Mein persoenlicher Spielball

Als am 7. Dezember 1972 das “Blue Marble”-Foto entstand – jenes ikonische Bild der Erdkugel als Murmel im Weltraum – war ich sieben Monate und vier Tage alt und lebte in einem polnischen Dorf an der Grenze zur ehemaligen DDR. Das Dorf verfuegt zwar ueber einen recht umfassenden Wikipedia-Eintrag, aber damals und vermutlich auch heute ueber kein Krankenhaus – ich kam in der naechstgelegenen Kleinstadt zur Welt. Immerhin war Ullersdorf, so der deutschsprachige Name meines Dorfs, mit Elektrizitaet und Fernsehen ausgestattet. Ostblockfernsehen, versteht sich. Vermutlich gab es auch Zeitungen und Magazine. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Bekam ich den Hype um das >Blue Marble<-Motiv in meiner Kindheit deshalb nicht mit, weil ich abgeschnitten von den Datenstroemen der westlichen Globalisierung lebte und damit auch abgeschnitten von Bildern, welche die Errungenschaften der westlichen Globalisierung illustrierten? Darueber kann ich heute nur spekulieren. Das praegende Medienereignis meiner Kindheit waren die Zeichentrickfilme Bolek i Lolek [>Lolek und Bolek<]. Vielleicht haben sich diese Filme deshalb so gut in meinem Gedaechtnis eingepraegt, weil ich sie auch spaeter noch, ausserhalb Polens, wiederholt zu Gesicht bekam. Das ist aber auch der Grund, warum ich anzweifeln muss, ob ich sie tatsaechlich zum ersten Mal in Polen gesehen habe. Es kann ja auch sein, dass ich spaeter einfach nur den Eindruck gewonnen habe, diese Filme waehrend meiner Kindheit gesehen zu haben. Sagte nicht Proust, Erinnerungen seien immer auch Konstruktionen? Daher belasse ich es lieber bei einer Annahme, wenn ich ueber das praegende Medienereignis meiner Kindheit spreche: Wir hatten einen Fernseher, und die Bolek i Lolek-Filme zaehlten zum Groessten und Bekanntesten, was in Polen damals im TV zu sehen war. Speziell fuer Kinder. Dementsprechend ist es lediglich eine Annahme, dass ich dem >Blue Marble<-Motiv aus technischen und ideologischen Gruenden damals nicht begegnete. Wann aber sah ich es zum ersten Mal? Vielleicht auf dem Deckblatt des Westermann-Schulatlas? Ich stelle diese Vermutung deshalb an, weil ich diesen Atlas noch immer besitze. Und somit einen historischen Beweis in den Haenden halte. Es muss irgendwann Anfang der 1980er Jahre gewesen sein, als er mir in die Haende kam. Ich besuchte zu diesem Zeitpunkt die vierte Klasse der Grundschule und lebte in Deutschland. Waehrend der Orientierungsstufe, urspruenglich eine eigene Schulform fuer die Klassenstufen fuenf und sechs, verfolgte ich neben meinen diversen Sport-Aktivitaeten unterschiedliche Interessen, die mit Sammeln und Immersion zu tun hatten. Ich guckte intensiv Fernsehen, am liebsten Filme, schnitt die bebilderten Programm-Ankuendigungen aus der TV-Zeitschrift aus und klebte sie – in thematischen Kombinationen verknuepft – auf die Seiten eines Fotoalbums. Auf diese Weise entstanden etliche Kataloge meiner persoenlichen TV-Geschichte. Ob das >Blue Marble<-Motiv dabei war? Ich kann es heute leider nicht nachvollziehen. Besagte Kataloge existieren nicht mehr. Aber die >blaue Murmel< [so die deutsche Uebersetzung von >Blue Marble<] nahm zu diesem Zeitpunkt, und das kann ich mit Gewissheit sagen, auf andere Weise einen wichtigen Platz in meinem Leben ein. Auf meinen Spaziergaengen durch die Altstadt Hannovers war ich auf ein aussergewoehnliches Geschaeft gestossen. Wie so viele Laeden in der >Altstadt< ging davon die Aura der Exklusivitaet aus. Das Sortiment war gemischt, aber erlesen. Drinnen fuehlte ich mich wie in einer Schatzkammer. Selten ging ich heraus, ohne etwas gekauft zu haben. Was dort am guenstigsten war, zog mich am staerksten in seinen Bann: Murmeln. Andernorts wurden sie in 5er- und 10er-Saeckchen verkauft, hier gab es sie nur einzeln, in unterschiedlichen Farben, Groessen, Zusammensetzungen. Zu den schoensten Exponaten zaehlte die blaue Murmel. Sie hatte ein Blau, das auf andere Welten verwies: auf Meer und Himmel, Tiefe und Weite, Schoenheit und Traum. Sie war transparent, schimmernd und bisweilen durchzogen von weissen Nebelschwaden. Ein intensiver Anblick.

In einem Schwarzweiss-Film, den ich damals im Fernsehen sah, liegt ein Junge seitlich auf dem Boden. Direkt vor seinem Kopf: Eine Murmel, die er reglos, ununterbrochen, manchmal ganze Tage lang betrachtet. Der Film besteht sicherlich nicht nur aus dieser Szene, aber es ist das einzige Bild, das sich in mein Gedaechtnis gebrannt hat. Es war ein Film ueber Autismus. Was Murmeln mit Autismus zu tun haben, werde ich damals geahnt haben, heute erfahre ich es im Internet. >Veraendert sich die gewohnte Situation< so laesst sich in einem kurzen Texten ueber den Autismus lesen, >reagieren Autisten oft heftig.< Weiter im Text: >Die Veraenderung kann die Stellung der Moebel in der Wohnung, die Ordnung der Spielsachen, oder auch die Farbe der Marmelade beim Fruehstueck sein. […] In engem Zusammenhang zur Angst vor Veraenderungen steht das grosse Interesse zu Gegenstaenden der unbelebten Welt: Lichtschalter, Murmeln, Schachteln oder aehnliches ueben grosse Faszination aus; autistische Kinder koennen sich mit diesen Gegenstaenden stundenlang beschaeftigen.< Die im Internet gut dokumentierte Geschichte der Murmel kommt ohne Bilder von Autisten aus. Neben einnehmenden Aufnahmen von besonders alten oder besonders schoenen Exponaten, wird die Geschichte mit Fotos bebildert, die [meistens] Jungs in unterschiedlichen Laendern beim Murmeln zeigen. Also bei jener Handlung, bei der das heissbegehrte Sammlerobjekt buchstaeblich aufs Spiel gesetzt wird. Denn anders als bei dem Computerspiel >Marble Madness< [oder bei seinem Nachfolger >Marble Blast<] wird der Verlierer tatsaechlich um seine eingesetzten Murmeln erleichtert. Wie beim Gluecksspiel. Anders als beim Gluecksspiel jedoch, bei man auch gegen Geld eingeloeste Spielobjekte [Chips] einsetzt, haben die Spielobjekte hier einen persoenlichen Wert. Ich glaube, ich froente beidem. Sowohl dem Murmel-Solipsismus, als auch dem gemeinsamen Spielen mit Schulkameraden. Auf dem Schulhof erlebte ich, wie aus dem Spiel bisweilen bitterer Ernst wurde, weil manch einer nicht verlieren konnte, zumindest nicht verlieren wollte, was er aufs Spiel gesetzt hatte. In Erwachsenentermini zugespitzt: Gemeinschaft und Umverteilungskampf. All das im Zeichen der Koenigskugel – der blauen Murmel. Waehrend ich diesen Text schreibe und parallel dazu weiter recherchiere, stelle ich schmunzelnd fest, dass ein Unternehmen aus Texas zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein neues, umweltfreundliches Oel-Produkt auf den Markt gebracht hat. Der Markenname: Blue Marble. Das Ikon: eine hellblaue Glasmurmel, die durch den Raum schiesst.

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