Krise des Gesundheitssystems? Was der Kult um Apparate über unser Verhältnis zu Komplexität sagt

Die Covid-19-Pandemie offenbart in einer wohl kaum dagewesenen Art die Komplexität der heutigen Gesellschaft: das Ineinandergreifen unterschiedlicher Systeme, das Verflochtensein disparater Diskurse, die Verkettung von gesundheitspolitischen Maßnahmen mit sozialpolitischen Folgen und Vieles mehr. Um der enormen Komplexität der Lage gerecht zu werden, schlägt der Philosoph und Berliner Gazette-Autor Kilian Jörg eine kritische Bestandsaufnahme des Apparat-Konzepts vor.

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In der Coronakrise leiden wir bei Weitem nicht nur an einem gefährlichen Virus, sondern auch an diversen gesellschaftlichen Schieflagen, die unter Krisenbedingungen nochmals lähmender als sonst auftreten. Ein solcher, sehr tiefreichender Problemkomplex ist jener des „Apparats“. Wir sind alle dem Bann des medizinischen Gesundheitsapparats ausgesetzt, ohne genau zu wissen, wie er operiert. Wir opfern ihm huldigend bürgerliche Freiheiten, ohne seine Voraussetzungen zu kennen.

Durch einen Rückgriff auf eine heute etwas aus der Mode gekommene Apparatkritik der 70er Jahre möchte ich aufzeigen, warum gerade eine – zumindest vorübergehende – Bejahung der Ratlosigkeit angesichts dieser Krise produktiver ist, als ein Verschanzen hinter vorgefertigten Lagermeinungen. Um den Gefahren der selbstreferenziellen Logikzyklen moderner Apparate zu entgehen, muss ein Raum für Offenheit und Unsicherheit zugestanden werden, in dem spontanes und kreatives Weiterdenken sprießen kann.

Was ist ein Apparat?

Apparate sind in modernen Gesellschaften symptomatisch auftretende Assemblagen von technischen Geräten, funktional ausgebildeten und auftretenden Menschen und einer technokratischen Bürokratie, die die Plätze, Kommunikationswege und Hierarchien innerhalb dieser Struktur verwaltet. Es liegt in der Natur dieser hyperkomplexen – und abstrakt eher schwammigen – Begrifflichkeit, sich eines Überblicks zu verwehren: Apparate sind per Definition undurchsichtig und unüberschaubar.

Die Gesundheitssysteme unserer modernen Wohlfahrtsstaaten sind so ein technologisch-moderner Apparat par excellence: In ihm versammelt sich eng funktional verzahnt so viel hochspezifisches Fachwissen, dass niemand diesen Apparat auch nur annähernd durchschauen und in seinem reibungslosen Ablauf verstehen könnte. Die diversen Unterdisziplinen, die diversen Fachbereiche für spezifische Leiden und Körperteile, die finanziellen und krankenkasslichen Abhängigkeiten und Abwägungen von Ressourcenverteilungen, die beruflichen Voraussetzungen und Betriebsblindheiten, das Spannungsfeld zwischen Spezialisierung und Allgemeinüberblick, etc. – all diese Problemfelder sind im staatlichen Gesundheitssystem zu einer berauschend undurchsichtigen Funktionalität hin eng miteinander verwoben.

Böse Zungen, wie der Medizinkritiker und Priester Ivan Illich, behaupten, dass die Teilnahmevoraussetzung an einen solchen Apparat die Einschreibung in eine strategische Ignoranz des bigger picture ist: Niemand verlangt von eine*r potentiell einzustellenden Ärzt*In, dass sie die Gesamtfunktion des Gesundheitssystems beurteilen kann. Noch nicht mal von den Manager*Innen von Krankenhäusern verlangt man dies, denn was zählt ist, dass der für moderne Gesellschaften unumgängliche Betrieb aufrecht erhalten bleibt. Für profundes Umdenken und Reflektieren bleibt im Apparat schlicht keine Zeit, da es – besonders im Gesundheitssystem – in dem es immer und jeder Zeit um Leben und Tod geht.

Die Beschwerde: Dauerzustand

So kommt es, dass man zwar regelmäßig Beschwerden aus dem und über das Gesundheitssystem hört: diese oder jene Standardbehandlungsart sei falsch / kontraproduktiv / überteuert / behandelt nur Symptome ohne das Ganzheitliche zu beachten, alle sind überarbeitet, die Ressourcen sind zu wenig verteilt, das System ist immer kurz vor der Überlastung. Doch diese Klagen gehören beinahe zum standardmäßigen Ablauf des funktionierenden Systems. Ganzheitliche Betrachtungen und also auch Reformversuche sind durch seine Betriebslogik als unmöglich deklariert. Sie sind unerwünscht, weil sie bloß den ohnehin schon aufreibenden Ablauf weiter stören würden.

Eine solche Kritik ist also zu normalen Zeiten ein akademisches Hobby, welches auch im Volksmund regen Ausdruck findet: Wer regt sich nicht regelmäßig über die Absurditäten von Verwaltung, Gesundheits-, Pensions-, Verkehrs- oder Rechtssystem in modernen Staaten auf? Es gehört beinahe zum Zugehörigkeitsgefühl zu solchen Gesellschaften, dass sich jeder beschwert aber gleichzeitig niemand ernsthaft erwartet, dass sich etwas ändert.

Anders ist jedoch die Situation, wenn plötzlich diese wesentliche Prekarität des modernen Gefüges – und also sein „normales“, stotterndes Funktionieren – in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Plötzlich tritt die wesentliche Undurchsichtigkeit als krisenhaft zutage und die einfache numerische Logik wird mit einer Gewissheit verwechselt, die es per Definition im Apparat nicht geben kann.

Die Triage gehört zum Normalbetrieb

Die endzeitliche Panik, die bei den ersten Lockdowns in der Gesellschaft zu verspüren war, gibt es heute nicht mehr. Es gibt keine Panikkäufe von Klopapier mehr, auch scheint niemand mehr den Zusammenbruch der zivilisierten Gesellschaft zu fürchten. Die zweiten, dritten und vierten Lockdowns werden zumeist mit einem resoluten Achselzucken als etwas schicksalhaftes hingenommen – schlussendlich geht es darum, das Gesundheitssystem vor der Überlastung zu bewahren und dabei ja immer auch um Leben und Tod. Das reicht für die meisten als Argument, die deswegen bereit sind, sich dafür in ihren bürgerlichen Freiheiten weiterhin – und auch durch die harten Wintermonate – beschneiden zu lassen.

Niemand kann ernsthaft den Zusammenbruch des Gesundheitssystems oder das unnötige Sterben von Menschen wünschen. Es ist also verständlich, warum sich der Lockdown so gut auch in die xte Verlängerung argumentieren lässt. Doch wird bei diesen moralisch löblichen Einzelhaltungen das gesamtgesellschaftliche Wesen der modernen Gefüge gänzlich ausgeblendet. Es ist im Gesundheitssystem tatsächlich immer der Fall, dass es um Leben und Tod geht. Ebenso ist das Gesundheitssystem (besonders seit den neoliberalen Einsparungen der letzten Dekaden) sehr oft an der Grenze der Überlastung. Die Triage – das gegenwärtige Schreckenswort der Krise, die es laut vielen „um jeden Preis zu verhindern gilt“ – ist in vielen Bereichen der gesundheitlichen Notaufnahme, dem Organspendertum oder der Palliativmedizin business as usual und gehört zum Normalbetrieb eines jeden Krankenhauses.

Am Apparat hat sich nichts Wesentliches geändert – massiv geändert hat sich jedoch die Aufmerksamkeit: Plötzlich muss sich eine jede Bürger*In gegenüber dem wesentlich amoralischen und pragmatischen Management von Sterben und Überleben positionieren – und ist davon verständlicherweise überfordert. Niemand kann kompetent beantworten, ob die gängigen Behandlungsmethoden bei Covid-19 die effizientesten sind, ob die Zählweise von „mit Corona gestorbenen“ (angeblich ist jede*r ein*e Coronatote*r, die/der 28 Tage vor Ableben positiv getestet wurde – egal, was dann spezifisch die Todesursache ist) ein verzerrtes Bild der Bedrohung produziert oder ob die Isolation und das Social Distancing die gewünschte Eindämmung bewirken kann. Bekanntlich gibt es sogar diverse kritische Stimmen innerhalb des Gesundheitssystems, die Zweifel daran anmelden, ob die Isolation, die Intubation oder die gängige Praxis der PCR-Testung tatsächlich die besten Ergebnisse für eine gesamtgesellschaftliche Bewältigung der Krise liefern.

Der oben bereits angesprochene Medizinkritiker Ivan Illich beanstandete bereits in den 70er Jahren, dass eine Monopolisierung von menschlicher Gesundheit durch den modernen, medizinischen Apparat mehr Schaden als Nutzen anrichten kann. Dadurch, dass nur mehr „weiße Kittel“ entscheiden können, was gesundheitlich gut und relevant ist, werden laut Illich diverse Selbstheilungsfähigkeiten innerhalb von Gesellschaften zerstört: informelle Care-Arbeit, „Hausmittel“, immunologisch wichtige Sozialverbände und psychologische Ventile werden in ihrem gesundheitlichen Nutzen delegitimiert. Alle Bürger*Innen werden als gleichermaßen ahnungslos vor die hohe Autorität des spezialisierten Fachwissens gestellt, der sie nunmehr alternativlos ausgesetzt sind. In solchen von Apparaten geprägten Staaten kann man kaum mehr wissen, was gut für einen und die Gesellschaft ist und es sind alle Bürger*Innen – inklusive Ihrer Politiker*Innen – gleichermaßen huldigend der diffusen Wissensautorität ihrer spezialisierten Apparate ausgesetzt. Wer kann sich schon ernsthaft die Blöße geben, gegen Weißkittel auf ihrem Gebiet Zweifel anzumelden? Selbst die Kanzler*In könnte das nicht.

Wir müssen komplexen Problemen anders begegnen

Die Coronakrise führt uns diese Problematik des Apparats, an den sich das post-post-moderne Leben schon scheinbar gewöhnt hat, in neuer Virulenz vor Augen. Es lässt sich zwar einfach beziffern, wie viele Menschen in einem Land Covid-19 positiv getestet wurden und damit (nicht zwingend daran) gestorben sind. Der Apparat kann mit dieser monokausalen Engführung funktionieren und der Gesellschaft seine Logiken aufzwingen. Eine Zusammenführung aller Problematiken und Schäden, die durch die Coronarestriktionen entstehen und die psychologischen, sozialen, sexistischen, kulturellen und wirtschaftlichen Langzeitfolgen mit einschließt, ist jedoch keineswegs in einer einfachen Zahlenrelation darzustellen und fällt daher aus dem Blickfeld einer in Apparaten organisierten Gesellschaft.

Ivan Illich analysierte in seiner Zeit provozierend (und wohl das Ziel übertreffend), dass der medizinische Komplex mehr Krankheiten und Leiden produziert, als er behebt. Tatsächlich warnen heute viele, dass die Langzeitfolgen in puncto psychischer und physischer Leiden (aufgrund von ausgesetzen Behandlungen etc.) sowie die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen um einiges größer sein werden, als die „verhinderten Toten“ des Coronalockdowns.

Vielleicht erleben wir in der Coronakrise also eine Art Kernschmelze der Apparatslogik: durch einen Exzess der biopolitischen und technokratischen Mechanismen, die sich heute in alle Richtungen und in die privatesten Bereiche der bürgerlichen Freiheitsordnung ausbreiten, merken wir, wie lähmend eine solche entfremdete Verwaltung der Gesellschaft als Maschine sein kann. Um für künftige Krisen gestärkt aus dieser hervorzugehen, müssen wir lernen, der Unüberschaubarkeit von hyperkomplexen Problemen anders zu begegnen, als mit der Huldigung von einfachen numerischen Apparatslogiken. In einem kollektiven Prozess muss der Ratlosigkeit und Ungewissheit mehr Raum zugestanden werden, um pluralistischern und ganzheitlichern Ansätze des Gesellschaftsdenkens und verwaltens für das globalprekäre 21te Jahrhundert zu entwickeln.

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