und mit den selbstgemachten Transparenten wedelten.

Auf der anderen Straßenseite angekommen, hatte nur ein Vier-Sterne-Hotel seine Türen geöffnet. Es war in eine Krankenstation umfunktioniert worden, in der nicht nur Verwundete auf Bahren lagen. Auch Journalisten hatten sich dort eingenistet. In Windeseile hatten sie dort eine Art Medienzentrum errichtet.

An beiden Enden der Welt

“Seit Wochen beobachten wir die Situation in Bangkok. An diesem Wochenende ist der Konflikt eskaliert”, wie uns ein junger Asiate mit einem Reuters-T-Shirt zu verstehen gab. “Seit Wochen schon demonstrieren die Thais gegen die Regierung. Weil das Militär die Macht zu institutionalisieren versucht, die es vor einem Jahr mit einem coup d’état an sich gerissen hat.”

Im Pressezentrum sickerten auch Nachrichten vom anderen Ende der Welt durch: “In L.A. toben noch immer die riots.” Ich wusste, dass mein Freund Klaas zu diesem Zeitpunkt dort war, am liebsten hätte ich ihn angerufen. Doch die L.A.-Bangkok-Connection konnte nicht aufgebaut werden. So weit war das Netz damals noch nicht.

Am nächsten Morgen war es in der Khaosan Road unmöglich ein Taxi zu finden. Der ganze Bezirk, der einem einzigen Schlachtfeld glich, war abgeriegelt. Überall gab es Straßensperren. Es führte kein Weg hinaus. Für einen Moment waren die internationalen Bewohner des Hippie-Paradieses in ihrem eigenen Traum gefangen.

(Anm.d.Red.: Der Verfasser dieses Beitrags ist Autor des Buchs Abschalten. Paradiesproduktion, Massentourismus und Globalisierung.)

15 Kommentare zu “Mein schwarzer Mai in Bangkok

  1. wirklich erschreckend und danke für den persönlichen Zugang zu Geschichte. Eine Sache, die ich nicht ganz verstanden habe: Was hat es mit dem Körper von Sylvester Stallone auf sich?

  2. Stallone? Allgemeines Vorbild auch thailändischen Machokörperkultes, ausserdem wurden einige Dschungelteile der Rambofilme traditionell in Thailand gedreht, als Vietnam Ersatz…also: “support your local anabolica hero”!

  3. @Silvia & Joerg: Sylvester Stallone war in praktisch jeder Bar zu sehen, weil die Touristen-Bars alle pausenlos irgendwelche Videos gezeigt haben und meistens eben RAMBO aus Gründen, die Joerg Offer nahelegt. Wir waren es gewohnt Schüsse zu hören, Krieg war in der Khaosan Road Video-Alltag, deshalb hat es wahrscheinlich erstmal ein wenig gedauert, bis man realisierte, dass es wirklich knallt.

  4. In letzter Zeit sind sie sehr um Aktualität bemüht, nicht wahr? Gefällt mir nicht so sehr! Dafür gibts doch andere Plattformen, mit Verlaub!

  5. @rainer: Die Aktualität dieses Texts ist nicht sein Nachrichtengehalt, nicht sein Wiedergeben des Jetzt, sondern die Aktualität von Erinnerungen: für ersteres gibt es in der Tat Plattformen, für Letzteres nicht. Außer vielleicht private Blogs…

  6. @rainer und @krystian: ich sehe kein bemühen um aktualität darin, einen text von vor 15 jahren zu bringen. darin sehe ich ein bemühen vielleicht um diskursanalyse. wenn hier das medium um aktualität bemüht wäre, dann hätte dieser text ja auch schon viel früher kommen können/müssen, oder?

  7. @Krystian Was zog Dich in die Gefahr? “…Als sich der Kugelhagel zu verdichten begann, rannte er samt seiner professionellen Kameraausrüstung los. Auch ich konnte nicht mehr stillstehen. Gemeinsam versuchten wir auf die andere Seite der Hauptstraße zu gelangen…” Grüße Christian

  8. @Christian: Die Gefahr macht nervös, man macht irrationale Dinge, das wäre vielleicht eine Erklärung, eine andere: auf der anderen Straßenseite schien es sicherer zu sein, vielleicht war es einfach nur Neugier. Eines ist sicher: Wo wir am Anfang der Situation standen, waren wir nur wenige Meter entfernt von dem Hotel, dort war jedoch an Schlafen nicht zu denken, der Kugelhagel war zu laut.

  9. Rainer meinte sicher nicht nur diesen Text, sondern die Texte der letzten Wochen. Eine algemeine Tendenz schneller zu werden. So habe ich ihn verstanden.

  10. @Ramirez: Schneller? Wie ist das gemeint? Diesen Text hier habe ich vor Jahren geschrieben. Der Zeitpunkt, ihn zu veröffentlichen, war offenbar gekommen.

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