Ist Lernen immer auch eine Form von Arbeit? Wie sich die Schule als Fabrik neu erfindet

Bei den Sicherheitsmaßnahmen, die im Zuge der COVID-19-Pandemie ausgerufen wurden, geht es nicht zuletzt darum, das Risiko zu minimieren, das Menschen für einen “reibungslosen Kapitalismus” darstellen. „Unsere“ Verwundbarkeit und Ansteckungsfähigkeit wird zum Maßstab der Maßnahmen. Der Kunsthistoriker Tom Holert denkt über Kontrollpraktiken an der Schnittstelle zwischen Schule und Fabrik nach. Ein Interview.

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Anfang April wurden die Fabriken in Wuhan, die während des pandemiebedingten Shutdowns geschlossen worden waren, wiedereröffnet. Berichten zufolge wurden Sicherheitsmaßnahmen auf hohem Niveau eingeführt. Arbeiter*innen, die eine Fabrik betreten, werden mit hochkonzentriertem Alkohol desinfiziert, und ihre Temperatur wird gemessen. Die Körpertemperaturen der Beschäftigten werden während ihrer Schicht noch zweimal kontrolliert. In der Fabrik müssen alle Arbeiter*innen jederzeit eine Maske und einen besonderen Schutzanzug tragen. Die Orte, die früher von den Arbeiter*innen für soziale Zusammenkünfte oder mögliche Begegnungen genutzt wurden, sind geschlossen – Pausenräume, Konferenzräume, Raucherecken usw. Sie sind gezwungen, ihr Essen am Arbeitsplatz einzunehmen, wo jede/r den eigenen Tisch in Sicherheitsabstand zu anderen Tischen aufgestellt hat. Ein AFP-Bild, das in einem Pausenraum einer wiedereröffneten Honda-Fabrik in Wuhan aufgenommen wurde, fängt die “social distancing”-Logik dieser Arbeitsumgebung eindrücklich ein. Seltsamerweise ähnelt die dargestellte Situation vage dem Setting eines Klassenzimmers. Wie lesen Sie dieses Bild?

Das ist eine interessante Beobachtung, aber ich teile nicht unbedingt die ihr zugrunde liegende Annahme. Die räumliche Trennung von Arbeitnehmer*innen im Namen von Hygienemaßnahmen und im Interesse der Bekämpfung der Pandemie mag anderen Formen der Trennung und des Verbots (der Versammlung, der Vereinigung, der Gewerkschaftspolitik, des “aufsässigen” Verhaltens am Arbeitsplatz usw.) ähneln. Aber ich nehme an, dass diese Maßnahmen angesichts der gegenwärtigen Situation durch ein Mindestmaß an Vernunft begründet sind. Die Pandemie erschwert zumindest jede Kritik, die auf ehrwürdige Traditionen der Analyse von Macht und Disziplin zurückgreift – so berechtigt sie auch sein mag.

Sicherlich lässt sich die Choreographie der Arbeit, wie sie im Bild des Honda-Werks in Wuhan dargestellt ist, bis zu einem gewissen Grad mit Bildern der Trennung und Isolation von Schüler*innen im Unterricht vergleichen. Getrennte Positionierungen im Klassenzimmer ziehen sich durch die Geschichte des Schulwesens bis heute. Obwohl Distanzierungsmaßnahmen seit den Anfängen der reformistischen und progressiven Pädagogik im frühen zwanzigsten Jahrhundert wiederholt angefochten wurden, neigt man dazu, sie immer wieder neu einzusetzen. Gegen alle Tendenzen zur Gruppenarbeit, zum Teamteaching und zur Auflösung der disziplinären, geometrischen Raumordnungen des Klassenraums (die stets an die strukturelle Verwandtschaft von Fabrikarbeit, Gefängnisaufenthalt und formaler Bildung erinnern) hat sich das “Eierkarton”-Modell in der Schulbildung als recht hartnäckig erwiesen.

Bevor Sie tiefer in die Raumpolitik der Bildung einsteigen, könnten Sie zunächst Ihre Gedanken über das sich wandelnde Umfeld der Arbeit vertiefen?

In gewisser Weise zwingt COVID-19 das Management von Industriearbeit wie das der Arbeit in “post-industriellen” Räumen dazu, die Lektionen eines auf Flexibilität ausgerichteten Arbeitsumfelds, des „action office“, der „Bürolandschaft“ oder des Lounge-Libertinismus der Facebook- und Google-Firmenzentralen wieder zu verlernen. Diese Modelle kreativitäts-/innovationsfördernder Umgebungen haben alle ihren Ursprung in den 1950er und 1960er Jahren. Zu dieser Zeit wurden Unternehmenskultur, Kybernetik, Verhaltenspsychologie und Ergonomie kombiniert, um die Umgebung der Arbeit neu zu definieren. Zunächst von industrienahen Designer*innen entwickelt, wurden diese Konzepte und Praktiken schon bald von den vermeintlich antiautoritären Pop- und Gegenkulturen in diesem Bemühungen unterstützt (die Fernsehserie Mad Men hat einiges von dieser Entwicklung, die auch eine Engführung war, quasi-historiografisch bearbeitet).

Der Autoritarismus hat freilich nie aufgehört zu existieren, sondern nur seine Rahmenbedingungen geändert. Er kleidete sich in neue Formen und Gestalten, Protokolle und „Philosophien“, die alle Freiheit und Laissez-faire signalisieren sollten. Der Kapitalismus hat seine gewalttätige und pulsierende Disziplinierungskraft immer recht wirkungsvoll verheimlicht. Was jetzt unter den vielfältigen Einflüssen von Virolog*innen, Epidemiolog*innen, Politiker*innen und der Industrie geschieht, ist ein Abschälen solcher Oberflächen der Offenheit und Freiheiten und eine Wiederentdeckung der kargen Strukturen, denen sie übergezogen worden waren. Die Auferlegung von COVID-19-bedingten Abstandsregeln, von Isolation und hygienischen Sicherheitsmaßnahmen trifft jedoch auf unterschiedliche Arbeits- und Bildungskulturen. Abhängig vom jeweiligen nationalen und geographischen Kontext können die Merkmale von Abriegelung und Prävention den Betroffenen mehr oder weniger fremd erscheinen und als mehr oder weniger außergewöhnlich erlebt werden.

Könnten Sie ein Beispiel geben?

Das drakonische Prüfungsregime in China, manifest in der landesweiten Gaokao-Prüfung, die die Verteilung der Oberstufenschüler*innen auf dem College bestimmt, bringt zuverlässig Bilder (und – orientalisierende – Phantasien) gedrillter, Panik-geplagter, einsam vor sich konkurrierender Schüler*innen hervor: In großer Zahl in riesigen Schulhallen oder manchmal in Stadien sitzend, fügen sich die Kandidat*innen zu einem zeitgenössischen, aber zugleich merkwürdig anachronistisch wirkenden Ornamenten der (freudlosen) Masse. Die “Super-Highschools”, die die Schüler*innen auf diese Situation vorbereiten, werden passenderweise “Bildungsfabriken” genannt, so sehr ähneln sie dem alten Fließbandtypus der Fabrik (eine Metapher/Analogie, die in den 1960er Jahren äußerst populär war, als der Operaismus, André Gorz und andere sie für produktive konzeptuelle und politische Zwecke nutzten). Man könnte argumentieren, dass die Art von Disziplin, die in der Gaokao-Prüfung performt wird, zu einem größeren Schema autoritärer Herrschaft gehört – einem Schema, das zu einer Kultur der Antizipation und Vorbereitung im Hinblick auf Gesundheitskrisen vom Ausmaß der SARS-Epidemien gehört. In Kraft getreten, ist diese Kultur erstmals im Jahr 2003, und jetzt erneut mit der SARS-CoV-2-Pandemie.

Es überrascht nicht, dass Szenen der “sozialen Distanzierung” in der Welt des Bildungswesens immer häufiger vorkommen. Tatsächlich wurde bei der COVID-19-Pandemie das Bild von “einer Gruppe isolierter Individuen in einem Raum” erstmals in Klassenzimmern in Taiwan geprägt, wo es bereits Ende Dezember 2019 Reaktionen auf die Ausbreitung des Coronavirus gab. Bilder von Klassenzimmern zeigen Schüler*innen an einzelnen Schreibtischen, die von gelben Plastikwänden umgeben sind. Es ist bezeichnend, dass Taiwan nicht Mitglied der WHO sein darf, aber als einziges Land gepriesen wird, das in der Lage war, mit einer Reihe von de facto präventiven Maßnahmen auf das Virus zu reagieren, anstatt nur Ad-hoc-Anpassungen zu organisieren. Folglich wird wenig Kritik an den eingesetzten Maßnahmen selbst geübt. Erstens: Wo sehen Sie Parallelen zwischen den isolierten Schüler*innen und den isolierten Arbeiter*innen?

Die Fabrik/Schule-Analogie ist ein idealer Kandidat, um Gegenstand einer eingehenden Untersuchung zu werden, in der ihre Geschichte, ihre Semantik und ihr Gebrauchswertes zu betrachten werden. Wie bereits angedeutet, bin ich andererseits nur teilweise davon überzeugt, dass diese Analogie tatsächlich dazu beiträgt, die Besonderheiten der gegenwärtigen Situation besser zu verstehen und zu konzeptualisieren. Gesundheits- und Hygienefragen haben den gesamten Modernisierungsprozess beeinflusst und vorangetrieben, und sie prägen weiterhin jeden Aspekt von Politiken des Raums – in der Stadtplanung, in den räumlichen Regelungen der Fabrik- und Büroarbeit (wo Gesundheitsverwaltungen, Bauämter und Gewerkschaften Hand in Hand arbeiten) sowie im Hinblick auf Bildungseinrichtungen.

Da sie jeden Menschen betrifft, wenn auch in unterschiedlichem Maße und veränderlicher Dringlichkeit, sind Gesundheit und Gesundheitsvorsorge ein universalisierender und verallgemeinernder Parameter der Planung. Und im Moment wird ihr eine höhere Priorität eingeräumt, als dies normalerweise der Fall ist. Daher ist die Frage, ob Praktiken der Isolation an Arbeitsplätzen und Schulen (und Bilder davon) ein Kontinuum von Disziplin und Kontrolle über diese Arbeitsräume und –zeiten hinweg erkennen lassen, sorgfältig abzuwägen. Vermieden werden sollte, dass eine Standardkritik von Macht, Entfremdung und Abstraktion (der Arbeit, der kognitiven und physischen) schlicht mit einer Kritik an antiviralen Präventivmaßnahmen zusammenfällt. Ich sage jedoch nicht, dass letztere nicht dazu benutzt werden könnten, die erstere zu fördern.

In welchem Sinne sind die Schule und die Fabrik komplementäre Institutionen, was die “Behandlung” der Bedrohung durch “unberechenbare” Verbindungen zwischen Gruppenmitgliedern betrifft?

In den vergangenen Tagen habe ich (mal wieder) die vierte Staffel der ausgezeichneten Fernsehserie The Wire gesehen. Wie Fans von The Wire sehr gut wissen, ist dies die Staffel, die sich auf das Schulsystem von Baltimore, Maryland in der Mitte der 2000er Jahre konzentriert – einer Stadt mit mehrheitlich Schwarzer Bevölkerung. Verschiedene storylines von Schüler*innen, Lehrer*innen, Schulleiter*innen und Pädagog*innen in einer urbanen middle school werden quasi-dokumentarisch ineinander verwoben werden. Dadurch wird auch das Versagen des Systems, den Bedürfnissen und Belangen der Schüler*innen wie auch der Gemeinschaft als Ganzer zu entsprechen, greifbar. Überzeugend wird die Dringlichkeit der Themen von Raum, Räumlichkeit, Trennung/Segregation im Bildungswesen verdeutlicht. Das Klassenzimmer erscheint als ein einziges Kraftfeld der Auseinandersetzung und Konfrontation.

Abhängig von den zuständigen Lehrer*innen und den Schüler*innen im Raum können jedoch curriculare und räumliche Maßnahmen ergriffen werden, um das Klassenzimmer in einen Raum des tatsächlichen Lernens und der Zusammenarbeit zu transformieren. Dafür zeigt sich jedoch in The Wire, dass sich eine räumliche Trennung derjenigen Schüler*innen empfiehlt, die keinen Mehrwert in dem angebotenen Lehrplan sehen, aber ein vitales Interesse daran haben, Fähigkeiten rund um den Dealen an den corners des Drogenhandels und des Überlebens inmitten von Bandenkriegen zu erlernen und zu verfeinern. “Nützliches Wissen” kann dann erzeugt und erworben werden, wenn die sozio-räumlichen Notwendigkeiten des Lernens berücksichtigt werden.

Um „’unberechenbare’ Verbindungen“ zu verhindern, gilt es jedoch manchmal, Lösungen finden, die über eine standardmäßige (bestrafende) Isolierung hinausgehen. Was dies im Hinblick auf COVID-19-induzierte Isolationen bedeuten könnte, vermag ich nicht sagen. Ich wäre jedoch neugierig, was David Simon (Schöpfer von The Wire sowie The Corner, Treme und The Deuce) aus der gegenwärtigen Krise in seinem Schreiben über und von erzieherischen Lebenswelten machen würde.

Eines der Phänomene (und Probleme) der gegenwärtigen Pandemie besteht darin, dass “wir” gezwungen sind, jede potentielle Ansteckungsgefahr zu vermeiden, indem wir isolierte Leben im reinen Online-Modus führen. Das Internet wird als ansteckungsfreier Raum beworben. Im Zuge dessen boomt das Online-Lernen ohne eine tiefere Untersuchung seiner Werkzeuge, Methoden und Folgen, und die Isolation des Einzelnen wird mehr oder weniger als selbstverständlich vorausgesetzt. Inwieweit geht es darum, Tendenzen zu konsolidieren, die darauf abzielen, den “menschlichen Risikofaktor” zu verringern (einschließlich Student*innenstreiks), und inwieweit geht es darum, die Menschen auf die “schöne neue Welt” eines noch reibungsloseren Kapitalismus vorzubereiten?

Auch hier wäre ich vorsichtig damit, vorschnell aus der Phänomenologie einer Situation zu extrapolieren, die immer noch und wohl in erster Linie als eine Situation des Gesundheitswesens und der Pflege und Für-Sorge zu betrachten ist (mit allen sozialen, psychologischen, wirtschaftlichen, ökologischen Implikationen und Auswirkungen). Das gesamte System der Videokonferenzen, des Fernunterrichts, der Live-Streams usw. hat nicht auf die “Corona-Krise” gewartet, sondern ist schon seit langem im Entstehen begriffen. Frühere Versuche von Fernstudium, Tele-Universitäten usw. in großem Maßstab gehen auf die 1960er und 1970er Jahre zurück. Es war immer der Traum des Technologiesektors, die materiellen Räumlichkeiten und Infrastrukturen, die physische und gelebte Sozialität abzuschaffen.

Die Teleologie der Kybernetik ist die Virtualisierung der materiellen Welt, ihre Übersetzung in Daten. Das ist eine Tatsache. Und zweifellos profitieren die digitalen Industrien enorm von der Pandemie und dem Gebot der sozialen Distanzierung, zumindest auf kurze Sicht. Denn was sich in nur wenigen Wochen sehr deutlich gezeigt hat – die Versprechungen von Zoom, Skype, Netflix und dergleichen können auch schnell schal und öde werden. Sie erzeugen ihre eigene Müdigkeit und Langeweile, eine gefährliche Unzufriedenheit – und das Silicon Valley ist zweifellos bereits damit beschäftigt, eine Therapie dafür zu entwickeln (parallel zu Big Pharmas Wettlauf um einen Corona-Impfstoff und Behandlungsmöglichkeiten der Viruserkrankung).

In den 1960er Jahren trugen die Schriften von Norbert Wiener und J. C. R. Licklider dazu bei, die Idee der Künstlichen Intelligenz (KI) an den US-Universitäten wie ein Lauffeuer zu verbreiten und das populäre Bild des “maschinellen Superhirns” entstehen zu lassen – das wurde sogar zu einem Filmstar in Stanley Kubricks “2001: A Space Odyssey” (1968). Dieser KI-Hype katalysierte einen Übergang, in dessen Verlauf der Kapitalismus als ein sich selbst reproduzierendes, selbst am Laufen haltendes und schließlich “intelligentes” System neu erfunden wurde. In dieser Zeit vollzog das Kapital den Sprung in eine neue, immaterielle Ära, die auf die allumfassende Instrumentalisierung der Arbeit ausgerichtet war, während es gleichzeitig so konzipiert war, dass es sowohl der Arbeit als auch den Arbeitskämpfen, z.B. in Form von Arbeiter*innen- (und Student*innen-) Revolten, aber auch den Widerstandsbewegungen in den (ehemaligen) Kolonien, völlig rechenschaftslos gegenüberstand. In dieser Zeit schrieb Buckminster Fuller, dem man nachsagt, KI und das Internet verstanden zu haben, bevor sie zum Mainstream wurden, in seinem Buch “Education Automation” (1962) über hoch personalisierte Formen und Räume des Lernens, wobei er frühe Versionen des Fernunterrichts und der Fernlehre darstellte. Welches sind die Vorgeschichten, die Sie in diesem Zusammenhang für relevant halten?

Sie haben Recht, wenn Sie auf die Wechselwirkungen zwischen der Kybernetik (und der (Vor-)Geschichte der KI) und einer Pädagogik hinweisen, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt und somit auf eine Personalisierung des Lernens abzielt (wie bei dem “Kind-zentrierten” Ansatz, der jedem “differenzierten” Lehrplan und Schultyp innewohnt). Buckminster Fuller stand mit seiner Forderung nach einer radikalen Überarbeitung des Bildungssystems in den 1960er Jahren nicht allein. Eine ganze Generation junger Architekt*innen, Pädagog*innen, gegenkultureller Typen usw. propagierte eine neue Raum- und Gestaltungspolitik, die auf das lernende Selbst ausgerichtet war (siehe z.B. mein Spaces of the Learning Self). Solche Imaginationen von außerschulischen Lernumgebungen für den singularisierten Lernenden, der “Kapseln” und “Studienkabinen” bewohnt, entfernten sich von einer neuen Wachstumsökonomie in den rasch expandierenden Bildungssystemen der Nachkriegsjahrzehnte, d.h. von dem, was ich als Bildungsschock bezeichnen möchte.

Man könnte argumentieren, dass das Streben nach autonomen Systemen der (Wissens-)Produktion, das in der Entwicklung der KI impliziert ist, die Debatten um die Schulbildung über die Grenzen des Schulgebäudes hinaus erheblich beeinflusst hat. Auch wenn es sich um eine vernetzte Technologie handelt, so stellte man sich KI in ihren frühen Tagen eher als Kraft in (und aus) einem zentralen Supercomputer vor. Die individualisierten Lernenden sollten von einer einzigen HAL-ähnlichen Maschine mit Gehirnfutter versorgt werden.

Auf die Bedürfnisse des Individuums einzugehen, ist ein wichtiges Ziel jeder modernen Pädagogik; dieser individualisierende Zugang muss jedoch durch die Anerkennung der sozialen und Umweltbedingungen ausgeglichen werden. In den progressiven und gegenkulturellen Diskursen der Jahre um 1970 wurde die* einzelne Lernende daher auch immer in eine “Gemeinschaft” oder einen “Stamm” verortet. Der Computer wurde als ein Mittel angesehen, um eine “radikale Software” hervorzubringen, und das Lernen wurde als eine im Wesentlichen befreiende und emanzipatorische Aktivität konzipiert, die sich gegen die Lernfabriken der kapitalistischen Bildung (und der Bildung für den Kapitalismus) richtete.

Es muss jedoch betont werden, dass die individualistisch/tribalistischen Visionen der (westlichen) Gegenkulturen typischerweise ihre eigenen Privilegien, ihren inhärenten Elitismus außer Acht ließen. Unbeabsichtigt (oder auch nicht) haben sie sich von der Welt der Arbeit und ihrer Kämpfe abgekoppelt. Die Kritik an den “Maschinen” der Bildungsindustrie – die sich in den riesigen, für Tausende von Schülern gebauten Bildungszentren oder in den überall ausufernden Megastrukturen auf dem Universitätscampus materialisierten – war oft auch Artikulation einer Herablassung gegenüber den neuen “Massen” im Bildungswesen, die (im Westen) durch die wohlfahrtsstaatliche Bildungspolitik und (im Osten) durch sozialistische Maßnahmen zur Erweiterung des Zugangs zu Lernen und Wissen erzeugt wurden.

Die realen und substanziellen Verbindungen zwischen einem expandierenden Bildungssystem, das darauf ausgerichtet war, Arbeiter*innen für die neuen Wissensindustrien zu produzieren, und dem Klassenkampf wurden zunehmend unsichtbarer. Zweifellos hatte die Technologie, genauer gesagt die Kybernetik, sicherlich ihren Anteil an dieser Entwicklung (wobei auch hier die besondere historische Rolle der Kybernetik in den kommunistischen Ländern berücksichtigt werden muss).

Entwürfe von Lernumgebungen, wie sie auf einem Foto von Leon Kunstenaar aus dem Jahr 1971 abgebildet sind, sehen auffallend nach computergestützten Arbeitsplätzen aus. Hier oszilliert der Ausdruck “isolierte Individuen in einem Gruppenkontext” zwischen der Fabrik und der Schule und erinnert an Hybride wie “Fabriken der Bildung” und “Schulen der Arbeit”. Es scheint, dass das isolierte Individuum – sein Körper und sein Gehirn – erfolgreich zum Schlüsselort für die Produktion und Akkumulation von “konstantem Kapital” wird, wenn die disziplinären Diskurse des Arbeitens und Lernens nicht nur vermischt, sondern auch in ein zirkuläres Verhältnis gesetzt werden – wie sehen Sie das?

Das Foto des sechseckigen “Lernlabors” wurde in einer “experimentellen” Schule im Raum Boston aufgenommen. Die Trotter-Elementary School in Roxbury wurde um 1970 eröffnet und wurde hauptsächlich von schwarzen Kindern besucht. Eine Grundidee bei der Gestaltung der Schule war es, “offene” Gruppenarbeit mit individualisierten Lernstationen wie der hier abgebildeten zu kombinieren. Die Zirkularität dieser besonderen Umgebung ergibt sich aus den sechseckigen Entwürfen großer Teile der Schule. Sie war eher die Ausnahme als die Regel in einer Zeit überwiegend containerförmiger Großschulen. Ich würde also noch einmal vor einer zu glatten Analogie zwischen Fabrik und Schule warnen. Obwohl ich darin übereinstimme, dass die Arbeit, die das Lernen ist, das Dilemma ist, das selbst die “fortschrittlichsten” architektonischen Entwürfe des Zeitalters des Bildungsschocks umgetrieben hat.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie wir die Politik des isolierten Lernens, wie sie während der aktuellen Pandemie reaktiviert und neu erfunden wird, neu überdenken können.

Hier ist ein ähnliches Bild wie das aus Taiwan, das Sie erwähnt haben. Es zeigt, wie es in der Bildunterschrift heißt: “Oberstufenschüler lernen mit Plastiktrennwänden in einem Klassenzimmer”. Das Foto wurde im April 2020 in einer Schule in Wuhan aufgenommen und erinnert an Begegnungen in der Öffentlichkeit, die jede* in den vergangenen Wochen hatte – Plastiktrennwände zwischen Kassierer*innen und Kund*innen. Es ist das Bild einer Welt, die sich bereits seit sehr langer Zeit in einem ständigen Prozess der Einführung von Sicherheitsmaßnahmen befindet. Tausende von Geschäften und Büros auf der ganzen Welt sind mit der (oft kugelsicheren) Kunststoffabschirmung versehen, die Kund*innen (potentielle Einbrecher*innen) von Mitarbeiter*innen (systemrelevant) trennt.

Arbeitsplatzsicherheit und Schutz am Arbeitsplatz sind nur zwei Seiten einer sich immer schneller drehenden Medaille. Der Schutz der (Pflege-)Arbeitnehmerin wird angeblich zur Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit des Systems. Was aber ist eine geschützte Art des Lernens? Ein eingezäunter Schulhof mit Security-Personal auf Patrouille? Sicherlich nicht. Ich neige jedoch dazu, das Klassenzimmer mit Plastiktrennwänden als einen potenziell “sichereren” Raum zu betrachten als die vier Wände des Home Schoolings. Obwohl um 1970 “freie Schulen” als utopische Alternative zu den Lernfabriken des öffentlichen Schulsystems gepriesen wurden, waren das Zuhause und die Privatsphäre der Familie immer potentielle Ermöglicher von Gewalt und Missbrauch. Die formale, öffentliche Bildung mag über die Maßen mangelhaft sein, aber sie ist auch die einzige zur Verfügung stehende Plattform, auf der eine rechenschaftspflichtige und geschützte Bildung stattfinden kann. Home Schooling und Fernunterricht sind keine Alternative.

Anm. d. Red.: Die Fragen stellte die Berliner Gazette Redaktion. Das Bild oben ist ein YouTube Video-Still von South China Morning Star/CCTV).

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