Synthetische Folklore: Wenn Künstliche Intelligenz Kunsthandwerk erstellt

Was wäre, wenn eine künstliche Intelligenz darauf trainiert würde, „Folklore“ zu kreieren? Können Datensets und Algorithmen die komplexen Charakteristiken und Bedingungen, die dem Erstellen von regionalem, menschlichen Kunsthandwerk zu Grunde liegen tatsächlich simulieren? Und so im digitalen Verweben textiler Muster zu hierarchieloseren kulturellen Hybriden gelangen, als die menschliche Kreativität? Ein Künstler aus Polen hat genau das ausprobiert. Die Berliner Gazette-Autorin und Kunstkritikerin Julia Gwendolyn Schneider hat sich die Arbeit „Synthetic Folklore“ in Warschau angeschaut.

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„Synthetic Folklore“ (2019) besteht aus großformatigen computergenerierten Mosaiken, deren abstrakte Muster manchmal auch figürliche Elemente erkennen lassen, etwa comicartig geformte Tierköpfe, vor allem aber stellen alle Werke ihre Pixelästhetik unweigerlich zur Schau. Laut Pressetext möchte Janek Simon mit „Synthetic Folklore“ danach fragen, ob und wie künstliche Intelligenz (KI) uns vor den Fallen der Homogenisierung, der Xenophobie und des Essentialismus schützen kann.

Dass künstliche Intelligenz dabei behilflich sein könnte, solche Fallen zu umgehen, wirkt erstmal fragwürdig. Entsteht nicht momentan eher das Bild, als würde maschinelles Lernen dafür sorgen, dass unklar ist, welche Werte in Zukunft gelten werden? Oder weiter gedacht: Werden bestehende Diskriminierungen nicht einfach fortgeschrieben, wenn nicht gar durch die Automatisierung verstärkt? An sich aber ist es eine absolut relevante Frage, ob KI nicht dazu dienen könnte eine bessere Welt zu erschaffen.

Neuer Universalismus im Zeitalter der Identitätspolitik

Wie drückt sich das utopische Potential von KI in den Mosaiken aus? Der Künstler hat eine Datenbank mit ausgewählten kulturellen Motive von Textilen aus Indien, Afrika, Südamerika, Europa und Polen gespeist und eine künstliche Intelligenz darauf trainiert, daraus Bilder zu generieren. Laut Text im Begleitbuch zur Ausstellung sollen die Mosaike verdeutlichen, dass Tradition und Kultur nicht homogen seien, sie würden vielmehr kollektiv durch komplexe Prozesse des Austauschs und der Aneignung erzeugt. „Synthetic Folklore“ frage danach wie ein neuer Universalismus im Zeitalter der Identitätspolitik aussehen könne. An anderer Stelle wird auch von einem „hybriden Universalismus“ gesprochen, denn schließlich soll es darum gehen, auf einen totalisierenden, vereinnahmenden und als essentialistisch in Verruf geratenen Universalismus zu verzichten, aber die Universalität der Menschenrechte soll hochgehalten werden.

Simon versucht mit seinen KI-Mosaiken eine wichtige Debatte zu vermitteln, es stellt sich aber ein wenig die Frage, ob die gewählte künstlerische Form diese Inhalte wirklich transportieren kann, zumal KI nicht objektiv ist, sondern mit vorgegebenen Parametern operiert, in diesem Fall denen des Künstlers. Simon ist sich der Problematik bewusst: „Es ist enorm schwer einen universellen Wertekanon zu schaffen und extrem problematisch, weil es immer einen Ausgangspunkt geben muss, es unmöglich ist, nicht irgendwo anzufangen. Also wird an einer Stelle begonnen und dadurch der gesamte Rahmen beeinflusst in dem eine Diskussion stattfindet. Es ist eine utopische Idee darüber zu spekulieren, dass Algorithmen uns tatsächlich dabei helfen können verschiedene Sichtweisen auf einer horizontaleren Ebene zu verhandeln, ohne das es eine privilegierte Position gibt.“

„Synthetic Folklore“ ist auch der Titel der von Joanna Warsza kuratierten Retrospektive, die im Ujazdowski Castle Centre for Contemporary Art in Warschau ausgewählte Werke von Janek Simon über einen Zeitraum von 15 Jahren versammelt. Hier wird „Synthetic Folklore“ prominent im ersten Ausstellungsraum gezeigt und bildet eine interessante Gegenüberstellung mit der Installation „Alang Transfer“ (2012). Auf einer blau gestrichenen Wand erstreckt sich eine wilde Sammlung aus Gemälden, Fotos, Zeichnungen und Infografiken. Die ca. 100 Bilder stammen von Schiffen aus mehr als 30 Ländern, die auf dem größten Schiffsfriedhof der Welt in Alang, Indien ihr Ende gefunden haben. Alles was an Bord der ausrangierten Boote noch von Wert sein könnte, wird auf dem lokalen Markt verkauft.

Von dort hat der Künstler die Bilder, die, wenn sie sprechen könnten, von unzähligen Reisen um die Welt berichten würden. Sie verkörpern die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven, etwa als Gemälde von heimatlichen Dörfern, von Diktatoren, Heiligen, oder als gewöhnliche Hinweisschilder in verschiedenen Sprachen. In der Zusammenstellung lässt Simon eine vielschichtige Kollage multipler visueller Sprachen entstehen, ein Aufeinandertreffen den Globus umspannender Kulturen, eine Art alternativer Kartografie.

Kolonialprojekte Polens

Janek Simon, der 1977 in Krakau geboren wurde, begibt sich auch für andere Kunstprojekte gerne in ferne Länder. Er versucht dabei oft die eigene Herkunft mit zu reflektieren und neue Synergien zu erzeugen. Ein wichtiger Ansatz seiner Kunst ist es auch, mit Hilfe von Recherchen, weniger bekannte Aspekte des eigenen Landes zum Vorschein zu befördern, gewissermaßen das Verdrängte oder Unbewusste zu beleuchten. In „The Sea“ (2010) macht Simon auf polnische Kolonialambitionen aufmerksam, die in den 1920er und 1930er Jahre insbesondere von der staatlich unabhängigen „See- und Kolonialliga“ (Liga Morska i Kolonialna) vorangetrieben wurden. Polen hatte zwar letztlich nie wirklich Kolonien, die innenpolitisch starke Bewegung, die in den Zwischenkriegsjahren sehr aktiv war, forderte aber den Erwerb von eigenen Kolonien und zählte 1939 über eine Millionen Mitglieder.

In der Ausstellung zeigt Simon verschiedene Ausgaben des Magazins Morze, das von der „See- und Kolonialliga“ herausgegeben wurde, um die Idee polnischer Kolonien populär zu machen. Konkrete Kolonialprojekte verfolgte die Kolonialgesellschaft etwa in Brasilien, Togo, Liberia und Madagaskar. Besonders aufschlussreich für die Installation ist ein weiterführender Text, der Hintergrundinformationen über die „See- und Kolonialliga“ liefert, die seit 1999 unter dem Namen „See und Flussliga“ bis heute weiterbesteht. Dort wird erklärt, dass die kolonialen Ideen zwar nie vollständig umgesetzt worden seien, der enorme Einfluss der Liga aber vielleicht zum latenten Rassismus und zur national-konservativen Wende im heutigen Polen beigetragen hätte. Außerdem sei das Magazin vor kurzem neu aufgelegt worden und hegemoniale Phantasien lebten heute mit Ideen des Intermarium wieder auf, ein vorgeschlagenes geopolitisches Bündnis der Länder zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, wobei Polen als regionaler Vorreiter gelte.

Früher Kapitalismus in Polen

Eine weitere essayistische Installation, die tief in die polnische Psyche vorstößt, ist „1985“ (2018). Simon folgt hier der spekulativen These, dass Polen nicht erst 1989 den Weg Richtung Kapitalismus wählte, sondern in kleinen Schritten bereits seit dem Jahr 1985 einer kapitalistischen Ausrichtung gefolgt sei, obwohl das Land offiziell kommunistisch war. Gewissermaßen als Beweis für seine These dienen Simon erneut Magazine, vor allem Ausgaben des polnischen erotischen Lifestyle Magazins PAN, das mit marktwirtschaftlicher Gesinnung, aber über den offiziellen Verlag der kommunistischen Partei veröffentlicht wurde. In einem ausgetüftelten, selbstgebauten Glasvitrinensystem, zeigt Simon weitere Gegenstände aus den 1980er Jahren in Polen, die seine These untermauern sollen. Dazu zählt Eurobusiness, eine polnische Version des Spiels Monopoly, sowie ein frühes Computerspiel in schlichter Pixelgrafik. Das Spiel mit dem Titel „Außenhandel“ wurde im Auftrag der Kommunistischen Partei publiziert und rief zu freiem Handel und privatem Unternehmertum auf.

Was in der Installation auf den ersten Blick vornehmlich wie der spielerische Einzug kapitalistischer Popkultur wirkt und darauf hindeutet, wie sich das Land nahezu selbst mit westlichen Konsumwerten und dem entsprechenden Lebensstil kolonialisierte, hatte aber, wie ein Text erklärt, auch ernstere Hintergründe. So führte die ökonomische Krise der späten 1970er und frühen 1980er Jahre zu einem Zusammenbruch der ausländischen Handelsstrukturen und zu Versorgungsengpässen in Polen. In dieser Situation entstand ein ökonomischer Tourismus, auch als „Kofferhandel“ bekannt, der dem Schmuggeln von Waren diente und westliche Marken ins Land brachte. Wenn Simon in einer Vitrine westliche Bierdosen mit polnischen Kristallgläsern zur Schau stellt, eine Mischung, die in fast jeder Wohnzimmervitrine der Zeit zum Dekor erkoren wurde, spielt er genau auf jenen illegalen Handel an, fragt aber auch nach der Mentalität hinter den sozialen Veränderungen.

Mathematisch erzeugte Gesichter

Um einen weiteren wichtigen Aspekt, der sich wandelnden Zeit der 1980er Jahre hervorzuheben, zeigt Simon das Computermagazin Bajtek und verdeutlich so das Aufkommen kleiner Computer für den Hausgebrauch und die Faszination für neue Technologie, eine Entwicklung, die auch mit den illegalen Handelsstrukturen einherging. Dass Simon technologische Veränderungen als bedeutend für sich ändernde gesellschaftliche Tendenzen ansieht, ist etwas, dass in „Synthetic Poles“ (2019) besonders deutlich wird: ein Werk, das mehr oder minder ein dystopisches Pendant zu „Synthetic Folklore“ bildet. Hier geht es im weitesten Sinne um die negative Einflüsse künstlicher Intelligenz, um die Spekulation darüber wie Gesichtserkennung im Zeitalter intelligenter Maschinen mit Ausgrenzung und Überwachung einhergeht und was damit für legale, ethische und soziale Implikationen entstehen.

Acht mal acht Porträts, in einem Raster angeordnet, zeigen ausschnitthaft die Lernfortschritte neuronaler Netzwerke: In jeder Reihe bildet sich Bild für Bild ein immer menschlicher erscheinendes Gesicht ab. Mit Hilfe einer Datenbank, die sich aus 10000 Porträts polnischen Bürger*innen zusammensetzt, wurde die KI trainiert, um künstliche Polen zu generieren. Die hier verwendete Form des maschinellen Lernens wird inzwischen öfters zum Erstellen von Kunstwerken genutzt, meistens wird aber mit der verzerrten, unfertigen Maschinenästhetik gearbeitet. Simons Arbeit weist zwar noch ein paar Glitches auf, macht aber in ihrer Realistik darauf aufmerksam wie leicht es bereits ist, mit genügend Rechenkraft und entsprechend großen Datenbanken, Menschen zu simulieren.

Ein Verfahren, das etwa in Blockbusterfilmen schon längst dazu diente Statist*innen mit von Algorithmen animierten Charakteren zu ersetzen, oder dazu führt, dass in China Nachrichten von einem “künstlichen Moderator” präsentiert werden. In dem Simon zeigt, dass KI „neue Polen“ erschaffen kann, möchte er auch danach fragen, was passieren würde, wenn die Technologie dazu benutzt würde Polen von Nicht-Polen zu unterscheiden, Gesunde von Kranken, Junge von Alten? Und das sind in der Tat relevante Fragen, die sich leicht durch weitere Klassifikationssysteme ergänzen ließen, deren Nutzen leider meistens eher besorgniserregend und profitorientiert ist, als gesellschaftlich-sozial wertvoll.

Anm. d. Red. Die Ausstellung Synthetic Folklore ist noch bis zum 19.5.2019 im Ujazdowski Castle Centre for Contemporary Art in Warschau zu sehen. Foto oben: “Janek Simon, Untitled, 2015, aus der Sammlung The ING Polish Art Foundation.

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