Lesen 2.0

Lesen ist gestorben. Es war ein schleichender Tod. Gern erinnere ich mich zurueck an die Tage als ich noch jedes Buch mit der freudigen Erwartung aufschlug, nach dessen Ende nicht mehr dieselbe zu sein. Die Tage als Buecher noch meine Welt veraendern konnten. Als ich die Seiten leer las und ich meinen fantasieschweren Kopf am Ende mit Schwindel hob. Damals gab es nur die Buchstaben und mich, das Bewusstsein vergehender Zeit prallte am Buchruecken ab. Man koennte es Lesen 1.0. nennen. Diese Art von Lesen ist mir heute fast nicht mehr zugaenglich. Im Prinzip lese ich immer noch – sogar mehr als frueher.

Aber ich vertiefe mich nicht mehr in dicke Schmoeker dostojewskischen Ausmasses, sondern ich verflache mich in gegoogelte Webseiten und Blogs. Mein Auge ist geschult fuer eine sekundenschnelle Kategorisierung von Suchergebnissen in relevant und sinnlos. Ich scanne Texte, ich lese sie nicht mehr: Lesen 2.0. Die digitale Aufbereitung von Texten und eine Suchmaschine, die fuer mich vorfiltert machen es bequem an Informationen zu gelangen. Benoetigt wird nicht mehr die Faehigkeit sich in einen Text zu vertiefen und sich auf dessen Struktur einzulassen. Statt lesen ist ueberlesen gefragt. Stosse ich auf einen lesenswerten Artikel, bookmarke ich die Seite und nehme mir vor, sie spaeter in Ruhe zu lesen.

Natuerlich tue ich das niemals. Zweifellos sind Lesen 1.0 und Lesen 2.0 zwei ganz unterschiedliche Phaenomene. Doch in meinem Leben sind sie unheilvoll miteinander verknuepft. Ich merke wie schwer es mir faellt, mich von einem Buch vereinnahmen zu lassen. Lesen zum Vergnuegen scheint eine Suende. Auch ich bin Teil der Informationsgesellschaft und die sagt mir: Vergiss Belletristik, lies effektiv, schnell, profitabel, ueberspringe Unwichtigkeiten! Doch es gibt noch Momente wie frueher. Max Goldt, Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides oder Harald Martenstein sei dank.

2 Kommentare zu “Lesen 2.0

  1. Vielen Dank für den erhellenden Text. Bei meinen eigenen Kindern sehe ich, dass das Lesen 2.0 inzwischen der Normalzustand ist. Worte wie überfliegen oder scannen, nehmen die beiden ganz selbstverständlich in den Mund. Wenn sie dann mal ein “richtiges” Buch lesen, wie Harry Potter, ist das ganze eher ein filmisches Ereignis.

  2. Ich erkenne mein eigenes Leseverhalten auch in dem, was du Lesen 2.0 nennst. Lesen ist heute irgendwie unverbindlicher, ein alltäglicher Vorgang wie Zähneputzen. Vielleicht sind ja auch die Texte heute unverbindlicher.

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