Machtwechsel in Griechenland: Können wir in Europa jetzt Demokratie neu lernen?

Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen hat sich Griechenland für eine neue Regierung entschieden: Das Linksbündnis Syriza. Muss Europa jetzt Demokratie neu lernen? Wie kann das gehen? Von den Wahlen und ihrem Ausgang berichtet Berliner Gazette-Autor Florian Schmitz aus Thessaloniki.

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Alexis Tsipras und sein Linksbündnis Syriza verpassen mit 36,34% nur knapp die absolute Mehrheit. Die konservative Partei Nea Dimokratia vom amtierenden Ministerpräsidenten Antonis Samaras schafft es auf nur 27,81%. Abgeschlagen erreicht die sozialdemokratische PASOK von Außenminister Venizelos 4,68% und gehört somit zu den großen Verlierern dieser Wahl. Die faschistische Goldene Morgenröte ist drittstärkste Kraft. Wahlbeteiligung lag laut der Tageszeitung Kathimerini bei knapp 63%.

Den ganzen Tag war es ruhig im traditionell konservativen Thessaloniki. Auch am Abend auf dem Aristoteles-Platz, direkt gegenüber der örtlichen Syriza-Parteizentrale, versammelten sich nur wenige Menschen, um den historischen Wahlsieg zu feiern. Zum ersten mal nach der Militärdiktatur wird ein Ministerpräsident weder von Nea Dimokratia, noch von PASOK gestellt. Doch auf den zukünftigen Regierungschef warten große Aufgaben, die nicht zuletzt an freizügige Wahlversprechen geknüpft sind. Alexis Tsipras versichert, der rigorosen Sparpolitik ein Ende zu setzen. Er fordert einen Schuldenschnitt von der Europäischen Union und will das Land auf einen sozial gerechteren Kurs bringen. Doch trotz des Ergebnisses sind viele Griechen skeptisch.

Das Vertrauen der Hellenen in ihre Politiker ist auf einem historischen Tiefstand. Und obwohl viele einen Regierungswechsel begrüßen, bleibt der Zweifel, ob sich das Blatt wirklich wenden wird. „Wir brauchen vor allem einen Mentalitätswechsel,“ moniert ein 20-jähriger arbeitsloser Universitätsabsolvent. “Ich glaube nicht, dass sich wirklich etwas ändern wird. Schlimmer wird es wohl nicht, aber auch nicht besser.” Anders sieht dies ein junges Paar, beide 33, die das Land unter Samaras auf dem richtigen Weg gesehen haben. Sie halten die Neuwahlen für einen Fehler. “Es wäre eine Katastrophe, wenn Tsipras wirklich Ministerpräsident würde”, sagt die junge Frau, knapp eine Stunde vor Schließung der Wahllokale.

Griechenland stagniert im Krisenmodus

Dabei aber sind die Erfolge, die Samaras für sich verbuchen kann, mehr als dürftig. Das griechische Steuersystem ist vor allem eins: unzuverlässig. Wie am Fließband hatte die große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten ein Steuergesetz nach dem anderen erlassen, wobei die Einkommen von besserverdienenden Griechen, die tendenziell konservativ wählen, gerne geschont wurden. Das griechische Finanzamt ist nach den Entlassungswellen derzeit so unterbesetzt, dass es kaum möglich ist, Steuererklärungen zeitnah zu bearbeiten, oder, gerade in schwierigen Fällen, Steuern einzutreiben. Auf der anderen Seite warten Unternehmen oft Jahre auf die Rückerstattung der Umsatzsteuer.

Die Arbeitslosigkeit liegt stabil bei ca. 27%, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 60%, Tendenz steigend. Der Mindestlohn beträgt 3,35 Euro, wobei ein Liter Milch 1,60 Euro kostet. Seit den Wahlen 2012 hat sich das Land weder wirtschaftlich erholt, noch ist es transparenter geworden. Vielmehr ist die Unsicherheit darüber, wie es weitergehen soll, gestiegen. Die einen haben Angst vor einer Rückkehr zur Drachme, für andere ist der Euro vom Hoffnungsträger des Fortschritts zum Symbol des Niedergangs geworden.

So ist nur schwer zu begreifen, was Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble meinen, wenn sie das Land auf einem guten Kurs sehen. Dabei ist der gestrige Kommentar der Kanzlerin zu Tsipras Wahlsieg, dies sei ein schlechter Tag für Europa und den Euro, eine Frechheit. Nur wenige Tage nach der Ankündigung von Neuwahlen, meldeten die deutsche Medien bereits, die Bundesregierung hielte einen Ausstieg Griechenlands aus dem Euro nun doch für möglich, eine Geste, die viele Hellenen als Wahlerpressung gewertet haben. Den künftigen Regierungschef innerhalb eines EU-Mitgliedslandes dann mit diesen Worten zu beglückwünschen, ist für eine deutsche Bundeskanzlerin schlichtweg unwürdig.

Europa muss sich in Demokratie üben

Und es ist eben diese Haltung der Kanzlerin, die bei vielen Griechen die Zweifel an Europa stetig wachsen lässt. Dass die Situation des Landes vor allem auf hausgemachte Probleme zurückzuführen ist, ist dem Großteil der Bevölkerung bewusst. Dass auf der anderen Seite aber ein vermeintlicher Bündnispartner das völlige Versagen der von ihm unterstützen Samaras-Regierung einfach hinnimmt, und einen legitim herbeigeführten Wechsel dann als ‚schlechten Tag für Europa’ bezeichnet, bekräftigt die Zweifel an den demokratischen Grundsätzen der EU.

“Egal wer die neue Regierung bildet, das erste, was sie tun müssen, ist mit Europa die Situation neu verhandlen”, sagt ein Gymnasiallehrer, der in den letzten zwei Jahren 30% seines Gehalts einbüßen musste. Jede Reinigungskraft in Deutschland verdient inzwischen mehr als er. “Ich will überhaupt nicht, dass eine Putzfrau weniger verdient, aber wie kann ein solches Gefälle in einem vereinten Europa überhaupt möglich sein?” Er beklagt die wachsende Armut in Griechenland, erzählt, sichtlich bewegt, von Jugendlichen, denen er Essen schenkt. “Früher haben die Leute noch um Geld gebettelt, heute geht es den meisten um Nahrung für ihre Familie.”

Keine Reformen unter Samaras

In der Tat gibt es unzählige Beispiele dafür, wie die angeblichen Reformen, die in den letzten zweieinhalb Jahren mehr schlecht als recht durchgeführt wurden, und die für die Troika als Rechtfertigung für die harten Sparmaßnahmen gelten, das Land auf keinen neuen Kurs gebracht haben. Für die Griechen ist dies Alltag und auch deswegen ist die Reaktion auf Tsipras Wahlsieg gedämpft. Samaras, der mit seinem ultrarechten Kurs und seinen undurchsichtigen Verbindungen zur Goldenen Morgenröte, inzwischen auch vielen Parteifreunden ein Dorn im Auge ist, schien dem Druck nicht mehr gewachsen zu sein. Auch aus diesem Grund war er es, der mit den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen, die zu den Neuwahlen geführt haben, die Notbremse gezogen hat. Ihm muss klar gewesen sein, dass er nicht gewinnen würde.

So liegt es vielleicht auch im Interesse aller konservativen Parteien in Europa, Tsipras, den jüngsten griechischen Ministerpräsidenten aller Zeiten, einen Mann ohne jegliche Regierungserfahrung, scheitern zu sehen. Auf ihn kommen harte Zeiten zu. Konnte er als Oppositionspolitiker noch mit großen Versprechen punkten, geht es jetzt um den Balanceakt, die von seinen Vorgängern unangetasteten Probleme wie Arbeitslosigkeit, das Steuersystem, das in der Krise dramatisch gestiegene soziale Elend, den kollabierten Binnen- und Exportmarkt, sowie den eingeschlagenen Konfrontrationskurs mit der Troika zu meistern. Fest steht: Samaras Regierung hat nicht einmal versucht, Weichen für eine nachhaltige Erholung und Wachstum zu schaffen. Auch die Troika muss sich dessen bewusst werden.

Wieviel Bündnis steckt wirklich in Europa?

Scheitert Tsipras, wird dies auch Konsquenzen haben für andere linke Parteien in Europa, wie beispielsweise Podemos in Spanien. Für diese würde dann mit ihrem großen Hoffnungsträger eine vorzeigbare Alternative zur der von Frau Merkel als alternativlos bezeichneten Sparpolitik untergehen. Jetzt aber braucht Tsipras trotz der nur hauchdünn verpassten Mehrheit einen Koalitionspartner. Er selbst schließt Potami aus. Die Kommunisten, die mit 4,5% an fünfter Stelle liegen, wollen nicht mit Tsipras. Außenminister Venizelos, der die sozialdemokratische Partei ins politische Aus geführt hat, wäre nach den vergangenen zweieinhalb Jahren eine fragwürdige Entscheidung.

In Betracht zieht Syriza derzeit auch die rechts-konservative Partei der «Unabhängigen Griechen». Innerhalb der nächsten drei Tage muss Tsipras eine Regierung bilden. Danach geht es um Lösungen, für die er auf die Unterstützung von europäischen Amtskollegen angewiesen ist. Diese sollten sich auch darauf besinnen, dass die Krise noch lange nicht vorbei ist und eine politische und wirtschafltiche Isolierung Griechenlands mitunter fatale Folgen für andere EU-Länder haben würde. Es geht um gemeinsame Herausforderungen, zu der auch eine gründliche Manöverkritik des bisherigen Kurses gehört. Die meisten Griechen aber wissen: Es sind die festgefahrenen Strukturen des Landes selbst, die einen wirklichen Wechsel erschweren. Somit steht und fällt alles auch mit der Frage, wie stark Tsipras selbst in eben diesen verfangen ist.

Anm.d.Red.: Weitere Beiträge zum Thema in unserem Dossier Europakrise. Die Fotos stammen von SpaceShoe [Learning to live with the crisis] und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.

6 Kommentare zu “Machtwechsel in Griechenland: Können wir in Europa jetzt Demokratie neu lernen?

  1. Es ist für einen Preußen oder einen Hanseaten eben ein Gesichtsverlust Neuverhandlung von geschlossenen Übereinkommen zu fordern. Für Griechen oder orientalische Staaten dagegen etwas ganz normales nach Schluß eines Abkommens oder Vertrages weiter zu verhandeln. Griechenlands “Nicht-Erfüllungspolitik” führt das Land in die selbst verschuldete Isolation und unterminiert das letzte Vertrauen. Die strukturell antisemitische Gläubigerkritik der griechischen Politik ist billige Ablenkung von der Verantwortlichkeit. Sie passt zu einem über Jahrhunderte in Fremdherrschaft lebenden Volk, das von Politikern erwartet sich am Gemeinwesen für die Interessen des Volkes zu bereichern statt das Gemeinwesen zu verteidigen.

  2. Nuove forme di democrazia andiamo verso il futuro è solo l’iniziol’Europa respira forme di nuova democrazia o democrazie in trasformazione__________________________

  3. Ich meine “strukturellen Antisemitismus”. Darunter versteht man die Verwendung von altbackenen antisemitischen Topoi und Narrationen ohne Juden.

    “Der Gläubiger ist schuld an der Misere, und zwar ausgerechnet der Gläubiger, der Griechenland am signifikantesten beispringt.”

    … das ist die knappe Formal.

    Dazu gehört auch die ganze anti-“Austeritäts”-Progranda amerikanischer Ökonomen und von der Soros-Maschinerie, ohne dass klar ist, wieso ein anderer Staat Wachstumspolitik finanzieren sollte, wenn er nicht einmal begrenzten Zusagen für geringere Milliardenbeträge vertrauen kann. Nach dieser Lesart steht hier griechische Demokratie gegen “deutsches”/IMF Diktat.

    Lustigerweise wird das Argument doppelt geführt. Einmal ist die “Austerität” schuld, dann wieder der Gläubiger selber schuld, dass er eingesprungen ist, wo man doch einen wunderbaren Staatsbankrott hätte machen können etc.

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