Ausgestellte Kindheit: Sollten Eltern bestimmen was zur Privatsphäre gehört und was nicht?

Ein Kind kann oft nicht richtig beurteilen, wie viel es von sich preisgeben sollte: Ob im Netz oder auch für die Titelstory einer Zeitung. Also vertreten Eltern ihre Interessen. Zeynep Tufekci, ihres Zeichens Mediensoziologin, stellt dieses Arrangement in Frage.

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Eine Reihe verantwortungsloser Entscheidungen von Eltern und nicht weniger sorglose Medienberichte haben zur verstärkten Freilegung und Aufdeckung der Privatsphäre von Kindern geführt. Von Kindern, deren Alter weit unter dem einer vernünftigen Definition von Zustimmung und Genehmigung liegt. Ein oft angebrachtes Argument ist dabei, dass die Aufdeckung nur etwas betrifft „mit dem alles in Ordnung sei“, weswegen sie auch okay ist.

Das ist falsch und eine gefährliche Auffassung von Privatsphäre und Datenschutz. Ich denke, jedem Erwachsenen, der 60 Sekunden lang nachdenkt, fallen Bereiche seines Lebens ein, mit denen „alles in Ordnung ist“, und die er dennoch nicht landesweiter Veröffentlichung unterwerfen will.

Außerdem basiert diese Auffassung auf einem grundsätzlichen Missverständnis von Privatsphäre und dem Recht auf Zustimmung: Privatsphäre ist nichts, was dir nur zusteht, wenn du beweist, dass du es verdienst – ganz im Gegenteil, es sollte einen triftigen Grund geben, die Schwelle hin zur Öffentlichkeit zu übertreten.

Kann ein Vierjähriger selbst “entscheiden”, ob er auf ein Magazincover möchte?

Privatsphäre ist kontextabhängig und verschiedene Stufen von Veröffentlichungen lassen sich nicht in einen Topf werfen. Die Erfahrung, ein transsexuelles Schulkind zu sein, ist eine Sache. Eine dich für immer verfolgende Online-Präsenz von Artikeln in Massenmedien über deine transsexuellen Erfahrungen als Sechsjähriger ist eine andere.

Ein Fall, der mich neulich besonders empört hat, war das Cover des Time Magazines letztes Jahr. Es zeigt eine Mutter, die ihr fast vierjähriges Kind stillt – übrigens in einer sehr unnatürlichen Pose zur maximalen Preisgabe. Das Kind blickt direkt in die Kamera, neben der furchtbaren Schlagzeile „Are you Mom Enough?“ („Bist du Mutter genug?“).

Um das klar zu sagen: Ich habe nichts gegen Stillen von Kindern in diesem Alter – auch wenn aus historischer Sicht in vielen Kulturen Kinder mit zwei oder drei Jahren abgestillt werden. Frauen, die ihre Kinder in Öffentlichkeit stillen? Auch kein Problem, wer sich gestört fühlt, kann einfach wegsehen.

Das Time Magazine will eine Geschichte über längeres Stillen machen? Bitte. Und bitte sprecht über den fehlenden Mutterschutz für junge Eltern (die USA sind dabei die schlechtesten unter den meisten entwickelten Nationen), der es den meisten Frauen am schwersten macht, überhaupt zu stillen.

Kleinere Kinder können bestimmte Entscheidungen noch nicht treffen

Aber wenn ein vierjähriges Kind gebeten wird, sich auf einen Stuhl zu stellen – ein wirklich seltsames Set-Up dieses Fotografen – um direkt in die Kamera zu schauen und damit auf dem Cover eines Magazins mit internationaler Reichweite abgedruckt zu werden, dann sollte man über die Frage nach Zustimmung der Kinder diskutieren.

Während Zustimmung in manchen Fällen schwierig sein kann, trifft das hier nicht zu. Ein Vierjähriger kann die Ausmaße einer solchen Veröffentlichung nicht verstehen und ist mit der Zustimmung dazu völlig allein gelassen.

Medien sollten nicht die Privatsphäreninteressen des Kindes außer Kraft setzen, sondern nach bestem Gewissen im Sinne des Kindes handeln. Es sollte keine Kontroverse an einer Stelle entstehen, wo es überhaupt keine geben sollte. Und es sollte nicht versucht werden, durch Tricks und Täuschungen Aufmerksamkeit zu erheischen, wenn es eigentlich um Kindererziehung und das Beste für das Kind geht.

Ich gebe dir eine Kugel Eis und Du mir dein Einverständnis

Ein etwas aktuelleres, differenzierteres Beispiel ist die Geschichte eines transsexuellen Kindes, das fotografiert und namentlich in einem Portrait der New York Times (NYT) genannt wurde. Die Herausgeberin der NYT, Margaret Sullivan, sagt über die Entscheidung, den Namen des Kindes zu veröffentlichen: Die Zustimmung der Eltern zusammen mit der Bereitschaft des Kindes seien dafür maßgeblich gewesen. Und da nichts Falsches dabei wäre, transsexuell zu sein, gäbe es in diesem Fall auch keine Bedenken bezüglich der Privatsphäre.

Erstens gehört das Zustimmungsrecht der Kinder nicht den Eltern. Es wird ihnen allenfalls anvertraut, was bedeutet, im besten Sinne für das Kind entscheiden zu müssen. Zweitens: Das gefährlichste Missverständnis überhaupt ist der Gedanke, nicht über Privatsphäre nachdenken zu müssen, wenn eine Sache an sich in Ordnung ist.

Welches Gewicht hat das Zustimmungsrecht der Kinder?

Zuerst zum Zustimmungsrecht der Kinder: Für meine Studien spreche ich hauptsächlich mit zwei Altersgruppen – mit Mittel- und Oberstufenschülern. Selbst für diese Altersgruppen halte ich es für schwierig die Ausmaße öffentlicher Preisgabe zu verstehen oder die Konsequenzen solcher Entscheidungen einzuschätzen, obwohl sie viel, viel älter sind als die Vor- und Grundschulkinder, über die wir hier sprechen.

Bei Oberstufenschülern gehen wir von jungen Erwachsenen aus. Doch selbst da müssen wir noch einiges mehr an Erziehungsarbeit leisten. Denn auch sie ringen mit den Auswirkungen der digital vernetzten Welt auf die Privatsphäre – das Thema Datenschutz wirkt in diesem Zusammenhang wie ein verlorenes Kapitel der Aufklärung.

Mittelstufenschüler denken meist wenig über Preisgabe außerhalb ihrer Cliquen nach und finden es auch meist schwierig, verschiedene Lebensphasen zu konzeptualisieren, durch die sie dennoch gehen werden. Habt ihr wirklich vergessen, wie es ist, in diesem Alter zu sein? Wie es ist als Vorschüler irgendwelchen Anfragen zuzustimmen? Der Soziologe Kieran Healy antwortete mir in einem Tweet: „Ein Sechsjähriger wird zu fast allem zustimmen, wenn du ihm ein Eis versprichst.“

Das Gegenteil von geheim ist nicht Veröffentlichung

Wenn Kinder älter werden, wächst ihr Verständnis von Zustimmung, sie kommen in eine Grauzone. Gesellschaftlich legen wir die Grenze dieser Grauzone auf 18 Jahre, um erwachsen zu sein. Ich kann verstehen, dass sich Teenager für Freigabe entscheiden, und manchmal werden bestimmte Themen wirklich knifflig.

Ich will auf keinen Fall befürworten, dass transsexuelle oder queer-Kinder versteckt werden sollten – vielmehr bin ich voll und ganz dafür, die Erfahrungen ihrer Schulzeit soweit wie möglich von geschlechtlichen Spannungen zu trennen.

Nun zur Frage dieses falschen Verständnisses von Privatsphäre: „Wenn nichts Falsches an X ist, dann gibt es keine Erwägungen bezüglich Datenschutzes.“ Füge dein Lieblings-X ein: Stillen, transsexuelle Kinder, deine Freunde auf Facebook, welche Filme du liebst oder hasst usw.

Datenschutz und Veröffentlichung sind für die Integrität deiner Person da und das Recht, Informationen über dich nach deinen Vorstellungen zu teilen. (Hellen Nissenbaum’s „Privacy in Context“ und Daniel J. Solove’s „Nothing to Hide“ sind zwei großartige Fibeln für dieses Thema.)

Das Gegenteil von „Geheimnis“ oder „beschämend“ ist nicht „Veröffentlichung ist okay.“ In welcher Machtposition setzt man sich für dieses allumfassende Prinzip über sein eigenes Leben ein? Wie können wir rechtfertigen, diesen Blickwinkel auf die Privatsphäre von Kindern einzunehmen?

Wir müssen hier viele komplexe Fragen behandeln – zum Beispiel, welches Recht haben andere Parteien in einer sozialen Interaktion, Inhalte davon nach außen zu tragen? Wann ist ein anderenfalls privates Thema von öffentlichem Interesse? Wie sollten einvernehmliche Datenschutzentscheidungen aussehen und wie gehen wir mit Verletzungen derselben um? Wie können wir Kinder und junge Erwachsene erziehen, die mit diesen Themen ringen? Aber es gibt auch andere Fragen, auf die wir klare Antworten geben können.

Entfaltungsraum und Machtabbau

Ich mache ein bewusst provokatives Beispiel: Sexualität von Kindern. Beim Lesen verschiedener Studien oder in Gesprächen mit Vorschullehrern, wirst du feststellen, dass es völlig normal und gewöhnlich ist, dass sehr junge Kinder einen wachsenden Sinn für Sexualität haben. Sie stellen Fragen, sie entdecken, sie berühren, sie fühlen.

Es ist nichts Falsches daran, wenn Kindern erlaubt ist, Kinder zu sein. Sie nicht dazu anzuhalten, mit Sexualität in erwachsenen Begriffen umzugehen oder sie erwachsenen Manipulationen zu unterwerfen. Können oder sollten wir die aufblühende Sexualität eines Kindes für den Konsum Erwachsener veröffentlichen, weil daran nichts Falsches ist? Nein, nein, nein.

Zurück zu diesem Fall des transsexuellen Kindes. Ich möchte dessen Eltern dafür loben, sich für ihr Kind einzusetzen. Wie sie bereits herausgefunden haben, kann es schwierig für ihr Kind sein, sich zu orientieren. Schulen sollten versuchen, allen Kindern dabei zu helfen, sich willkommen zu fühlen und das Spektrum menschlicher Erfahrungen zu de-stigmatisieren.

Diese Altersgruppe (etwa Mittelstufenschüler) geht durch eine stark von Geschlechts-Stereotypen geprägte Phase. Sie sind starr auf Geschlechtskategorien fixiert, aus denen sie wahrscheinlich herauswachsen werden. Beispielsweise die Attacke der Prinzessinnen-Phase oder wahnsinnig übertriebenes Make-Up.

Im Falle dieses Kindes bedeutet es trotz engagierter Eltern allerdings nicht, dass sie zugestimmt hat, „ganz literarisch gesprochen, das Poster-Kind“ für dieses Thema zu werden. Wir wissen nicht, ob sie lieber aufwachsen würde, ohne als transsexuell bekannt zu sein. Vielleicht ändert sie ihre Meinung. Das kommt vor und wir sollten ihr den Raum dafür geben (die Definition von Freiheit, oder nicht?).

Das ist offensichtlich schwieriger als „Poster-Kind“ mit bundesweiter Veröffentlichung. Vielleicht will sie ein “Poster-Kind” in ihren eigenen Begriffen sein. Ich weiß es nicht, du weißt es nicht, und ihre Eltern wissen es auch nicht.

Im Sinne des Kindes ist die beste Entscheidung, den Raum zu lassen, eigene Entscheidungen nach eigenen Vorstellungen zu machen, nicht unter vernichtenden Medienscheinwerfern.

Was ist mit Kindern mit Down-Syndrom oder Autismus, fragt Margaret Sullivan. Es ist eine ähnliche Frage, aber es gibt offensichtliche Unterschiede. Zum einen sind in beiden Fällen größere Unterschiede sichtbar, sodass ein Kind oft keine Wahl darüber hat, ob andere seine atypischen Merkmale kennen.

Zum anderen wird ein transsexuelles Kind die Erfahrung machen, dass viele andere ihm gegenübertreten, völlig ohne dieses Thema im Vordergrund. Natürlich sollten Eltern von Kindern mit Behinderung und Medien berücksichtigen, ob ihr Kind zustimmen kann, ein „Poster-Kind“ in diesen Umständen zu sein. Es wird seine Erfahrungen beim Aufwachsen in diesem vernetzten Umfeld dramatisch beeinflussen. Die Antwort darauf ist kein automatisches Ja.

Ein Kind bestimmt über sich selbst

Hier sind einige Gedanken, wie man an den Themenkomplex Kinder und Medien herangehen kann:

1. Sind Name und Foto des Kindes essentiell für den Beitrag? Wenn nicht, Vorsicht walten lassen.

2. Ist das Kind zu jung, um sowohl Veröffentlichung als auch Preisgabe einzuschätzen, und kann somit nicht über Zustimmung entscheiden? Wenn ja, von keiner Zustimmung ausgehen und zur nächsten Frage übergehen. Es sollte offensichtlich sein, dass Kindergartenkinder diese Einschätzung und Entscheidung nicht treffen können. Ich würde auch argumentieren, dass bei niemandem unter der Mittelstufe davon ausgegangen werden kann und man ab diesem Alter je nach Fall entscheiden sollte.

3. Gibt es einen sehr spezifischen, greifbaren und wichtigen Gewinn, den das Kind aus der Veröffentlichung mit Name und Foto ziehen kann? (Sicher kann derselbe Artikel in diesem Fall ohne Name und Foto des Kindes geschrieben werden, oder?) Beispielsweise ein entführtes Kind passt gut in diese Kategorie: Ein Foto in den Nachrichten kann in diesem Fall das Leben des Kindes retten. Aber wir sollten uns immer auch die letzte Frage stellen:

4. Können wir davon ausgehen, dass das Kind groß wird und sich wünscht, die Veröffentlichung wäre nie geschehen?

Eine abschließende Bemerkung: Ich weiß, dass die NYT argumentiert, dass „Katie Couric angefangen hat“, indem sie Eltern und Kind in ihre Show eingeladen hat. Das war eindeutig falsch von den Eltern und der Katie Couric Show – aber legitimiert keine nachfolgenden Preisgaben. Auf jeden Fall wollte ich viel mehr explizit über einige Prinzipien schreiben, als zu beurteilen, welche Preisgabe die schlimmste war oder den größten Tadel bekommt.

Letztendlich wünsche ich mir wirklich, dass Eltern, Redakteure von Massenmedien und Internetseiten und jeder, der glaubt, dass es sein Vorrecht ist, über das Zustimmungsrecht der Kinder zu verfügen, mit ganzem Herzen erkennt, dass es sich dabei um Ausübung von Macht über eine gefährdete Person handelt. Es mag Fälle geben, in denen das angebracht ist, aber „das sechsjährige Kind hat zugestimmt“ und „es ist nichts Falsches an dem veröffentlichten Thema“ sind keine guten Gründe.

Ich ende mit Khalil Gibrans zeitlosem Gedicht „Von den Kindern“.

Von den Kindern

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch Euch aber nicht von euch,
und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen.
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen Eure Kinder
als lebende Pfeile abgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit Seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst Euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein.
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt,
so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema gibt es in unserem Dossier DIGITAL NATIVES. Der Text wurde von Martina Dietz ins Deutsche übersetzt. Die Fotos stammen von Kristina Daley und stehen unter einer Creative Commons Lizenz.

3 Kommentare zu “Ausgestellte Kindheit: Sollten Eltern bestimmen was zur Privatsphäre gehört und was nicht?

  1. danke, eine Anmerkung dazu: “Privatsphäre ist nichts, was dir nur zusteht, wenn du beweist, dass du es verdienst – ganz im Gegenteil, es sollte einen triftigen Grund geben, die Schwelle hin zur Öffentlichkeit zu übertreten.”

    Nein, nicht beweisen müssen, aber das Gegenteil, also von Geburt an haben – das ist auch unsinnig. Denn alles im Leben ist Konstruktion und das ist ein ständiger Prozess; also müssen wir Privatsphäre bauen, konstruieren, teils auch erkämpfen. Wann beginnt das Bewusstsein darüber? Darüber kann man streiten. Auch darüber, wann man in der Lage ist, mit welchen Mitteln und mit wessen und welcher Unterstützung.

  2. ich kann mütter (und väter) nicht verstehen, die auf facebook ständig fotos von ihren babies und kleinkindern veröffentlichen. haben diese wesen keine privatspähre, keine andacht? geht es immer nur um den selbstdarstellungsdran der eltern?

  3. sehr sehr richtig: Ein Sechsjähriger wird zu fast allem zustimmen, wenn du ihm ein Eis versprichst.

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