Hinter dem Rücken des Kolonialherren: Die unsichtbaren Hände in Lucrecia Martels Kino

Zu den größten Neuentdeckungen des globalen Autorenkinos zu Beginn des 21. Jahrhunderts zählt das noch junge Werk der aus Argentinien stammenden Regisseurin Lucrecia Martel. Es ist ein revolutionäres, radikal-emanzipatorisches Kino der sinnlichen Horizonterweiterung, indem das politische Subjekt aus dem Off des Mainstream-Bewusstseins emergiert– verkörpert durch kindliche, lesbische oder indigene Figuren, die nicht selten einen Touch des Gespenstischen haben. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki unternimmt eine Bestandsaufnahme.

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Wir befinden uns an den Rändern der kolonialen Erzählung auf einem Außenposten des spanischen Imperiums in der argentinischen Provinz. Wir blicken durch einen Türrahmen auf eine Holzkiste. Als sie bewegt wird, sehen wir sie zunächst nur zum Teil und verstehen deshalb nicht, wodurch sie in Bewegung geraten ist. Vielleicht wird sie durch jemanden verschoben, der neben dem Türrahmen steht? Dann rückt die Holzkiste vollends ins Bild und bewegt sich weiter. Aber niemand befindet sich neben ihr, niemand ist zu sehen, der sie verrücken würde. Es ist ein gespenstischer Augenblick in Lucrecia Martels „Zama“ (2017), der aus einem Horrorfilm stammen könnte: Die Kiste scheint sich von selbst zu bewegen.

Der titelgebende Protagonist Zama, ein Justiziar im Dienste der Kolonialmacht, steht dabei neben einem anderen Kolonialbeamten, der sich des Schreibens eines Buches „hinter dem Rücken der spanischen Krone“ schuldig gemacht hat und beide gucken etwas verdutzt auf diese Szene. Dann sagt der illegalisierte Schreiber: „Ach, wäre es bloß etwas Übersinnliches, doch es ist nur ein Kind unter der Kiste.“ Die überraschende Aussage wird nicht verifiziert. Der Film zeigt nicht, was unter der Kiste steckt – so wie wir auch nie erfahren, was in dem vermeintlich kriminellen Buch steht – und es bleibt dem Zuschauer überlassen, Sinn aus dieser Szene zu machen.

Kinder als Rollenmodell der Emanzipation?

Selbst wer Martels Werk nicht kennt, wird durch diese Szene auf die besondere Bedeutung aufmerksam, die Kinder für die in Salta aufgewachsene Regisseurin haben. In „Zama“ sind sie entweder abwesend oder in einigen wenigen unheimlichen Situationen zu sehen, so als sollten damit die Aussichten der Kolonialgesellschaft in Frage gestellt werden – ohne Nachwuchs dürfte es keine Zukunft geben. Doch die Zukunft ist bei Martel nicht allein eine Frage der Reproduktion. Vielmehr geht es hier um die Rolle des Kindes als Katalysator für gesellschaftliche Transformationsprozesse, ja, die schiere Veränderbarkeit der Gesellschaft selbst.

Dies bringt der illegalisierte Schreiber übrigens selber recht denkwürdig auf den Punkt, wenn er auf die anfangs noch heiter-bervormundende Aufforderung seines Vorgesetzten „Mach Kinder, nicht Bücher!“ antwortet: „Ich weiß nicht, wie meine Kinder werden, aber ich weiß wie dieses Buch wird.“ Martel dürfte mit dieser Aussage etwas über ihr eigenes Verständnis von Autorschaft zum Ausdruck gebracht haben. Einerseits ist sie bekannt dafür, ihre Drehbücher sorgfältig auszuarbeiten und Seite für Seite bei den Dreharbeiten umzusetzen. Andererseits sind die Drehbücher Baupläne für Experimente, deren Ausgang offen ist – also so etwas wie unberechenbare Kinder. In Interviews hat sie immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie sich durch ihre Filme überraschen lassen will und dass sie im Zuge des Filmemachens etwas entdecken möchte.

Für jemanden, der alles genau scriptet und plant, scheint das auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Anspruch zu sein. Doch es ist eben das Ungewisse, das Noch-Nicht-Fertige, Noch-Nicht-Vorstellbare und –Denkbare, dass Martel mit ihrem akribischen Vorgehen provozieren möchte – so als könne das Überraschende nur durch die Reibung mit den Gesetzen einer rigiden Vorlage zum Vorschein kommen. Kinder sind bei Martel die wichtigsten Katalysatoren dieses Versuchsaufbaus, auch wenn sie selten Hauptrollen spielen wie María Alche als Amalia in „La niña santa“ (2004). Kinder zeigen sich als experimentierfreudig auf all jenen Ebenen, auf denen Martels Filme kleine und größere Experimente unternehmen. Sie erkunden die Grenzen der Wahrnehmung wie Luchi in „La Ciénaga“ (2001), erforschen Klang und Haptik, aber auch Geruch und Licht. Und sie erkunden ihren Körper sowie ihr Begehren.

Queere Horizonterweiterungen

Die blinden Flecken der Begierde und der Wahrnehmung erscheinen nicht selten in Form des Übersinnlichen und Gespenstischen, wie die sich selbst bewegende Kiste in „Zama“. Im Zuge dessen offenbaren sich auch die Grenzen eines Systems der Disziplinierung der Sinne und des Begehrens. Es ist dieses System, mit dem Martel ihre Protagonisten in Konflikt treten und dabei häufig queere Fluchtlinien ausloten lässt, die scheinbar mühelos Rassen- und Klassengrenzen durchkreuzen.

Erwachsene scheinen dazu meistens nicht bzw. nicht mehr fähig zu sein. Oder aber sie werden im Zuge einer Krise zu Kindern wie Vero in „La mujer sin cabeza“ (2008), die nach einem traumatischen Verkehrsunfall im Alltag nicht mehr wie gewohnt funktioniert und deshalb „wie ein Kind“ unterwegs ist und im Zuge dessen infantilisiert wird. Oder eben auch Zama, der, vergeblich auf eine Versetzung wartend, immer verzweifelter und neurotischer wird und dabei nach und nach seine Fassung und Handlungsfähigkeit verliert. Dies ist nicht nur ein Prozess der Regression.

Am Ende der Handlungsfähigkeit wie sie die erwachsenen Figuren kennen, steht eine neue Form von Agency: zwischen Delirium und sinnlicher Horizonterweiterung pendelnd, erleben sie neue Zugänge zur Welt. Zugänge, die Martel sonst nur Kindern zugesteht. Oder dem Publikum ihrer Filme. Denn wenn Martel auf verschiedene Weise ganz im Sinne Theodor Adornos an das Kind in uns appelliert – „La Ciénaga“, „La niña santa“, „La mujer sin cabeza“ (auch als Salta-Trilogie bekannt) sind aus der Perspektive eines zehn- oder elfjährigen Kindes erzählt und aufgenommen – dann um eben auch, um uns die Erweiterung der sinnlichen Kapazitäten zu ermöglichen.

Einmal anders auf die Welt schauen: neugierig und weniger festgelegt als Erwachsene, wenn es etwa darum geht, die Strukturierung der Zeit oder die Konstruktion des Geschlechts als natürlich gegeben anzunehmen. Offen für neue Zusammenhänge, die sich aus dem Zusammenspiel von Bildern und Tönen ergeben, offen aber auch für ein neues Verhältnis der Menschen untereinander, jenseits der Rassen- und Klassengräben, die nicht zuletzt das Produkt des Kolonialismus sind.

Dekonstruktion des kolonialen Erbes

Wenn „Zama“ als Vorgeschichte zur „Salta“-Trilogie verstanden werden kann – Salta, das im Norden Argentiniens liegt, ist der Schauplatz der ersten drei Martel-Filme und die Region, an die Zama versetzt werden möchte –, dann unterstreicht dies auch die intensive Auseinandersetzung der Regisseurin mit dem kolonialen Erbe. Hier gewinnen die Experimente mit dem Sinnlichen und Wahrnehmbaren eine weitere politische Dimension: Martels Kinder-Figuren, die das Potenzial haben, um über das herrschende Regime der Sinne hinauszugehen, verflüssigen mit ihren Haltungen und Handlungen nicht zuletzt Klassen- und Rassengrenzen.

In „La mujer sin cabeza“ ist es sowohl die gleichgeschlechtlich begehrende Schülerin Candita als dann auch die infantilisierte Vero, die keine Berührungsängste vor dunkelhäutigen Figuren aus der Unterschicht haben. Ihre für dortige Verhältnisse außergewöhnliche Bereitschaft mit den unsichtbar Gemachten und Marginalisierten in Kontakt zu treten, rückt diese verdrängte Bevölkerungsgruppe ins gesellschaftspolitische Blickfeld – so wie parallel dazu verdrängte Potenziale der Wahrnehmung buchstäblich ins Bild rücken.

Nicht selten zeigen die Blicke der politisch Verdrängten auch das Potenzial des sinnlich Verdrängten. So gibt es in Martels Kino neben dem Kind auch den durch Klassen- und Rassengräben Ausgegrenzten, der die Welt anders sehen kann, der über das Bestehende und dessen Ordnung hinaus bis dato nicht Sichtbares und Hörbares freilegen kann, etwa wenn in „La mujer sin cabeza“ der verdrängte Blick indigener Jugendlicher durch den Film selbst gedoppelt wird. Das ist ausgesprochen politisch, geradezu radikal emanzipatorisch. Analog zu meinen Ausführungen über Christian Petzolds „Transit“ (2017) ließe sich sagen, dass Martels Kino vor Augen führt, dass Formen von Agency möglich sind, die die Konzepte der europäischen Aufklärung in puncto Autorität, Rationalität und Subjektivität unterwandern und darüber hinaus weisen.

Es ist hinlänglich bekannt: Wo der rational ermächtigte heterosexuelle, männliche und weiße Erwachsene als Maßstab und Orientierungsfigur über jeden Zweifel erhaben schien, dort galten alle anderen als erziehungsbedürftige Kinder, entweder buchstäblich oder im übertragenen Sinne (etwa Ureinwohner). Martels Kino kehrt diese Verhältnisse auf den Kopf. Mehr oder minder rational ermächtigte Erwachsene erscheinen hier als erziehungsbedürftig bzw. um-erziehungsbedürftig. Jene, die im System der europäischen Aufklärung als Kinder gehandelt worden sind, erscheinen als Orientierungsfiguren, die explorative Formen von Agency verkörpern.

Wessen Autorschaft steht auf dem Spiel?

Man könnte den Ausspruch des illegalisierten Schreibers („Ich weiß nicht, wie meine Kinder werden, aber ich weiß wie dieses Buch wird.“) auch lesen als „Ich weiß zwar, wie dieses Buch wird, aber ich weiß nicht, wie meine Kinder werden.“ Das wiederum könnte auch auf den ungewissen Ausgang des Kontakts zwischen den Welten verweisen, etwa zwischen der Welt wie sie ist und wie sie sein könnte. Das könnte aber auch auf die Selbst-Dekonstruktion Martels als Autorin hindeuten: Die Wirkung des Werks fängt dort an, wo die Intention des Autors aufhört. Doch da ist mehr.

Martel tritt nicht nur als Autorin auf, um ihre eigene Stimme zu amplifizieren – wohlgemerkt die Stimme einer feministischen Frau am Rande des Weltsystems –, sondern auch um Stimmen anderer hörbar werden zu lassen, denen Autorschaft verwehrt bleibt. So macht sie sich und ihr Kino zum Medium unterdrückter Autoren und Autorinnen, die durch sie hindurch überhaupt erst an die Öffentlichkeit gelangen: Ausgeschlossene, also immer auch Personen, denen selbstbestimmte Handlungsfähigkeit weitgehend abgesprochen wird.

Dabei geben uns Martels Filme zu denken, was Autorschaft jenseits des hegemonialen Modells der Handlungsfähigkeit bedeuten kann: eine radikale Öffnung für ungehörte und unerhörte Stimmen etwa. Die Destabilisierung des hegemonialen Diskurses, die diese Öffnung ermöglicht, führt nicht zuletzt vor Augen, das große Teile der Erdbevölkerung zum System der Autorschaft prinzipiell keinen Zugang haben. Martel lässt uns träumen, das in einem erweiterten Resonanzraum neue Akteure auf den Plan treten könnten – die als „kollas“ oder „estas indias“ Verunglimpften etwa, die in ihren Filmen den weißen Protagonisten meistens als weitgehend stumme Bedienstete zur Seite stehen.

Sie sind häufig unscharf gestellt und werden auf diese Weise in ihrer gesellschaftlichen Konstruktion sichtbar gemacht (apropos “diffuse Bedrohung”). So treten sie als gespenstische Multitude in Erscheinung, die die sich auflösende Ordnung und Herrschaft der Weißen, zu denen übrigens auch Martel selbst gehört, scheinbar duldsam bezeugt. Doch wie könnte aus dem bezeugenden und immer wieder auch anklagend blickenden Unterdrückten eine aktive Form von Agency werden, die nicht nur durch das Genie einer Martel vermittelt ist, sondern sich als selbstbestimmte Form der Autorschaft äußert? Wenn es darauf  keine einfache und schnelle Antwort gibt, dann liegt das auch daran, dass Martels sinnliches, emphatisches und aufrüttelndes Kino nicht zuletzt auf die gegenwärtigen Leerstellen emanzipatorischer Politik verweist.

Anm.d.Red.: Das Werk Lucrecia Martels war gerade zum ersten Mal in Deutschland in einer alle vier Spielfilme umfassenden Retrospektive im Berliner Kino Arsenal zu sehen; ein Podiumsgespräch mit der Regisseurin fand im Rahmen von Revolver-Live im Roten Salon statt. Das Bild oben ist ein Filmstill aus „Zama“.

3 Kommentare zu “Hinter dem Rücken des Kolonialherren: Die unsichtbaren Hände in Lucrecia Martels Kino

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