Chinas Lächeln: Masse schweigt, Dichter schreibt

Liao Yiwu war der einzige Dichter, der es wagte, das Massaker auf dem “Platz des himmlischen Friedens” in Worte zu fassen. Heute sind die Werke des Systemkritikers in China verboten. Literatur- kritikerin und Berliner Gazette-Autorin Annika Bunse ist ihm begegnet.

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Die Holzperlen des Suanpan rasseln erst leise und dann bedrohlich laut. Liao Yiwu setzt zur Wehklage an, schüttelt und rüttelt dabei den alten chinesischen Rechenschieber, den er fest umklammert hält. „Knallt sie ab! Knallt sie ab! Stillt eure Sucht!“, brüllt der nach Berlin geflüchtete Autor auf der Bühne. Sein Aufschrei ist ein Gedicht und sein Gedicht ist der Aufschrei einer Nation. Es heißt Massaker und ist an das chinesische Unrechtsregime und seine Schergen gerichtet.

Liao war der einzige Autor in China, der es wagte, in diesem Gedicht die Zusammenstöße im Jahr 1989 auf dem „Platz des Himmlischen Friedens” zu beschreiben. Jetzt legt Liao Yiwu bei der Premiere seines neuen Buchs den Finger in die chinesische Wunde: „Wir erleben ein Massaker in diesem Land der Utopien, die Chinesen haben ihr Zuhause verloren.“ Während er diese Nachricht proklamiert, huscht ein bitteres Lächeln über sein Gesicht. Liao verlor selbst seine Heimat, um in Freiheit schreiben zu können.

Stigmatisiert als “literarischer Brandstifter”

Nachdem eine Video-Version seines „Massakers“ in ganz China verbreitet wurde, ließen ihn die Behörden verhaften und steckten ihn vier Jahre lang in einen Gulag. Liao erlebte dort die Hölle auf Erden. Er musste mit 30 anderen Männern auf 20 Quadratmetern leben, harte Arbeit erledigen, die Teil der „Umerziehung“ war. Im Gefängnis begegnete er „dem Bodensatz der Gesellschaft“, wie er später sagt. Schmutzmassen, drückende Luft und widerlicher Gestank, Verrohung, Promiskuitäten, Obszönitäten, tägliche Gewalt und Folter sind dort Alltag für den Schriftsteller.

Verurteilt als „literarischer Brandstifter“ sollte er ganz und gar zum Schweigen gebracht werden – ein Veröffentlichungsverbot wurde über ihn verhängt. Liao wehrte sich, schrieb dagegen an, wie in seinem Gedicht „Alter Traum“: „Gewehre müssen Stifte vernichten / so wie ich jetzt / neben der Treppe hocke / die Regierung mir befiehlt, den Hundekopf zu heben / zum Elektroknüppel zwischen seinen Beinen.“ Liao Yiwu hat seine Stifte nicht weggelegt. Er hat sie gespitzt und ist nicht zum Parteischreiberling geworden, auch wenn er nach eigener Auskunft viele Preise mit regimekonformer Literatur hätte gewinnen können.

Doch diese Möglichkeit stand für Liao nie zur Debatte. Zu schweigen, sich das Schreiben untersagen zu lassen, wie viele andere chinesische Dichter, die sich dem politischen Druck der Partei beugten, kam für Liao nie in Frage. Sein neuestes Werk Für ein Lied und hundert Lieder kann nur deshalb in Berlin Weltpremiere feiern. Liao lässt sich das Wort nicht verbieten und rettet es ins Exil.

Dichten im “Land des gefrorenen Lächelns”

Poetisch und dokumentarisch zugleich gibt er in dem politisch brisanten Buch einen Einblick in den chinesischen Gefängnisalltag. Zwar muss man ihm an manchen Stellen fehlende Tiefe bei der Figurengestaltung ankreiden, aber dieser Mangel entschuldigt sich schon allein dadurch, dass Liao seine „hundert Lieder“ dreimal neu schreiben musste.

Verstörend authentisch und quälend detailliert ist im Gegensatz zur den manchmal flach bleibenden Figuren der grausame Umgang der Gefangenen untereinander und die Folter mit dem Elektroküppel durch die Wärter geschildert. Franz Kafka schrieb einst „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ – Liao Yiwus „Für ein Lied und hundert Lieder“ will diese Axt im Land des gefrorenen Lächelns sein.

Sein Manuskript wurde von der chinesischen Staatssicherheit insgesamt zweimal beschlagnahmt und doch schrieb er es immer wieder neu. Die Sisyphusarbeit des Schriftstellers hatte erst ein Ende, als er die Volksrepublik verließ, damit der dritte Entwurf des Buches schlussendlich im Fischer Verlag erscheinen konnte. Die chinesischen Behörden übten massiven Druck aus, wollten sein Buch auf gar keinen Fall im Ausland veröffentlicht sehen. Seine Sanktion war der Verlust der Heimat. Liao weiß nicht, ob er nach der Proklamation seiner hundert Lieder jemals wieder zurückkehren kann.

Liao auf der Bühne: Worte, die die Luft abschneiden

Bei seiner Lesung in den Berliner Festspielen hat er drei Dinge aus seiner Heimat dabei. Es sind Erinnerungsstücke, die auf dem Tisch liegen – fremdartig aussehende Instrumente: eine Klangschale, eine Flöte und eine Laute. Mit diesen Gegenständen hat sich Liao seine ganz eigene Dramaturgie des Abends gebaut.

Dann tritt „der große Irre“, wie er in China wegen seiner Suizidversuche genannt wird, ans Mikrofon. Seine Person wirkt konträr zu Herta Müllers apellativer Aura, die zuvor ihre Solidarität zu Liao bekundet hatte. Leise schreitet an den Tisch, greift sich die Klangschale und bringt sie wortlos mit einem Stab zum Klingen. Der dumpfe Ton hallt ruhig durch den Raum und stimmt auf das Kommende ein. Wörter einer fremden Sprache erklingen. Immer lauter wird Liao. Sein Gesicht spricht vom „bitteren Glück“, oszilliert zwischen Trauer und Leere, verzerrt sich schnell zu einer wütenden Maske, die dem chinesischen Regime zürnt. Nach dieser persönlichen Katharsis wird er leiser, monotoner, bis seine Stimme verstummt.

Niemand spricht, der Moment, den Herta Müller zuvor als „Atemschaukel“ beschrieb, setzt ein. Wie bei Müllers Lagerberichten wirken Liaos Bilder der Gewalt aus dem chinesischen Gulag, die Hinrichtungsszenerie vom „Platz des Himmlischen Friedens“ unmittelbar. Das Herausschreien des Unaussprechlichen macht sie direkt präsent. Es sind Schilderungen, die einem die Luft abschneiden. In der Atempause lässt Liao den Suanpan sinken. Das „Massaker“ ist in Deutschland angekommen.

Was man in China über Liao Yiwu weiß

Mit Blick auf China hingegen scheint das nicht der Fall zu sein. Im chinesischen Internet findet man kaum Informationen zu Liao Yiwu, auch der bekanntesten chinesischen Suchmaschine „Baidu“ ist er unbekannt. Vielmehr kursiert dort ein vielgelesener Artikel über ihn, der bei der „Huanqiu shibao“ (Global Times) erschien, einer Zeitung, die unter dem Dach der „Renmin Ribao“ (People’s Daily) herausgebracht wird. Sie gilt als Stimme der Partei. Darin wird Liao Yiwu als „Querdenker“ beschrieben, der sich mit dem gegenwärtigen China nicht arrangieren könne und am Rande der Gesellschaft mit seiner Meinung stehe, ohne wirklich wahrgenommen zu werden.

Weiter heißt es darin, dass er eine reguläre Ausreisegenehmigung habe, seine Flucht nach Deutschland also gar keine solche gewesen sei. Liaos Stimme wird in der Volksrepublik durch gezielte Berichterstattung und Einflussnahme immer noch entkräftet oder verzerrt. Er wird konsequent totgeschwiegen. Die intimsten und gefährlichsten Feinde scheinen in seinem Falle aus der eigenen Heimat zu kommen.

Anm. d. Red.: Der Poesie-Performer tritt heute Abend beim Internationalen Literaturfestival Berlin auf. Das Foto stammt aus der urheberrechtsfreien Sammlung Flickr Commons.

5 Kommentare zu “Chinas Lächeln: Masse schweigt, Dichter schreibt

  1. Unglaublich ergreifend…
    Das geht unter die Haut!
    Es ist unfassbar, welche Stärke und Willenskraft manche Menschen besitzten und welche Sachen in China scheinbar täglich passieren!

  2. wow, vielen Dank, ich hatte vorher keine Ahnung von Liao Yiwu, sehr interessant!

  3. Schweigen (im Westen) ist Schande. Only silence (in the west) is ashamed. Im lặng (của tây phương) là hèn hạ. le silence (de l’ouest) est la honte.

  4. Franz Kafka schrieb einst „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ – Liao Yiwus „Für ein Lied und hundert Lieder“ will diese Axt im Land des gefrorenen Lächelns sein.

    das ist super, danke!

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