Lesen und leiden

Manchmal verschenke ich Buecher, um nicht damit aufzufallen, dass ich mir schon wieder ein neues Buch gekauft habe. Andere sind suechtig nach Nikotin und Alkohol, ich bekenne mich suechtig nach Buechern. Auf diese Art bin ich an meine letzte Lektuere gekommen, die ich meiner Frau geschenkt habe. >Kannst du von mir aus schon mal lesen, ich hab mein Buch noch nicht ausgelesen.<, meinte sie mit einem Laecheln. Na klappt doch, denk ich noch so bei mir, Richard David Prechts >Lenin kam nur bis Luedenscheid<, sollte also mein naechstes Buch sein.

Lenin und Luedenscheid, diese beiden Namen in Kombination fand ich, waren es schon wert dieses Buch zu lesen. Precht schildert seine Kindheit in einem, fuer die damalige Zeit, etwas anderen Elternhaus, mit politisch und alternativ engagierten Eltern, die ihre Familie mit adoptierten, von >terre des hommes< vermittelten Kindern, vergroesserten. 1964 war ich selbst Schueler eines Gymnasiums und bereitete mich langsam auf meine erste Ehrenrunde vor und zu dieser Zeit war ich selbst noch keineswegs politisch engagiert. Mein Elternhaus war CDU und pro Amerika, ohne jedoch politisch aktiv zu sein. Es wurde das getan, was getan werden musste, damit alles wie immer war: ruhig und ohne herausragende Ereignisse. Fuer laenger werdende Haare gab es in meiner Schule bloede Bemerkungen seitens der Lehrer, die zum Teil begeisterte oder enttaeuschte Weltkriegsteilnehmer waren, abgesehen von den Spaetheimkehrern aus der russischen Gefangenschaft, die uns verpruegelten, wenn wir etwas Essbares in den Abfalleimer warfen. Politisch wurde ich erst spaeter, als es chic wurde. >Lenin kam nur bis Luedenscheid< entspricht diametral entgegengesetzt dem, was meine eigene Kindheit und Jugend ausgemacht hat. Nachdem ich die ersten Seiten des Buches hinter mich gebracht hatte, wurde bei der Beschreibung von Prechts Kindheit, auf eine grotesk komische Art und Weise, meine eigene Kindheit und Jugend wieder lebendig. Die Erlebnisse seiner Kindheit, die Indoktrination durch seine Eltern, das zwanghafte Alternativsein erinnerte mich mit den dabei auftretenden Zwaengen, Einschraenkungen, z. B. im Bereich Bekleidung an eigene Erlebnisse. Solche Buecher haben fuer mich absolute Sogwirkung. Wie ein Schatten jage ich von Seite zu Seite hinter den beschriebenen Personen her, um erst dann das Buch wieder beiseite zu legen, wenn ich mit den lieb gewonnen Helden auch die letzte Buchseite durchlebt und durchlitten habe. Wenn ich ein solches Buch lese, werden die alltaeglichen Sachen zur laestigen Pflicht. Kann ich dann endlich loslassen, weil ich das Buch ausgelesen habe, dann tut es mir oft genug leid, dass es nicht mehr weitergeht. Genau genommen geht es mir ganz allgemein so mit Buechern.

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