Lebendige Aussenseiter

Einsamkeit hat meine Phantasie schon immer mehr erregt als jede Art von Gemeinsamkeit. Vielleicht, weil man das Gemeinsame so wenig spuert wie den Koerper, in dem man gefangen ist. Gemeinsamkeit ist langweilig, sie schmeckt nach Unifizierung. In der medialen OEffentlichkeit gibt es so viel Gemeinsamkeit, dass einem uebel wird. Wenn man nach zwei Wochen Rueckzug aufs polnische Land nach Berlin zurueckkommt, fuehlt man sich von den Statements in TV und Radio niedergebruellt. Zu jeder Stunde auf allen Radiosendern die gleichen gestanzten Meldungen. Auch wenn das gar nicht versuchter Manipulation, sondern oekonomischer Ratio geschuldet ist [welcher Sender kann sich noch eine vollwertige Nachrichtenredaktion leisten?], fuehlt man sich dennoch ein bisschen wie in Orwells Staat.

Als Aussenseiter habe ich mich immer lebendiger gefuehlt. Mit dieser Suche nach dem Fremden erklaere ich meine fruehe Hinwendung zu Russland, zur russischen Revolution. Die Sowjetunion, Versteinerungsprodukt dieser Revolution, besass in den 1980ern noch genug vom Sex-Appeal der gewaltsamen Umwaelzung. Auf die Lektuere von Leo Trotzki und Lenins blauen Baenden wandte ich viel Zeit und Energie. Russisch war nicht irgendeine Sprache, sondern der Code fuer einen Gegenentwurf zur vermeintlich laeppisch-bequemen Liberalitaet vieler meiner Kommilitonen im westlichen Berlin. Das war die Flucht aus der tatsaechlichen Gemeinsamkeit in eine ersehnte Fremde, die Sehnsucht nach einem asketischen, kaempferischen Herangehen [russ. podchod] an die Welt. Der russische Begriff bezeichnet im Gegensatz zur passiven deutschen Einstellung gerade das Aktive, die Bewegung. Er buergerte sich auch in Ostdeutschland ein und markierte so die Teilung auch semantisch, in einem einzigen Wort.

Lange bevor die Sowjetunion physisch auseinanderbrach, begann die geistige Anziehungskraft ihrer Fremdheit, die mich inspirierte, zu broeckeln. Polen war dabei ein wichtiger Katalysator. Die polnische Literatur war schon Jahrzehnte vor der Wende freier und inspirierender, als die staatlich kontrollierte sowjetische. Heute widme ich der Politik, den Kontakten mit Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Berater ebenso viel Zeit wie der polnischen und ukrainischen Literatur. Das sind zwei Welten, die eigentlich nur an der Naht der gemeinsamen Sprachen zusammenhaengen.

Das Interesse des Politikberaters ist ein ganz anderes als das des Literaten. Autoren und Kuenstler empfinden es oft als obszoen, dass ich mich mit bestimmten russischen Politikern abgebe [Namen will ich hier nicht nennen, weder der einen noch der anderen]. Hinter der Politik steht die OEkonomie. Deutsche Unternehmen sind stark auf dem oestlichen, vor allem dem russischen Markt. Marktwirtschaft braucht Gemeinsamkeit. Je einheitlicher die Regeln und Waehrungen, desto leichter lassen sich Geschaefte machen. Auch aus Gruenden der Sicherheit muss die deutsche Politik daran interessiert sein, den Koloss Russland zu integrieren.

Transformation war der Schluesselbegriff nach der Wende: Die Reste des zusammengebrochenen totalitaeren Sowjetsystems wegraeumen, Annaeherung an westliche Massstaebe von Rechtssicherheit und Demokratie fordern. Dieser Prozess ist in Mittelosteuropa geglueckt, in Russland aber schon nach zehn Jahren ins Stocken geraten. Die juengsten Entwicklungen haben das endgueltig bewiesen. Die narzisstische Kraenkung des Grossmachtverlustes, der Zerstueckelung des Imperiums hat offenbar einen gewaltigen Drang zur imperialen Wiedergeburt ausgeloest. Man will eine grosse Nation sein und deutet doch Groesse noch immer in Kategorien der rein geographischen Machtausdehnung. Kleinere, unbotmaessige Nachbarn laufen so Gefahr, unterwuehlt und annektiert zu werden.

Kuerzlich war ich einige Wochen mit Andrzej Stasiuk in Ostsibirien und im fernen Osten Russlands. Abseits der touristischen Wege wollten wir die Lebenswirklichkeit dort erkunden. Es war auch ein Experiment an uns selbst: Wie kommen der typisch russlandkritische Pole und der tendenziell russophile Deutsche miteinander aus? Kriegen wir uns dort in die Haare? Entstehen soll daraus ein gemeinsames Buch, ein Reisebericht in zwei Stimmen. Unsere objektiven Beobachtungen waren zwiespaeltig: Unbestreitbar ist die Globalisierung de facto. In jedem Supermarkt gibt es deutsche Frucht-Joghurts und Suessigkeiten. Das Leben jener Schicht, die Geld hat, ist stark verwestlicht. Andererseits und gleichzeitig wachsen eine Mentalitaet der Isolierung, das Gefuehl der Verlassenheit in der Welt und der daraus wachsende Zusammenhalt. Ansonsten kluge Menschen verbreiten Verschwoerungstheorien von Chinesen, die meningitisinfizierte Zecken saeckeweise ueber Sibirien abwerfen, und perfiden Amerikanern, die im Baikalsee Piranhas aussetzen, damit die den Fischbestand dort dezimieren.

Als aufgeklaerter Westler kann man darueber natuerlich nur laecheln. Als Literat aber ist man fasziniert und wuenscht sich heimlich, dass dieses Andere sich nicht so einfach besaenftigen und beseitigen lassen moege – damit wir am Ende nicht an unserer globalen Gemeinsamkeit ersticken.

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