Mangel als Motor

Ich bin mir gar nicht so sicher, dass nur >abstrakte Interessen< interessant sind; ich meine, eine Gemeinschaft kann sehr wohl davon leben, dass ihre Mitglieder sehr konkrete Interessen miteinander teilen, zum Beispiel das Stillen des Hungergefuehls oder Fussball. Diese Interessen sind, wie es mir scheint, sehr konkret und sehr machtvoll, was das Zusammenhalten von Menschen angeht.

Ausserdem glaube ich, dass manchmal vielmehr als gemeinsame Interessen gerade nicht-gemeinsame Interessen eine magische Kraft auf die Zusammenkunft von Menschen ausueben koennen; wenn man also auf etwas voellig Neues stoesst, das man vielleicht anfangs ueberhaupt nicht versteht, und sofort bzw. peu a peu neugierig wird, darueber mehr zu erfahren. In solchen Situationen werden meines Erachtens die Begegnungen mit den Menschen erst relevant: nicht wenn man das Gemeinsame bestaetigt, sondern vielmehr wenn man das eventuell Gemeinsame [ewig] sucht.

Diese Strategie der ewigen Suche nach dem Gemeinsamen ist ja geradezu verdammt sozusagen, sich zu bewaehren. Denn sie setzt ganz einfach kein Gemeinsames voraus, sondern laesst es entstehen. Dabei geht man mit einer voellig anderen Grundeinstellung auf die Menschen zu, die man trifft, denn man begegnet ihnen als grundsaetzlich >fremd<.

Ich moechte noch einmal betonen, dass ich keineswegs meine, dass das Gemeinsame nicht [prae]existiert bzw. [prae]existieren kann oder seine Affirmation unerheblich ist; ich moechte bloss sagen, dass es meines Erachtens viel bedeutender ist, wenn man >das Gemeinsame< in jeder Begegnung [er]findet; dass man es nicht voraussetzt, denn dann dient das Gemeinsame zur Abgrenzung und Verschanzung.

Die Strategie der [ewigen] Suche nach dem Gemeinsamen beziehungsweise die Verweigerung einer Voraussetzung des Gemeinsamen geht aus Erfahrungen des Mangels hervor: Man sucht nach dem, was [uns] fehlt; man spuert die schreiende [und manchmal schmerzhafte] Luecke und zwar staendig. Mit Mangel ist keineswegs ein konkreter Verlust von Gemeinschaft gemeint, der voraussetzt, dass es eine utopische Zeit der Gemeinschaft existiert hat, nach der nun wieder gesucht wird. Der Mangel ist abstrakt; er ist vielmehr mit der condition humaine verbunden, die ontologisch mangelhaft ist. Der Mangel meint keineswegs, dass uns etwas Konkretes fehlt, das man irgendwann hatte; die Suche nach dem Stillen des Mangels ist niemals nostalgisch.

Vielmehr meint der Mangel einen dunklen Fleck, ein Unbehagen, das man nicht gaenzlich versteht oder erfasst, das man aber als Riss – eben als Mangel – spuert. Dieser Mangel ist der Motor aller Suche: der persoenlichen, der beruflichen, der politischen etc. Das vielleicht Wichtigste an diesem Mangel und der Suche, die er entfacht, ist, dass er nie vollstaendig zu stillen und dass sie eine ewige ist.

Ich beschaeftige mich in der Tat in dieser Zeit mit Fragen nach dem Gemeinsamen beziehungsweise der Gemeinschaft. Dabei interessiert mich ein Begriff der aesthetischen Gemeinschaft – wie sie beispielsweise das Theater zu konstituieren in der Lage ist -, die zugleich politisch ist: Wie entsteht eine solche Gemeinschaft, welche Bedingungen bringen sie hervor; wie manifestiert sie sich, wie inszeniert sie sich, wie repraesentiert sie sich. Solche Fragen, die vielmehr als das Was das Wie der Entstehung fokussieren und entsprechend nicht von dem Gemeinsamen ausgehen, das zu definieren ist, sondern eher verschiedene Formen des Miteinander voraussetzen bzw. anvisieren, sind fuer meine Arbeit von Interesse.

Die Fokussierung des Prozesses einer Entstehung des Gemeinsamen und die Vermeidung der Auseinandersetzung mit seiner Ontologie haben genau mit der Ausgangshypothese meiner Interessen zu tun, dass das Gemeinsame eben keiner Ontologie unterliegt. Es ist nichts Gegebenes, nichts Statisches, nichts Natuerliches; es ist in der Tat das Unfertige und Ungedachte, dasjenige, das immer im Zuge ist, zu entstehen oder zu sein, und das niemals vollstaendig zu erfassen ist. Das Gemeinsame ist vielmehr als die Voraussetzung, das Produkt einer Zusammenkunft.

Das einzig Gemeinsame, was, wie es mir scheint, in der Lage ist, gemeinschaftsstiftend zu agieren, ist wohl dieser Mangel, dieses Unbehagen, das – wie abstrakt auch immer – auch sehr konkrete Formen annehmen kann.

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