Krieg ohne Narration? Wie das Gewaltmonopol des Staates schier Unlesbares hervorbringt

Es zeichnet sich eine Adiaphorisierung der polizeilichen Gewalt ab. Omnipräsente Helikopter, moderne High-Tech-Waffen und diffuse, kaum nachvollziehbare Befehlsketten katalysieren eine Distanzierung polizeilicher Interventionen: der Ort, an dem Gewalt ausgelöst wird, ist mit dem Ort, an dem Gewalt einschlägt, über zusehends willkürlicher wirkende Prozesse miteinander verknüpft. Der Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki kommentiert.

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Hubschrauber steuern die Bewegungen der Polizei-Truppen auf dem Boden wie in einem Computerspiel: die Situation auf dem Kommando-Monitor und auf der Straße werden auf äußerst abstrakte Weise miteinander in Beziehung gesetzt. Der systematische Einsatz einer solchen Gewaltanwendung lässt mit Blick auf die Truppenbewegungen kaum noch Unterschiede zwischen Chaos und Plan erkennbar werden. Die Maßnahmen wiederum lassen kaum noch Rückschlüsse auf Sinn und Zweck zu. Die Fragmentarisierung führt zu einer Unlesbarkeit der Straße. So war es in Genua bei den Protesten gegen den G8 Gipfel im Jahr 2001 – inzwischen so etwas wie eine Urszene der politischen Gegenwartsgeschichte.

Gerade dort, wo sich das Gemeinsame im Zeichen von Vielfalt und grenzüberschreitenden Allianzen äußert, also in der breiten, bunten Masse, die weitgehend unbekümmert und friedfertig durch die Straßen der Stadt demonstriert, prozessiert und feiert (selbst Nonnen und diverse VertreterInnen christlicher Vereinigungen gehen mit) – gerade dort sucht und findet die Polizeigewalt ihre Angriffsfläche: immer wieder ist davon zu lesen, dass die Polizei ganz unerwartet und überraschend verfährt: statt etwa gegen Vermummte, Brandschatzende oder Steinewerfende vorzugehen, greift sie mit massiver Gewalt die bunten Massen an und arbeitet sich an deren Zerschlagung ab.

An den sonnigen Tagen zwischen dem 18. und 22. Juli 2001 entfaltet sich in Genua eine „Ausschreitung ohne Narration“ wie Beteiligte sich erinnern, d.h. der Konflikt auf der Straße, bei dem sich Polizei und Demonstranten gegenüberstehen und der im zunehmenden Maße in Chaos und die Massenpanik ausufert, findet ohne Dialog und Abstimmung, sprich: ohne einen narrativen Kommunikationsrahmen statt. Dabei wird nicht diese „Ausschreitung ohne Narration“ nicht nur den Demonstranten zu schaffen machen, sondern auch den Polizisten, die all das über weite Strecken als einen Ausnahmezustand von unten erleben, dem sie mehr oder weniger ohnmächtig ausgeliefert sind.

Freilich, all das ist einerseits eine Frage der Perspektive, denn die Ohnmacht ist ebenso auf der Gegenseite das prägende Moment und somit auch der Eindruck, „die anderen“ seien dafür verantwortlich. Andererseits ist dies eine Frage der Organisation bzw. Desorganisation: Während schlecht koordinierte Befehlsketten die Polizei an den Rand des Unkontrollierbaren drängen, erleben die Demonstranten ihre eigene Auflösung als mehr oder minder organisierter Kollektivkörper ebenfalls als Kontrollverlust.

Nicht zufällig geben Augenzeugen eine fragmentarische Zusammenhanglosigkeit zu Protokoll und den Verlust von Fixpunkten: Wer ist eigentlich auf wessen Seite? Wer bedient sich der Demo-Taktik Black Block: Neo-Nazis, Agent Provocateurs oder Anarchisten?

Die Lesbarkeit der Straße ist allenfalls unter dem Gesichtspunkt eines „Steuerns von Bewegungen“ (patterning of movement) möglich – vom Hubschrauber aus vorgenommen. Erkennbar wird: hier schreitet eine Zerschlagung des Gemeinsamen voran, sprich: des grenzübergreifenden Kollektivkörpers, der sich durch eine beispiellose Mobilisierung formiert hat. „Ein staatsterroristischer Akt gegen die gemeinsame Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, sich zusammen zu tun“, wie Politikwissenschaftler Oliviero Pettenati rekapitulierend sagt.

Der Ausnahmezustand von oben suspendiert den Demos, ruft aber gleichzeitig einen Rahmen auf (als Potential oder Nebenwirkung?), in dem der Demos zu sich selbst kommen kann. Alle werden gleich und ununterscheidbar. Zudem offenbart sich die „nackte“ Staatsidee und somit ein Setting, das die „Volkssouverinität“ zur Disposition stellt. Die Behauptung des Gemeinsam-Seins gegenüber der Totalität des Kapitals steht auf dem Spiel, wie man mit Jean-Luc Nancy sagen könnte.

Politik der Ununterscheidbarkeit

Man kann sagen, dass Genua zusammengekommen ist, was nicht zusammen kommen darf. Doch warum darf es nicht zusammenkommen? Warum „darf“ die Ununterscheidbarkeit der Multitude nicht sein? Warum ist sie aber dennoch das prägende Motiv der politischen Landschaft? Es gibt dafür vor allem drei Gründe.

Erstens, weil sich die Ununterscheidbarkeit der Multitude einfachen Deutungen seitens Politik und Medien entzieht. In diesen Feldern sind die Reflexe und Formate besonders primitiv ausgeprägt. Hier funktioniert nur das Holzschnittpanorama: schwarz und weiß. Zwischentöne haben keinen Nachrichtenwert. Deshalb liegt der nahezu exklusive Fokus aller Post-Gipfel-Debatten auf brennenden Autos als „Werk der linken Szene“. Doch sollte man nicht darüber streiten, ob eine „Revolution“ in der Luft gelegen hat oder gar ein „Staatstreich“? Und darüber, dass gerade hier erkennbar geworden ist, dass die Herrschaft über den Sinn suspendiert werden kann?

Zweitens, weil sich die Ununterscheidbarkeit der Multitude einfachen Legitimierungen seitens mehr oder minder klar definierter sozialer Bewegungen und ihren vereinbarten Kodizes verweigert. Bezeichnenderweise ist es nicht nur so, dass alle DemonstrantInnen ständig dazu aufgefordert werden, sich von der Gewalt zu distanzieren. Sondern auch so, dass zahlreiche AktivistInnen unter ihnen in der Nachlese sich immer wieder dazu genötigt sehen, eben dies zu tun, weil sie fürchten, dass die Gewaltexzesse durch Politik und Medien instrumentalisiert werden, um den Protest als Ganzes zu kriminalisieren. Frei nach dem Motto: Wenn alle, die in der blauen Zone waren, etwas mit den Gewaltexzessen zu tun haben, dann müssen auch alle darum bangen, künftig noch weiter um Bürgerrechte beschnitten zu werden, etwa um das Recht auf Versammlungsfreiheit.

Drittens, weil Protestgewalt und Polizeigewalt miteinander in einem innigen Austauschverhältnis stehen, einander bedingen, einander hervorbringen. Trotz deutlicher Asymmetrie – im Zuge der proto-militärischen Aufrüstung des Polizeiapparats, etc. – kommen so unliebsame Parallelen zum Vorschein. Ein Beispiel wäre die Vermummung (nicht nur bei Aktivisten, sondern auch bei Polizisten), die eben auch die Ununterscheidbarkeit der polizeilichen Multitude befördert. Wer steckt hinter den Helmen und Rüstungen? Welche politischen Gesinnungen? Welche Bildungswege und Bilder vom protestierenden Gegenüber?

Viertens, weil die Ununterscheidbarkeit der Multitude die polizeiliche Identifizierung des Straftäters erschwert. Denn obwohl die Annahme, dass jede und jeder ein „Gipfel-Verbrecher“ sein kann, den hohen Aufwand und die hohen Kosten sowie jede noch so absurd anmutende Taktik der Polizei rechtfertigt, will man am Ende nicht vor der Erkenntnis stehen, dass jede und jeder ein „Gipfel-Verbrecher“ ist. Denn am Ende braucht man „hits“, sprich: Treffer. Freilich, je mehr desto besser, aber doch bitte nicht unbegrenzt viele.

Kurz, für jede Bilanz eines solchen Ereignisses ist die Ununterscheidbarkeit der Multitude, die durch diffuses Neben- und Miteinander geprägt ist, eine inakzeptable Größe. Und doch hat genau dieser Gipfel und der Ausnahmezustand, den er hervorgerufen hat, eben diese Ununterscheidbarkeit der Multitude möglich und sichtbar gemacht hat. Das sollte zu denken geben.

Hat die zunehmende Reglementierung politischer Seins- und Erscheinungsformen hat in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt dazu geführt, dass ununterscheidbares Neben- und Miteinander zusehends abgeschafft wird?

Diese Tendenz wird einerseits durch das sich verschärfende Schubladendenken der „Normaldemokratie“ (Jürgen Link) katalysiert, das klare Zuordnung fordert und keine Widersprüche duldet. Andererseits wird sie durch die Automatisierung aller Lebensbereiche, die alles maschinenlesbar machen soll, befeuert.

Also muss es heute für alles ein Template, ein Formular und ein Protokoll geben. Was nicht hineinpasst, muss hineingezwängt werden, oder es wird für nicht-legitim und nicht-existent erklärt – ob es hier nun um Protest- oder Identitätsformen geht, oder, abstrakter gesprochen, um das Soziale, das Politische oder das Sein. Anders gesagt wird heute Legitimität und Existenz all jenen Lebensformen abgesprochen, die sich besagten Reglementierungen widersetzen.

Am Nullpunkt der Ko-Existenz

Kann das prä- oder post-identitäre Neben- und Miteinander der Multitude, das sich durch Ununterscheidbarkeit auszeichnet, und das ein stückweit einen Nullpunkt der menschlichen Ko-Existenz darstellt, weil hier zwar nicht Politik gemacht wird, so doch aber jenseits der Trennung von BürgerInnen und Nicht-BürgerInnen das Politische als Leidenschaft, Begehren oder Affekt entsteht und wiederum neue politische Lebensformen ermöglicht, die potenziell über staatsbürgerliche Gewissheiten hinausgehen – kann es unter diesen Bedingungen überhaupt noch Gestalt annehmen?

Der Nullpunkt des Politischen ist nicht zuletzt ein Berührungspunkt von politischer Erfahrung (immer häufiger außerhalb des staatlichen Rechtsrahmens) und von rechtlichem Status (häufig entkoppelt von politischer Erfahrung). An diesem Berührungspunkt ereignet sich die Neubestimmung der Staatsbürgerschaft bzw. ganz grundlegend die Neubestimmung der politischen Person.

Nimmt es als das immer wieder gepriesene Bunte des Protests Gestalt an, das heute in Form der bunten Großdemo auftaucht oder im unübersichtlich großen Ensemble des offiziellen Demoprogramms? Allein über 50 Protestaktionen waren für den G-20-Gipfel im Hamburg angekündigt. Kommt hier tatsächlich die Ununterscheidbarkeit der Multitude zum Ausdruck? Oder ist es eher deren für legitim und existent erklärter Abglanz, der vor allem deshalb ein Abglanz ist, weil es sich dem Schubladendenken der Politik und Medien zu sehr unterwirft?

Es hat den Anschein, dass das „Bunte der Vielen“ heutzutage verklärt und instrumentalisierbar gemacht wird, insbesondere dann wenn die ihm zugrunde liegenden Widersprüche, Antagonismen und Ununterscheidbarkeiten zugunsten einer allgemeinen Akzeptanz ausgeblendet werden. Insofern kann die Ununterscheidbarkeit der Multitude heute vor allem aus einem negativen Raum der Nicht-Legitimität und Nicht-Existenz emergieren – also von dort, wo ihr Legitimität und Existenz abgesprochen werden. Auch dafür haben die G-20-Tage in Hamburg ein erschütterndes Bild geschaffen und zwar am letzten Tag, dem Tag der Großdemo „Solidarity without Borders“.

Über 70.000 Menschen sind zusammengekommen, das Spektrum geht quer durch die Zivilgesellschaft, auch die Demonstrationsblöcke der Autonomen und Anarchisten laufen mit. Doch bei der Abschlusskundgebung kann diese Menschenmenge nicht zusammenkommen. Die Vorschriften des Ausnahmezustands, die hier die Bürger- und Menschenrechte überschreiben, erlauben es nicht, dass einer der großen öffentlichen Plätze für diese raumgreifende Versammlung genutzt wird.

So muss die große Bühne der Abschlusskundgebung am Millerntor aufgebaut werden, wo lediglich ein Bruchteil der Leute miteinander und nebeneinander verweilen können, die anderen werden in die abzweigenden Straßen gedrängt und zerstreut. Hinter der Bühne befindet sich das Heiligengeistfeld; für die öffentliche Nutzung gesperrt, ist es von einem Zaun umgeben. Die militarisierten Fahrzeug-Kolonnen der Polizei haben dort geparkt; die Wasserwerfer sind auf den Rückenraum der Bühne und die zahlreichen Stände gerichtet, die sich neben der Bühne aufgestellt haben: Kebab, Pizza, Softdrinks, Broschüren und Info-Material.

Auf dem Heiligengeistfeld (und drumherum) hätten die 70.000 Menschen zusammenkommen können, stattdessen wurde es zu einem negativen Raum, einer sandigen und staubigen Leere, auf dem sich das Waffenarsenal der Polizei ausgestellt und in Alarmbereitschaft befindet. Das Heiligengeistfeld steht sinnbildlich für Hamburg, beziehungsweise für die blaue Zone in Hamburg: ein negativer Raum der Nicht-Existenz und Nicht-Legitimität.

Dass die Leute trotz oder gerade wegen dieses Ausnahmezustands auf die Straßen gegangen sind, hat dazu geführt, dass sie sich den Ausnahmezustand ein stückweit angeeignet haben: Sie waren dort, wo sie hätten nicht sein sollen; sie sind auf eine Weise zusammengekommen, wie sie hätten nicht zusammenkommen sollen. Nicht zuletzt der hohe Preis, der dafür zu bezahlen ist, macht sichtbar: während sich die zunehmende Reglementierung politischer Seins- und Erscheinungsformen verschärft, befindet sich die Gesellschaft mit ihrer liberal-demokratischen Ordnung an einem äußerst kritischen Limit.

Anm. d. Red.: Aktuelle Bücher zum Thema gibt es u.a. von Jean-Luc Nancy “Was tun?” (Diaphanes), David Correia und Tyler Wall “Police” (Verso), Karl-Heinz Dellwo, Achim Szepanski und J. Paul Weiler “RIOT – Was war da los in Hamburg” (Laika), Oliviero Pettenati “Die blutigen Tage von Genua – G8-Gipfel, Widerstand und Repression” (Laika), Trinh T. Minh-ha “Lovecidal: Walking with the Disappeared” (Fordham University Press). Das Foto stammt vom Autor und steht unter CC-Lizenz (cc-by 4.0).

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