Man muss auch wirklich wollen

Als wir im vergangenen Fruehsommer anfingen, die transmediale.04 vorzubereiten und schon wussten, dass das Festival unter dem Motto >Fly Utopia!< laufen sollte, kam Stefan Riekeles irgendwann mit der Geschichte von Gustav Mesmer [3] aus dem Schwabenlaendle zurueck. Mesmer war durch einen ungluecklichen Zufall Ende der zwanziger Jahren in die Raeder der Psychiatrie geraten und sass ueber 35 Jahre mehr oder weniger vergessen in einer Irrenanstalt. Erst 1964 wurde er entlassen und in ein Altersheim gebracht. Dort arbeitete er mit grosser Akribie an Fluggeraeten, mit denen er zwischen den Doerfern seiner Heimat auf der Alb hin und her fliegen wollte - ein bisschen wunderlich wird er schon gewesen sein, aber das ist ja noch kein Grund fuer lebenslange Haft...

Die Fluggeraete von Mesmer sind fantastische Gebilde, primitive Holzkonstruktionen mit Stoff und Plastik ueberzogen, die man sich wie einen Rucksack auf den Oberkoerper schnallt, oder als praktischen Aufsatz auf die Lenkstange eines Fahrrads montieren kann. Auf die Frage, ob er denn jemals wirklich geflogen sei, antwortete der Erfinder und Kuenstler verschmitzt, ja, einmal habe es ihn fast 50 Meter ins Tal hinunter getragen, aber leider sei niemand dabei gewesen.

Versteht sich von selbst, dass wir uns bemueht haben, eines von Mesmers Flugfahrraedern bei der transmediale praesentieren zu koennen, was uns mit Hilfe der Gustav Mesmer Stiftung, die seinen Nachlass verwaltet, auch gelungen ist. Einen Moment lang schien es uns interessant, Mesmer den preussischen Raketenerfinder Karl Hans Jahnke als pommerschen Zwilling gegenueber zu stellen. Jahnke, dessen Zeichnungen im letzten Sommer im Kuenstlerhaus Bethanien zu sehen waren, sass von 1948 bis 1988 in einer saechsischen psychiatrischen Anstalt und hat dort Raketen und von Atomenergie betriebene Motoren entwickelt. Tausende Konstruktionszeichnungen sind erhalten geblieben, die Pappmodelle aber wurden vom Anstaltspersonal nach seinem Tod weggeworfen.

Leider hebt die Verbissenheit und Ernsthaftigkeit, mit der Jahnke an seinen Erfindungen festhielt, den Pseudo-Charakter dieser Versuche nur umso deutlicher hervor. Ihm ging es auch bei seinem >Weltraumschiff Sonnenland< nicht um die Utopie der Raumfahrt, sondern er suchte tatsaechlich nach ingenieurwissenschaftlichen Loesungen, was ihn als Utopisten natuerlich voellig disqualifiziert. Mesmer dagegen baute Flugraeder, die tatsaechlich fliegen sollten, wenn auch nur eine Handbreit hoch ueber einem schwaebischen Feldweg. Ein Traeumer, dieser >Ikarus vom Lautertal<, aber wer wenn nicht ein Traeumer koennte den Traum vom Fliegen haben? Die Ausstellung der transmediale zeigt nicht nur eigenwillige Flugzeugbauer. Zhou Hongxiang dekliniert in seiner Videoarbeit >The Red Flag Flies< die ideologischen Formeln des Maoismus im heutigen China. Kristin Lucas laesst Rock-Bands junger Frauen in Liverpool ihre Wuensche und Traeume singen. Shilpa Gupta praesentiert die bitter-suesse Utopie eines Supermarkts, in dem die Produkte des internationalen Organhandels wie Zuckerware zu erstehen sind. Und Angela Melitopoulos laesst Antonio Negri von seinen Erfahrungen an jenem ultimativ-dystopischen Ort erzaehlen: der Gefaengniszelle. Immer wieder geht es dieses Jahr um Utopien, die mit digitalen Medien und neuen Technologien verbunden werden. Das Projekt >BioLand< praesentiert die Vision eines Kaufhauses, in dem die Produkte der schoenen neuen Welt der Biotechnologie schon heute in Augenschein genommen werden koennen. Die italienische Gruppe Candida TV praktiziert extremes Lokalfernsehen, indem sie im Haus der Kulturen der Welt einen Nachbarschaftssender installiert, vergleichbar den Telestreet-Sendern, wie sie schon in Rom und Bologna ausprobiert wurden. >MobiloTopia< bringt eine internationale Gruppe von KuenstlerInnen zusammen, die die utopischen Potentiale der Mobilkommunikation [und deren Grenzen] austesten. Und in der Konferenz >Exodus< sprechen Erik Davis und Kodwo Eshun ueber Realitaetsfluchten in Popkultur und Wissenschaften. Fly Utopia! ist der Versuch, kuenstlerische Ideen fuer den Umgang mit und den Entwurf von Utopien vorzustellen. Es ist darueber hinaus der Versuch, Mut zu machen zu einem Denken, das ueber den engen Horizont des Gegebenen und des scheinbar Unumstoesslichen hinaus zu gehen wagt. Ein paar Spinner werden schon darunter sein. Hoffentlich.

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