„Kostenlos-Kultur“: Das alte Rom, die gesetzliche Krankenkasse und ein Radiosender auf hoher See

Das “neue” Ding, das Internet, ist ein Schreckensgespenst – eine Projektionsfläche für Ängste, Sorgen und Probleme jeder Art. Dass Menschen für den Konsum von Musik, Journalismus und sonstigen Daten nicht gleich zum Portemonnaie greifen, ist ein Paradebeispiel für fehlgeleitete Aufregung. Berliner Gazette-Autor Wolfgang Ksoll hat sich deswegen in die Annalen der Geschichte begeben und herausgefunden, dass die sogenannte “Kostenlos-Kultur” schon älter ist, als man denkt.

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Unsere Freunde aus der Printgemeinde führen seit einiger Zeit einen Shitstorm nach dem anderen gegen ein Geschäftsmodell, demzufolge jener, der eine kulturelle Leistung bezieht oder konsumiert, nicht jener ist, der sie bezahlt. Ihre Wut ist so groß, als gelte es den Untergang des Abendlandes durch Schmähschriften zu verhindern. Da fragt man sich, ob es diese „Kostenlos-Kultur“ (auch „Umsonst-Kultur“) nur im Internet gibt oder schon vorher gab.

Shitstürme der Intelligenzia gegen die Bürger

Auf dem Ticket des Urheberrechtes verhärten sich seit Monaten die Fronten zwischen Teilen des kulturindustriellen Komplexes und den Bürgern. Da sollen für die Rechteverwerter die Internet-Serviceprovider sämtliche Internetbewegungen aller Bürger überwachen und tief in einzelne Datenpakete hineinschauen (Deep Packet Inspektion), ob dort evtl. urheberrechtlich geschütztes Material dabei ist. Reicht der Druck nicht aus, so wird zur Totalüberwachung der Bürger von manchen Politikern noch Kinderpornographiebekämpfung und Terrorismusbekämpfung draufgesattelt.

Da wird in geheimen Hinterstubenverhandlungen zwischen Vertretern des kulturindustriellen Komplexes und wenig transparenten Politikern gegen die Bürger verhandelt, z.B. auch ACTA. Es werden Sperren gegen Bürger gefordert. Man brauche eine Vorratsdatenspeicherung, damit der Abmahnwahn seine 600.000 Abmahnungen nach Verschärfung des Urheberrechts durchgesetzt bekommt. Umsätze, bei deren Erzielung der Staat mit der Justiz einspringen muss wie im Sozialismus, wo die Marktelastizität für marktwirtschaftliche Umsätze nicht mehr reicht.

Um nun mit polizeistaatlichen Methoden der Vollüberwachung der Bürger ein nicht funktionierendes Geschäftsmodell mit brachialer Gewalt durchzusetzen, werden immer mehr „Künstler“ oder allgemeine Vertreter des kulturindustriellen Komplexes losgeschickt, um für den Polizeistaat Werbung zu machen, wie weiland bei der Atomenergie, wo man auch medial Amok lief, dass die Lichter ohne Atomenergie ausgehen würden (wo man heute eher davon ausgeht, dass das Leben ausgeht mit Atomenergie, der man im Iran nachsagt, dass sie immer auch mit Atombomben einhergeht).

Einige Beispiele der hysterischen Propagandakampage seien genannt: So sprechen sich 51 Tatortautoren, Sven Regener, Musiker der Band Element of Crime, Dieter Gorny vom Verband der Musikindustrie und Christoph Keese, Springer AG, gegen die “Umsonst-Kultur” aus. Es soll uns eingeredet werden, dass es eine Kostenloskultur gäbe, die erst mit dem Internet aufgekommen sei, um zu schädigen. Gut, naive Politiker glauben das nun einfach.

Aber ernsthafte Menschen fragen sich: Gibt es so etwas tatsächlich, dass man kreative Leistungen kostenlos oder umsonst bekommen kann? Oder meinen die nur, dass Leistungsempfänger nicht direkt an Leistungserbringer Zahlungen leisten, was die Hysteriker für ein schöneres Geschäftsmodell halten würden? Machen wir einen Blick in die Geschichte und fragen uns danach, ob es wirklich für die Menschheit erstrebenswert ist, die Vielfalt der Geschäftsmodelle auf ein solches Direktbezahlungsmodell zurückzuschrauben.

Einige Beispiele für die Vielfalt der Geschäftsmodelle

Beispiel #1: Gladiatorenkämpfe im glorreichen Imperium Romanum
Bereits im alten Rom schenkte der Kaiser seinem Volk Kämpfe für die er ihnen kein Eintritt abverlangte. Zur vollen Blüte dieser kam es, als Kaiser Vespasian das Kolosseum bauen ließ. Damals konnten sich die Bürger kostenlos an Gladiatorenkämpfen, Kämpfen wilder Tiere, sogar nachgestellten Seeschlachten im Kolosseum berauschen und nebenan Wagenrennen im Circus Maximus beiwohnen. Irgendjemand musste die Spektakel immer bezahlen, aber nicht die Zuschauer, wie es die Printgemeinde nun neumodisch fordert.

Beispiel #2: Die gesetzliche Krankenkassen
Im Jahre 1883 führte Otto von Bismarck als Reichskanzler die gesetzliche Krankenversicherung ein. Seither ist es für ca. 90% der deutschen Bevölkerung im Gesundheitssystem so, dass Leistungserbringer (wie Ärzte) an Leistungsempfänger (Patienten) Leistungen liefern; bezogene Leistungen von freiberuflichen Ärzten oder z.B. von Krankenhäusern von den Krankenkassen bezahlt werd; Versicherte unabhängig von einem Leistungsempfang und dessen Umfang Beiträge an Krankenkassen in Abhängigkeit von ihrem Einkommen für sich und ihre Angehörigen zahlen. Dieses Geschäftsmodell als „Kostenlos-Kultur“ zu verspotten, weil der Patient nicht direkt an den Arzt zahlt, was offenbar das einzige Geschäftsmodell ist, dass die Schreihälse bei unseren Freunden aus der Papiercommunity akzeptieren wollen.

Beispiel #3: Radio Veronica – Piratensender auf hoher See
In den 1950er Jahren gründeten holländische Radiohändler Radio Veronica. Sie bauten ein altes Schiff zu einem schwimmenden Radiosender um und begannen außerhalb der Dreimeilenzone Musik zu senden (seit 1982 mindestens 12 Meilen). Finanziert wurde das Angebot über Werbung. Zum 31.8.1974 musste Radio Veronica wegen holländischer Gesetze schließen. Radio Veronica ließ sich aber vom Staat nicht einschüchtern, eröffnete 1976 wieder legal und sendet heute immer noch für die Hörer kostenlos. Auch im Internet. Werbetreibende müssen für ihr Angebot zahlen und Musiker erhalten nach holländischen Gesetzen Vergütungen aus den Werbeerlösen (anders als bei uns die liebe Printgemeinde fordert, dass die Hörer direkt zahlen müssen).

Beispiel #4: Tonbandgeräte und Privatkopien
In den 1960ern Jahren kamen vermehrt Tonbandgeräte für Privatnutzer auf. Damals war es völlig legal, dass man Rundfunksendungen aufnahm, sich für seinen privaten Gebrauch Musik selbst zurechtschnitt und auch seinen Freunden Kopien davon gab (ohne Beschränkung). Brigitte Zypries, SPD, verschärfte dann in den 2000ern auf Grund nicht öffentlich geführter Gespräche mit der Rechteindustrie (so wie die ACTA-Verhandlungen auch gegen den Bürger heimlich zwischen Lobbyisten und Staat geführt wurden) das Urheberrecht und schränkte das Recht auf Privatkopien ein, Bildungsmöglichkeiten wurden gestutzt und das Recht schwammig gegen die Bürger ausgerichtet.

Beispiel #5: Das Privatfernsehen
In den 1980er Jahren wurde in Deutschland der Weg für das Privatfernsehen geebnet. Die Zuschauer zahlten nichts für die privaten Sender und diese finanzieren sich über Werbung. Das Geschäftsmodell den Betrieb durch Werbung zu finanzieren ist noch heute im Privatfernsehen wie auch bei Google, Facebook und anderen im Internet überaus erfolgreich.

Beispiel #6: Internetsoftware
Bis tief in die 1990er hinein bastelten große amerikanische Firmen an patentgeschützter Netzwerksoftware, wobei Patente an sich nach neuerer tagesaktueller Meinung der Printgemeinde quasi automatisch Wohlstand, Wachstum und Wonne erzeugen. So bastelte zum Beispiel IBM an SNA (Systems Network Architecture – auf Mainframe-Terminal-Netzwerke optimiert) und Microsoft hatte den LANmanager (auf Microsoft optimiert). Es war eine herrliche Zeit für Systemingenieure: prächtig konnte der verdienen, der möglichst viele Protokolle auf demselben Netzwerk verstand. Nun bekennen sich die US-Amerikaner stark zur Public Domain. Für sie ist es völlig selbstverständlich, dass Forschungsergebnisse, die von Steuern finanziert werden, natürlich auch in die Public Domain kommen. Und es geschah das für die Printcommunity ungeheuerliche: die US-Amerikaner stellten den gesamten TCP/IP-Code in die Public Domain. Jeder auf der Welt darf ihn nutzen, ohne Lizenzgebühren bezahlen zu müssen. Noch heute basieren die Browser von Apple (Safari) und Microsoft (Internet Explorer) auf dieser „Kostenlos“-Software.

Wir haben nun gesehen, dass es seit über 2.500 Jahren tragfähige und für Künstler ertragreiche Geschäftsmodelle gibt, die auf direkte Zahlungsströme zwischen Leistungsempfänger und Leistungsübermittler verzichten können. Die Abschaffung all dieser Geschäftsmodelle, die unsere Freunde aus der Printgemeinde fordern, um sie durch ein polizeistaatliches Direktfinanzierungsmodell zu ersetzen, ist ein erheblicher Umbau unserer demokratischen Gesellschaft mit marktwirtschaftlicher Ordnung. Bisher sind aber keine Gründe genannt worden, warum wir unsere bewährten Geschäftsmodelle abschaffen sollen. Nicht mal ein empirischer Beleg ist geliefert worden.

Moderne Finanzierungsmöglichkeiten für Künstler

Die Frage, um die sich unsere Diskussion drehen sollte, ist zweifelsohne, wie wir unsere Künstler angemessen vergüten können. Dafür müssen wir aber die Fragen der Künstler von denen trennen, die eine überholte Technik oder überholte Geschäftsmodelle einfrieren lassen wollen, statt am Fortschritt mitzuarbeiten. Es mehren sich die Zeichen, dass der Markt für Künstler gespalten ist in mindestens drei Teile.

Zum einen gibt es Spitzenkreative. J. K. Rawling hat sich mitten im Internetzeitalter ein Vermögen von einer Milliarde US-Dollar mit ihrer Harry-Potter-Serie erwirtschaftet. Sie hat nicht nur wütend wie Rumpelstilzchen darauf bestanden, Konsumenten müssten im Internet irgendwas bezahlen, sondern Bücher, Filme, Hörbücher und DVDs herausgebracht, mit denen man vor dem Internetzeitalter, aber auch mittendrin, eine Menge Geld verdienen kann.

Dann gibt es gibt Nichtkreative, die mit Kreativen eine Menge Geld verdienen. Man kann in den aktuellen Prozessen gegen den ehemaligen Vorstandschef der Bertelsmann AG ahnen, welche Einkünfte auf dem Rücken der Kreativen mit Content erzielt werden können. Von diesem Typus Funktionäre gibt es viele im kulturindustriellen Komplex.

Am unteren Ende der Nahrungskette sitzen die normalen Künstler. Deren Einkünfte sind so prekär, dass der Steuerzahler schon seit langem ihre Krankenversicherung und Rentenversicherung subventioniert, in dem die Steuerzahler die Arbeitgeberbeiträge übernehmen, wenn sich die Künstler in der Künstlersozialkasse versichern. Das Durchschnittseinkommen aller dort versicherten, selbständigen Künstler (ca. 170.000 Personen in Deutschland) betrug für 2011 nur 15.451 €. In der Musik alleine sogar nur 12.863 € (also 1.000 €/Monat), also unterhalb der Hartz4-Bezüge.

Wenn die Zahlen stimmen, besteht hier echter Handlungsbedarf bei den prekären Künstlern. Als Einkunftsquellen stehen mindestens zur Debatte
– Live-Auftritte
– GEMA (für Komponisten und darbietende Künstler; ca. 850 Mio €)
– VGWort (für die schreibende Zunft auch im Internet derzeit zwischen 150 und 400 Mio €/a)
– GEZ (die nun nutzungsunabhängigen steuerähnlichen Abgaben betragen rund 7,5 Mrd. €/a)
– Kulturflatrate (wird häufig von den Piraten genannt, es fehlen noch konkrete Vorschläge)
– Bücher und Zeitschriften (das Geschäft läuft nach wie vor: Bertelsmann macht z.B. ca. 15 Mrd € Jahresumsatz)
– CDs und DVDs.

Rationaler Diskurs?

Für einen rationalen Diskurs gehören noch mehr Zahlen auf den Tisch, um Fragen zu beantworten. Vergüten Konzerne ihre Künstler angemessen oder nur ihre Funktionäre? Ist die Kunst ein so schlechtes Geschäft, dass wir Künstler weiter über Steuern subventionieren müssen (KSK)? Gibt es funktionierende Geschäftsmodelle im Internet (Stichwort iTunes)?

Welchen Anteil bekommen die Künstler von den Abmahnungen oder teilen sich nur Rechtsanwälte und Funktionäre die Beute? Dürfen Verlage weiterhin prekäre Existenzen züchten, wie sie die Künstlersozialkasse ausweist? Muss Überschäumen (J.K. Rawling) gedeckelt werden (das kennt jeder Vertriebler mit guten Verkaufserfolgen in einem boomenden Sektor)? Welche direkten und indirekten Geschäftsmodelle sollen dann dieses ermöglichen mit möglichst viel Markt und möglichst wenig Polizeistaat?

Schön wäre auch, wenn der antiamerikanische und wirtschaftsfeindliche Ton der Printcommunity gegen die Konservativen etwas gemäßigter würde und auch Rufe nach mehr Staat verstummten. Unsere Werte wie Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft wollen wir wie in den USA nicht einschränken, nur weil einige Splittergruppen kein tragfähiges Geschäftsmodell finden wollen. Wir werden noch einige spannende Diskussionen haben. Nur der Gag, dass es irgendwas kostenlos gäbe, wird sich nicht mehr lange halten: „Umsonst ist nur der Tod, und der kostet das Leben.” Ende.

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema in unserem Dossier Illegale Fans. Foto von Christian Straub; cc by 2.0.

3 Kommentare zu “„Kostenlos-Kultur“: Das alte Rom, die gesetzliche Krankenkasse und ein Radiosender auf hoher See

  1. Das ist eine schön herauspräparierte These. Und die Beispiele werde ich in Gesprächen in Zukunft selbst benutzen.
    Ich bin Jurist. In der Rechtsprechung ist es bereits seit einigen Jahren anerkannt, dass Werbung im Fernsehen anzugucken, eine Gegenleistung des Zuschauers für das Programm darstellt, das Programm also nicht unentgeltlich ist (das ist für einige Fragen relevant).
    Herzliche Grüße
    CK

  2. die Frage ist natürlich, was ist neu? vielleicht die Dichte, Größe und v.a. die unentgeltliche Herstellung des hochwertigen Angebots, für das nichts an Geld als Bezahlung verlangt wird?

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