Komplizenschaft: 15 Anzeichen zum Rekapitulieren, Ergänzen, Verneinen oder Bejahen

Der Duden definiert Komplizenschaft als eine kriminelle Gemeinsamkeit oder eine Gemeinsamkeit, die sich in Zusammenarbeit und gegenseitiger Begünstigung ausdrückt. Aber woran erkennt und wo findet man Komplizenschaft und was macht sie mit ihren Akteuren? Gesa Ziemer ist Professorin für Kulturtheorie und kulturelle Praxis an der HafenCity Universität Hamburg. Sie gibt 15 Anzeichen von Komplizenschaft zum Rekapitulieren, Ergänzen oder auch als Spielvorlage.

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Komplizenschaft kann schnell in andere Beziehungsqualitäten übergehen und im Alltag ist es häufig nicht ganz einfach, diese von anderen Formen des Zusammenseins zu unterscheiden. Sie ist oft nur eine Phase im Verlauf einer Beziehung, die anfänglich wirksam und doch flüchtig und zerbrechlich ist. Für kreative Kontexte ist so etwas wie Komplizenschaft fast unabdingbar, weil neue Wege beschritten werden; in Situationen, in denen man sich wehren muss oder gegen Widerstand etwas Neues entwickeln möchte, auch. Fassen wir also in kürzester Form die Qualitäten von Komplizenschaft zusammen – so kurz und prägnant wie Komplizenschaft eben selbst ist. Die genannten Anzeichen sind das Extrakt dieses interdisziplinären Forschungsprojektes, in dem ausführliche Interviews mit unterschiedlichsten Protagonisten aus den Bereichen Kunst, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft geführt wurden. Benutzen Sie diese 15 Anzeichen zum Rekapitulieren, Ergänzen, Verneinen, Bejahen oder auch als Spielvorlage:

Komplizinnen und Komplizen … 1) … tauchen nie alleine, sondern mindestens zu zweit auf. 2) … finden sich, anstatt sich zu suchen. 3) … gestalten oft den Anfang von Beziehungen. 4) … erscheinen nicht als solche, sondern als Einzelgänger. 5) … kreieren ein gemeinsames Ziel, das allen Nutzen bringt. 6) … sind different und synchronisieren sich (für eine begrenzte Zeit). 7) … schließen temporäre, keine dauerhaften Beziehungen. 8) … vertrauen meist (aber nicht immer) tief, weil sie ein hohes Risiko eingehen. 9) … machen alle mit. 10) … aktivieren das Kleine im Großen. 11) … kommunizieren auf informellen Wegen. 12) … sind Lebens- und auch Überlebenstaktiker (weniger Strategen). 13) … agieren gegen einen Gegner, der von ihrer Existenz nichts ahnt. 14) … stärken ihren Pakt im Angesicht eines (potenziellen) Verräters. 15) … sind ein Beispiel für die Kraft des vermeintlich Schwachen.

Zufällige Kollektivverbindungen?

1) Komplize ist man nicht alleine. Es handelt sich um eine Form von Kollektivbildung (mit hohem konnektiven Anteil), die beim Aufeinandertreffen von mindestens zwei Personen eintreten kann. Das Besondere der Komplizenschaft ist, dass die Tat – sei diese konstruktiv oder destruktiv – auf der Verantwortung aller beruht. Individuelle Leistungen werden ausschließlich bezüglich des Resultates der Zusammenarbeit bewertet.

Komplizenschaft legt die Basis für kleine Kollektive. Sobald ein Kollektiv größer (als ca. fünf bis sieben Personen) wird, zerfällt es meistens in mehrere Komplizenschaften, oder es bleibt eine Kernkomplizenschaft bestehen, und der Rest verlässt das Kollektiv.1 Größere Gruppen sind meist keine handelnden Gruppen mehr, sie funktionieren eher als Thinktanks, Kuratorien, Beiräte oder andere beratende Gremien.

2) Komplizen findet man eher zufällig, als dass man sie gezielt sucht – häufig ganz unvorhergesehen, an eigenartigen Orten oder in anderen sozialen Milieus oder Arbeitsfeldern. Wenn man sie sucht, dann allerdings erst, wenn die erste Phase abgeschlossen ist und man ab der zweiten Spezialisten benötigt. Mittäterschaft ist im Übrigen auch eine gute Voraussetzung für Interdisziplinarität, weil ungewohnte Einflüsse auf das eigene Denken und Handeln einwirken, die neue Räume eröffnen. Ist Komplizenschaft erlernbar? Kann man Gruppen nach bestimmten Kriterien zusammenstellen, die dann komplizitär agieren?

Komplizenschaft entsteht in der Regel aus dem Inneren von Systemen heraus und ist von außen nur selten implementierbar. Ein komplizitärer Habitus ist in verschiedenen Lebensphasen und Kulturen vermutlich unterschiedlich stark ausgeprägt, weshalb ein Agieren im Verborgenen mehr oder weniger stark als kulturell konform gelten kann. Dieser kann sicher auch als soziale Konstruktion erlernt und dann gekonnt eingesetzt werden.

Ob man Komplizen jedoch gezielt suchen kann, bleibt fragwürdig. Wer seine Aufmerksamkeit auf Veränderung richtet, kann den passenden, vieles entscheidenden Moment ergreifen, um eine Komplizenschaft einzugehen. Diese Momente kehren nicht zurück, jedenfalls nicht in diesem Licht, vielleicht aber in einem anderen. Deshalb sind Komplizenschaften auch nicht reproduzierbar.

Am Anfang steht die Anziehungskraft

3) Komplizenschaft beschreibt eine kollektive Dynamik, die meist am Anfang von Begegnungen steht. Ihr erster Ausdruck ist oft ein physischer: Ein Blick, eine Geste, eine Haltung, eine Bewegung, die autonome und doch synchronisierte Aktivität ermöglicht. Dieser Anfang macht die Anziehungskraft aus, die der Start für eine neue Formation ist. Er ist manchmal kurz und fragil, weil er Verletzbarkeit und Attraktivität gleichermaßen in sich vereint. Komplizenschaft kann schnell in andere Organisationsformen wie Teamwork, Allianz, Netzwerk, Freundschaft, Kollaboration, Kooperation oder Mafiastrukturen übergehen. Die Übergänge sind dabei oft fließend.

4) Komplizen sind meist nicht als solche zu erkennen, weil sie – auch im übertragenen Sinne – keine (modischen) Uniformen tragen oder ihre Codes offensichtlich zeigen. Ihr Bündnis ist nach außen hin meist nicht wahrnehmbar, sie schreiben selten Manifeste. Eine vorschnelle Identifikation würde ihre Kraft schwächen, denn nur ohne diese bewahren sie Anonymität und gewinnen Zeit für die Entwicklung ihrer Ideen, um dann neue Strukturen zu erschaffen und überraschend zu agieren. Komplizenschaft basiert auf Anonymität und Unsichtbarkeit, weil diese in bestimmen kreativen Phasen notwendig sind. Transparenz würde hier den Spielraum verkleinern und hinderlich wirken.

5) Komplizen schließen sich zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu entwickeln und dieses umzusetzen. Ohne ein starkes, gemeinsames Interesse kann es keine Komplizenschaft geben. Allerdings ist das Ziel hier nicht als ideologisch aufgeladenes, unerreichbares Fernziel zu verstehen, sondern auf realisierbare und sehr konkrete (Teil-)Ziele ausgerichtet. Die Begegnung an sich sagt zunächst einmal noch nichts über den Verlauf eines Projektes aus, sondern höchstens über das Potenzial zur Entwicklung eines gemeinsamen Zieles.

Individualität und Vertrauen auf Zeit

6) Komplizen müssen sich vor allem in der dritten Phase, der Umsetzung ihrer Tat, eng miteinander abstimmen. Dies geschieht – hier am Beispiel der Bühnenkunst dargestellt – auch auf Bewegungsebene. Ob während der Improvisation zwischen Musikern auf der Bühne oder im Tanz, aber genauso während einer entscheidenden Sitzung oder im Verlauf eines Banküberfalls: In allen Fällen muss temporär eine Synchronisation einsetzen. Diese ist nicht als Gleichschaltung zu verstehen, denn das wäre ein gänzlich unkreativer Vorgang, sondern entsteht gerade, weil die Agierenden unabhängig, individuell und different sind und sich gegenseitig ergänzen. Je mehr Abhängigkeiten im Spiel sind, desto unkreativer wird eine Komplizenschaft.

7) Komplizenschaft ist gerade deshalb eine häufig angewendete Praxis, da komplexe Fragen nicht in unveränderbaren und homogenen sozialen und disziplinären Konstellationen bearbeitet werden können. Querdenken und -handeln entsteht, wenn homogene Gefüge aufgesprengt werden. Deshalb bricht sie mit der Vorstellung stabiler Beziehungsformen und ist an momentane Möglichkeiten, an eine besonders hohe Energie und Intensität und den Augenblick gebunden, in dem ein gemeinsames Ziel erst am Horizont auftaucht. Ist das Teilziel erreicht, lösen sich Komplizenschaften wieder auf, und es wird neu verhandelt.

8) Komplizenschaft zeichnet sich, wenn sie freiwillig eingegangen wird, durch großes gegenseitiges Vertrauen und gleichzeitig ebenso hohe Risikobereitschaft aus. Ist eine Komplizenschaft erzwungen, dann ist eher Abhängigkeit statt Vertrauen die Basis. Der Vertrauenszustand ist reizvoll und gefährlich zugleich, und er spitzt sich zu, wenn viel auf dem Spiel steht.

Vertrauen heißt hier, dass man trotz des Wissens um Grenzüberschreitung gemeinsam den Weg geht – auch, wenn man nicht genau weiß, was dabei rauskommt. Die Kombination aus hohem Risiko und tiefem Vertrauen macht die Attraktivität und die Gefährlichkeit von Komplizenschaften aus. Aus dieser Ambivalenz resultiert die Kraft und Zerbrechlichkeit des Bündnisses gleichermaßen.

Komplizen: Was sie wollen und wo man sie findet

9) Komplizenschaft basiert nicht primär auf Partizipation, denn es geht hier weniger um das Einbeziehen und Mitwirken von vielen an Prozessen. Partizipation setzt voraus, dass eine Struktur oder ein Ziel bereits besteht und die Möglichkeit geboten wird, daran demokratisch teilzuhaben. Bei Komplizenschaft geht es eher darum, dass Wenige zum gleichen Zeitpunkt ein Ziel gemeinsam definieren und in einer ausgehandelten Hierarchie und mit ganz verschiedenen Kompetenzen arbeiten. Komplizenschaft ist kein hierarchiefreies Modell, viel eher kommt es darauf an, in verschiedenen Situationen in die richtige Rolle zu schlüpfen, die beim nächsten Coup dann wieder eine ganz andere sein könnte (oder sollte).

10) Komplizenschaften zeigen sich eher in kleinen Zusammenkünften, die jedoch auch in großen Strukturen zu finden sind (beispielsweise in Netzwerken, großen Unternehmen oder Organisationen). Sie liegt nicht außerhalb eines Systems, sondern reagiert auf dieses. Sie tritt deshalb sogar recht häufig in großen und vor allem rigiden, hierarchisch klar definierten, eher konservativen Strukturen auf, vor allem dann, wenn Innovation nötig wäre und aktiv verhindert wird. Die Frage ist, wie große Organisationen mit solchen Keimzellen umgehen. Verhindern sie Komplizenschaft oder nehmen sie eine solche zum Anlass, um Strukturen zu verändern und damit zugänglich für neue Einflüsse zu bleiben?

11) Komplizen finden ihre eigenen, oft unkonventionellen Wege der Kommunikation. Diese Artikulationen sind wenig normiert. Sie folgen keinen vorgegebenen corporate communications oder den Sprachcodes des jeweiligen sozialen Feldes (wie beispielsweise dem Jargon der Wissenschaft). Im Gegenteil: Eine gute Komplizenschaft ermöglicht, dass man sich den Bruch der Konvention leisten kann. Die Tänzerin Anna Huber sagt im Forschungsfilm (Komplizenschaften, 2007, CH, R: Weber/Ziemer), dass sie »unsichtbare Fäden« der Kommunikation auf der Bühne herstellen würden, um gemeinsam agieren zu können.

Jeder performt seine Bewegungen und doch kommunizieren diese unsichtbar miteinander. Der Musiker Lukas Niggli formuliert im Film die Frage, was bei der Improvisation geschieht: »Höre ich zuerst und spiele dann, oder spiele ich zuerst und höre dann?« Künstlerische Praktiken helfen dabei, andere und sehr wirkungsvolle Kommunikationsformen ins Licht zu rücken.

Komplizenschaft ist ungesund?

12) Die Frage, wann Komplizenschaft eine Lebens- oder Überlebenstaktik ist, müssen die Akteure selbst von Fall zu Fall kritisch reflektieren. Komplizenschaft kann prekäre Arbeits- oder Lebensverhältnisse fördern und dann zulasten der eigenen Gesundheit oder finanziellen Sicherheit gehen, oder sie kann gerade die richtige Arbeitsform sein, um auf andere Wege zu gelangen. Dabei ist das Ziel einer jeden Komplizenschaft nicht aus dem Auge zu verlieren. Taktiker agieren per definitionem weniger regelgeleitet als Strategen und sind dafür wesentlich fähiger, sich auf neue Situationen einzustellen.

13) Das Beispiel der unvorhergesehenen Abwahl eines Politikers steht ganz explizit für dieses Anzeichen. Hätte dieser gewusst, dass parteiübergreifend gegen ihn agiert wird, hätte er strategische Maßnahmen ergriffen, die seine Abwahl hätten verhindern können. Komplizenschaft entgeht somit der klassischen Feind-Freund-Logik und zeigt sich nie in Kompetenzgerangel. Oft eignen sich Komplizen unbemerkt die Taktiken der Gegner an, um erfolgreich gegen diese zu agieren. Am besten funktioniert dies, wenn die Gegner gar nicht merken, dass sie überhaupt Gegner sind, und dadurch keine Energie in sinnlosen Stellungsgefechten abgezogen wird.

14) Komplizenschaft kommt fast nie ohne den – zumindest potenziellen – Verrat aus. Einen gibt es immer, der das Kollektiv infrage stellt und mit dem Austritt droht. Dieser kennt die Geheimnisse des Kollektivs und kann diese bei für ihn gewinnbringender Gelegenheit verbreiten. Sobald sich diese Figur im Kollektiv abzeichnet, setzt in der Regel eine verstärkte Bindung zwischen den anderen zum Schutz der Gruppe ein. Ein drohender Verrat ist also nicht unbedingt nur negativ zu bewerten, weil er die Energie in der Gruppe erhöht. Dieser lässt sich zudem meist nicht verhindern.

15) Was als schwach oder stark in einer Organisation betrachtet wird, ist relativ. Zu beobachten ist jedoch, dass Komplizenschaft, weil sie etwas verändern möchte, anfangs meist schwach gegenüber den vorhandenen, festen und dominanten Strukturen ist. Umso wichtiger ist die enge Bindungsintensität innerhalb der Gruppe. Es ist eine soziale Bindungsform, die Handlungsspielräume eröffnet, auch wenn verhindernde Strukturen sehr dominant sind. Macht das Ziel für die Teilnehmenden Sinn, wird sich eine Öffentlichkeit herstellen, womit auch eine politische Artikulation einhergehen kann.

Anm.d.Red.: Gesa Ziemer hält bei der Berliner Gazette-Jahreskonferenz COMPLICITY den Einleitungsvortrag am Samstag, dem 9. November um 13:30 Uhr, im SUPERMARKT, Brunnenstr.64. Der oben veröffentlichte Beitrag basiert auf einem Kapitel ihres just erschienenen Buchs Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität. Mehr zum Thema bei unserem Jahresschwerpunkt KOMPLIZEN. Foto oben: John Leuba, cc by 2.0.

4 Kommentare zu “Komplizenschaft: 15 Anzeichen zum Rekapitulieren, Ergänzen, Verneinen oder Bejahen

  1. das Kriminelle, das Anrüchige, das Taboo – irgendwas aus dieser Ecke nehmen und dem eine neue Bedeutung geben, etwas für den Hausgebrauch daraus zu machen. Das finde ich eine spannende Idee. Die Gesellschaft stigmatisiert vieles und vergisst dabei, dass sie sich damit um Reessourcen bringt – für Geist, Körper und Kultur.

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