Vom fertigen Produkt zum offenen Prozess, oder: Kultur als Software

Heute zählt nicht mehr das Endprodukt allein, sondern der Entstehungsprozess. Nicht zufällig rücken ihn Modelabels oder Biobauern in den Mittelpunkt von Genuss und Vermarktung. Und Kulturschaffende? Auch an ihnen geht dieser Paradigmenwechsel nicht vorbei: Eigentlich fabrizieren sie nur noch Versionen und Updates – wie im Bereich der Software. Der Journalist und Autor Dirk von Gehlen berichtet.

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Die Macher des Modelabels Honest by präsentieren ihren Kunden auf ihrer Website nicht nur ihre Hemden und Mäntel, sie zeigen auch, wie sie diese herstellen und wie sie die Preise für ihre Mode kalkulieren: Woher kommt der Stoff? Wie viel kostet der Transport? Welche Gewinnmarge rechnet das Label ein?

Es gab eine Zeit, da gehörten die Antworten auf all diese Fragen zum Geschäftsgeheimnis einer Firma. Sie gingen niemanden etwas an. Nun scheint aber eine Zeit zu kommen, in der die Antworten auf diese Fragen sehr wohl Bestandteil des Produktes sind, das verkauft werden soll. Aus der Bio- und Fairtrade-Bewegung ist diese Form der Offenheit bekannt: Der Prozess verleiht dem Produkt einen neuen Wert.

Wenn ich weiß woher der Stoff für eine Jeans kommt, welche Kosten und wie viel Co2 durch den Transport verursacht werden und welchen Gewinn der Hersteller für sich behält, kann ich den Wert, den ich dem Produkt zuschreibe, viel besser begründen. Dabei geht es sowohl um ethische Kategorien als auch um Maßstäbe der Qualität.

Was ist Qualität in der digitalen Ära?

Dieser Begriff wird überall dort gerne bemüht, wo es darum geht, Abgrenzung vom Durchschnitt zu schaffen. Wenn Produktionstechniken beispielsweise demokratisiert werden, ist ein wichtiger Differenzierungsschritt, die professionellen Produkte von denen der Amateure zu unterscheiden, in dem man eine besondere Qualitätskategorie einführt.

Hersteller von Fotoapparaten haben deshalb Profi-Kameras im Sortiment und Verlage haben deshalb den Begriff Qualitätsjournalismus geprägt. Wie aber kann man Qualität in Zeiten der digitalen Kopie nachweisen und erlebbar machen? Der Antwort kommt man auf die Spur, wenn man zunächst betrachtet, was nicht kopiert werden kann: der einmaligen Entstehungsprozess eines auch digitalen Produkts.

Ein Song wird nur einmal komponiert, ein Artikel nur einmal geschrieben, ein Film nur einmal gedreht. Die Phase der Entstehung ist nicht wiederholbar; sie mag langweilig, redundant oder nur für wenige interessant sein. Sie ist aber vor allem: ein unkopierbarer Bestandteil des Produkts, das einmal digitalisiert kopierbar und somit flüssig wird.

Entstehungsbedingungen offen legen

Die Macher von Biolebensmitteln haben das genauso erkannt wie das Modelabel Honest by. Sie legen die Entstehungsbedingungen offen, obwohl ein Bioei ebensowenig kopierbar ist wie ein Mantel von Honest by. Wie wäre es da erst, wenn bei digitalen Produkten die Entstehungsbedingungen offen gelegt würden? Bei der Produktion von Software kann man genau das sehen. Sie wird modular und von vielen produziert, man kann in Versionen springen und Einblick in den Prozess nehmen. Bei dem digitalen Produkt Software ist dieser Form selbstverständlich.

Durch die Digitalisierung werden auch Songs, Texte und Bilder zu Software, sie gehorchen den gleichen digitalen Bedingungen. Sie sind also nicht mehr unveränderliches Endprodukt, sie stehen im Mittelpunkt eines Veränderungsprozesses. Cover-Versionen, Mashups und Remixe sind schon heute die Entsprechung zu Software-Updates. Doch diesen Gedanken kann man auch auf den Zeitraum vor der Veröffentlichung übertragen. So wie Software in Versionen erstellt wird, könnten Fans auch an der Entstehung eines Buches teilnehmen oder dem Stream aus dem Tonstudio ihrer Lieblingsband folgen, in dem diese einen Song entstehen lässt.

So erleben die Kulturfans was Fußball-Fans ins Stadion zieht: die Teilnahme an einem einzigartigen Moment. Zusätzlich steckt in dieser Teilnahme der Ausweis einer besonderen Qualität. Modelabels und Biobauern haben bereits erkannt, dass ein transparenter Entstehungsprozess dem Endprodukt nützt – warum sollten nicht auch Musiker, Autoren oder Filmemacher das ausprobieren können?

Anm.d.Red.: Der Verfasser dieses Beitrags hat im vergangenen Herbst das Crowdfunding zu “Eine neue Version ist verfügbar” (enviv) gestartet. 350 Leserinnen und Leser unterstützten ihn – und durften ihm dabei beim Schreiben des Buches beobachten. In diesen Tagen erscheint das Buch nun in einer Update-Version – als Dokument seiner Entstehung und als Antwort auf die Frage, wie Kunst und Kultur in Zeiten der Digitalisierung finanziert werden könnten: als Software. Das Foto oben stammt von Christian Straub, cc by 2.0.

15 Kommentare zu “Vom fertigen Produkt zum offenen Prozess, oder: Kultur als Software

  1. alles soll heute ökonomisch verwertet werden, jetzt also auch der entstehungsprozess einer ware – ist das tatsächlich eine entwicklung, die man begrüßen sollte?

  2. @ jaq: Wieso denn nicht? Ich finde, dass Transparenz zu einer größeren Sensibilisierung führt. Natürlich kann man sich darüber streiten, ob es dann nicht irgendwann zu einem “informativen Overkill”, aber dennoch finde ich es gut zu wissen wo meine Produkte, egal ob das Kultur- oder Nahrungsgüter betrifft, herkommen.

  3. @nachtkritik.de: Interaktives Theater gibt es schon. Dabei ist die Basis eine Rahmenhandlung, deren Verlauf allerdings das Publikum bestimmt, indem es immer wieder spontan Stichwörter einwirft und die Schauspieler dann darauf reagieren.

  4. Bei manchen Produktionen mag das gehen, bei vielen nicht. Als Konsument stelle ich es mir nur begrenzt spaßig vor zuzuhören, wie eine Band einen Song 50 Mal spielt, bis er dann schließlich sitzt. Ich will der Fußballmannschaft nicht beim Trainieren zuschauen, sondern erleben, wie sie beim Spiel gegen die Gegner reüssiert. Umgekehrt werden auch Musiker oder Fußballer sind ungern in ihre Trickkiste schauen lassen; da haben sie aus guten Gründen ein paar Geheimnisse.

  5. @Manuel: Fakt aber ist, dass das Training von Fußballmannschaften vermarktet wird wie ein tolles Event. Pep Guardiola kannte das aus Spanien nicht und musste sich in Deutschland erst daran gewöhnen. Soviel zum Offenlegen der Trickkiste… und zur Vermarktung von Übungen, die zur (vermeintlich) eigentlichen Performance befähigen sollen…

  6. @benno: Zugegebenermaßen bin ich nicht so der Fußball-Crack, aber denke mir, dass die sich schon genau überlegen, was sie der Öffentlichkeit zeigen oder nicht, zumal sich in dieser Öffentlichkeit ja auch Spione der Gegner befinden könnten. Ist mir auch nicht aufgefallen, dass das Fernsehen strotzt vor Training-Voyeur-Sendungen. Wäre als Billigformat natürlich ein Traum für die Sender.

  7. Ich bin auch kein Fußball-Crack, weiß aber, dass es öffentliche Trainingseinheiten gibt, für die auch ordentlich die Werbetrommel gerührt wird und andrerseits welche, an denen nur Trainer und Mannschaft teilnehmen.

  8. @Manuel. Ich finde, dass auch Fussballer und Bands durchaus offen legen, was sie machen. Vielleicht nicht in dem Maße wie in anderen Produktionsstätten, aber es existieren Filme, Dokus und Werbevideos zum Fußball, wie die Spieler trainieren usw. Also…dein Argument ist ungültig ;-)

  9. @Boris: Ja, natürlich gibt es solche Sachen. Die Einstürzenden Neubauten machen das seit Jahren, und auch die Nationalmannschaft lässt gucken. Aber die Regel ist das nicht. Und selbst wenn sie Dir fast alles zeigen, werden die schon sehr genau darauf achten, was sie Dir nicht zeigen. Ich habe mich nicht gegen das hier vorgeschlagene Prinzip ausgesprochen, nur gesagt, dass es Grenzen hat und sicher nicht die Lösung aller Probleme ist.

  10. Wie haben z. B. CAN oder The Stooges gearbeitet? Kräftig stundenlang gejammt, und sich dann die besten Passagen rausgesucht. Was sie rausgeschnitten haben, ist aus guten Gründen rausgeflogen. Wenn’s jemanden interessiert: Nun ja, viel Spaß!

  11. Auch wenn das anscheinend schon viele Bands oder eben auch die Nationalmannschaft praktizieren, finde ich nicht, dass es unbedingt notwendig ist. Wer lässt sich schon gerne in die eigenen Karten schauen?

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