Lange Harren

Fuer einen Punkt geben die von anfaenglich kleinen Studentengruppen ausgeloesten Proteste und Revolten, die vor allem in Frankreich 1968 einen konkreten Hoehepunkt erreichen, in anderen Laendern, wie Deutschland, jedoch bloss in der geschichtlichen Erinnerung ein ueberragendes Datum bedeuten, ein sehr gutes Beispiel ab: Ein tiefgreifender, ansteckender Drang nach gesellschaftlicher Aenderung muss nicht mit einer oekonomischen oder auch nur sozialen Krise einhergehen. Das Ende der 1960er Jahre bildet mit Ausnahme vielleicht Englands [wo die Proteste ironischerweise auch noch gemaessigt ausfallen] noch nicht das Ende einer Phase enormen wirtschaftlichen Wachstums und technologischer Expansion, die in den USA mit, in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzt.

Ein tiefer materieller Mangel kann deshalb nicht als Grund der Aufstaende dienen, zumal in den USA bereits seit Mitte der 50er Jahre, in Deutschland immerhin seit Mitte der 60er Jahre die Angebote fuer einen vanciert antipuritanischen Konsum bzw. eine hedonistische Freizeit teilweise bereits abseits kleiner Szenen als Waren oder mediale Gueter massenhaft bereit stehen. Die Verschmelzung von [sexueller] Liberalitaet und [jugendlicher] Popkultur ist zwar laengst noch nicht in jedem Elternhaus, Stadtviertel und schon gar nicht in jeder Kleinstadt oder Provinz angekommen. Fuer die grossstaedtischen Studenten, von denen die politischen Proteste initiiert werden, stellt sie aber sehr wohl eine greifbare Moeglichkeit dar.

Angesichts dieser Lage weisen die Absichten und theoretisch begruendeten Plaene der ausserparlamentarischen Opposition und der Neuen Linken eine grosse Folgerichtigkeit auf. Nach vielen Ereignisschilderungen und psychologischen Spekulationen ueber die Motive einzelner 68er auf der einen Seite und dem anachronistischen Lob ueber die liberalen Wirkungen der Proteste auf der anderen Seite ist es heute zumindest aus historiographischer Sicht wieder notwendig, an diese ideologisch-politische Ausrichtung zu erinnern. An Forderungen, die sich nicht auf die materielle Grundausstattung der proletarischen Bevoelkerung bzw. weiter Kreise der Lohnabaengigen richteten, sondern andere zentrale Maengel in den Vordergrund rueckten, um von ihnen aus zu einer radikalen Kritik der bestehenden Gesellschaften [auch der des realsozialistischen Blocks] anzusetzen.

Mit der Verabschiedung der Arbeiterklasse als traditionellem Motor der Veraenderung sind konsequenterweise verschiedene Versuche verbunden, neue revolutionaere Subjekte zu finden [Marginalisierte, Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, aber auch Studenten]. Schluessig ist dann auch, an die Stelle der Anklage von Ausbeutung und materieller Verelendung teilweise [oder weitgehend] die Kritik der Entfremdung zu setzen. Speziell die Konsumkritik der Neuen Linken bildet einen Ansatz, der Integration der Arbeiterklasse ins kapitalistische System ideologischen Widerstand entgegenzusetzen. Manipulation, Isolation und fehlende Moeglichkeiten eigenstaendigen Engagements werden freilich sogar in allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen beklagt, selbst in der Universitaet. Die harsche Kritik an vielfaeltigen moeglichen Formen autoritaerer Abstaende und Hierarchien geht weit ueber eine Kritik offener Repression und staatlicher Machtausuebung hinaus. Sie bezieht sowohl das Intim- bzw. Privatleben als auch die aus Sicht der Neuen Linken nur scheinbar technisch begruendeten Formen der Arbeitsteilung ein.

In Vorwegnahme der angestrebten direkten Demokratie in den Betrieben und der politischen Verwaltung streben die antiautoritaeren Wortfuehrer der Neuen Linken als ihre politische Handlungsbasis nicht eine Partei und als ihre Buehne das Parlament an, sondern eine Bewegung, die sich in der [wenn nicht immer legalen, so doch stets im Sinne eines hoeheren Rechts legitimierten] oeffentlichen Aktion ihr eigenes Programm und ihre eigene voruebergehende Struktur gibt. Das geht nicht selten sogar bis zu einer [theoretischen] Ueberfuehrung einiger Organisationsformen der antiimperialistischen Kaempfer in Lateinamerika und Vietnam nach Westeuropa und Nordamerika; auch bei der Guerilla sieht man die Aufhebung der mannigfaltigen, ueberall in der westlichen Welt herrschenden Trennungen am Werk.

Kritik an all diesen Punkten ist zweifelsfrei sowohl politisch als auch wissenschaftlich sehr leicht moeglich. Insgesamt faellt vor allem auf, dass die Konzeption der Neuen Linken im Bemuehen, alle Bereiche radikal zu demokratisieren, ueberall fuer Beteiligung und egalitaere Mitbestimmung zu sorgen, in vielen Faellen einen totalitaeren Zug annimmt. Trotzdem oder gerade deshalb bleibt jedoch ein Grundimpuls dieser Ueberlegungen bis heute von Bedeutung, wenn er sich mit anderen politischen Projekten verbinden laesst, wie in der zweiten Haelfte der 60er Jahre vor allem mit der Kritik an der martialischen Intervention der Amerikaner in Vietnam.

>Many of us can no longer tolerate psychologically the demands of orthodox jobs or the training they require<, haelt ein Mitglied des amerikanischen SDS 1968 fest, und wenn auch heute diese Diagnose als politische Aussage tatsaechlich selten zu hoeren ist, bleibt sie zumindest umformuliert, als Frage oder verwunderte Feststellung, sicherlich weiterhin im Raum: Wie ist es moeglich, mit diesen Arbeitsbedingungen, mit der Langeweile der Schule und der Ausbildung, mit der staendigen Unterordnung unter die Ansprueche und Anweisungen Vorgesetzter oder anonymer Instanzen unwidersprochen zu leben?

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