Digitale Eingeborene ohne Stimme: Warum lassen wir uns von Jugendlichen nicht die Welt erklären?

Jugendliche könnten uns die Welt erklären. Doch statt ihnen zuzuhören, behandeln wir sie wie Eingeborene. Eine Polemik des Berliner Gazette-Herausgebers Krystian Woznicki.

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Die Gesellschaft wird greiser dabei aber nicht weiser. Im Gegenteil. Die alternde Mehrheit projiziert ihre eigene Dummheit auf Jugendliche: “Das Hirn haben sie sich beim Komasaufen oder Surfen zerschreddert.”

Kurz: Jugendliche dienen als Spiegel. Aber keiner guckt richtig rein. Vielmehr wollen alle nur das sehen, was sie wollen. Die eigenen Ängste kommen zum Vorschein. Lügen. Wünsche.

Eingeborene eines fremden Planeten

Als Teil der alternden Mehrheit gehöre ich zu einer Gruppe, die nicht so recht an die Welt glaubt, in die Jugendliche hineinwachsen. Noch weniger behagen uns die Umrisse jener Welt, die derzeit im Werden begriffen ist. Digitalisierung ist eines der zentralen Stichwörter einer gegenwärtigen Zukunft – für die meisten “Alten” ein Fremdwort, für manche sogar ein Schimpfwort, nicht alle sprechen es aus.

Jugendliche werden nicht zufällig als digitale Eingeborene (digital natives) bezeichnet. Sie gelten als Botschafter der Digitalisierung, als Ureinwohner eines Kontinents, auf dem das Internet ein fester Bestandteil der Wirklichkeit ist – so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen.

Wir bedienen uns der kolonialen Metapher um Jugendliche zu beschreiben, denn wie schon bei Kolumbus sind Eingeborene Projektionsflächen einer Gesellschaft, die Macht erhalten will unter dem Vorwand nach Erkenntnissen zu suchen.

Wir aber suchen nicht wirklich nach Erkenntnissen, wenn wir Jugendliche befragen. Wir tun zwar so, als nähmen wir sie ernst als besagte Botschafter. Aber in Wirklichkeit kommen wir à la Kolumbus mit einem vorgefertigten Bild daher. Das belegt übrigens auch die aktuelle Ausgabe des Spiegel mit der aufwändigen Titelstory über Facebook: Planet der Freundschaft.

Erkenntnisse schon vor der Recherche gewonnen

901 Millionen Menschen sind dem sozialen Netzwerk Facebook beigetreten. Nicht alle davon sind Jugendliche. Aber: Der Inbegriff der digitalen Welt werde erst durch ihre Augen wirklich lesbar – so die These der großen Titelstory des Spiegel. Ihre Augen, das sind in Wirklichkeit die Augen von Manfred Dworschak, 52, der seine Erkenntnisse schon vor der Recherche gewonnen hat.

“Die freundliche Übernahme einer ganzen Generation”, die der Spiegel dem “Datensammler-Konzern” unterstellt – das ist in Wirklichkeit das Werk eines vermeintlich aufklärerischen Journalismus aus dem Hause des Hamburger Traditionsblatts. Die “freundliche Übernahme” läuft hier auf sprachlicher Ebene. Die Jugendlichen werden in sechs Typen klassifiziert: der “Ernüchterte”, die “Geprüfte”, der “Pirat”, der “Aktivist”, der “Frischling” und die “Netzwerk-Mutter.

Sechs Schubladen für eine Gruppe, die in einer von Migration und Globalisierung geprägten Gesellschaft kaum diverser sein könnte – das hätte sich heute selbst ein Kolumbus nicht getraut. Weil es aber keine echten Eingeborene mehr gibt, zumindest keine, die wir noch neu entdecken könnten, züchten wir uns selbst welche heran. Es sind unsere eigenen Nachkommen. Wir haben sie in einer Welt ausgesetzt, die uns nicht mehr geheuer ist. Sie dienen uns als Versuchskanninchen, die wir nach Bedarf beobachten. Und befragen.

Aber wenn wir wirklich etwas erfahren wollen, dann müssen wir etwas Grundlgendes ändern. Wir müssen anfangen, Jugendliche ernst zu nehmen. Ganz aufrichtig. Denn sie haben jenseits aktueller Alterungsprozesse der Gesellschaft schon immer etwas gewusst, was vorangegangene Generationen bestenfalls nur ahnen konnten – als Hineingeborene in eine Gegenwart, die für die meisten vor kurzem noch die Zukunft war.

Anm.d.Red.: Das Foto oben stammt von Walter Larrimore und liegt im Archiv der Smithonian Institution unter einer Creative Commons-Lizenz.

13 Kommentare zu “Digitale Eingeborene ohne Stimme: Warum lassen wir uns von Jugendlichen nicht die Welt erklären?

  1. Seht euch nur an, wie die Mainstreamer mit den Piraten umgehen…
    bei Plassssbörg natürlich eine Promi: Juli Zeh
    (nichts gegen die)
    aber wäre das Niveau wirklich sooo viel tiefer mit einem Noname-Nomaden? (und Hansolaff Henksel musste ja unbedingt mit dabei sein -müssen die wohl alle vorher unterschreiben, dass dem niemand seine reaktionären Sprüche von gar nicht mal so vie früher vorhält?

  2. na ja eine stimme haben sie schon, sie haben ja das internet, aber ich verstehe, es geht darum dass man versucht sie stimmlos zu machen und dabei aber vorgibt stimme zu verleihen. der ewige kampf..

  3. es ist doch absurd! auch die alten können doch sich heimisch fühlen auf dem “Kontinent, auf dem das Internet ein fester Bestandteil der Wirklichkeit ist – so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen.”

  4. @barbie
    natürlich können sie das! Aber die Frage ist doch, ob sie es auch machen…!
    Und wenn sie es nicht tun, dann ist das auch in Ordnung, aber dann ist ein Punkt ganz wichtig und dafür plädiert der Autor ja auch: Toleranz und Akzeptanz gegenüber den “Ureinwohnern”!

    Trotzdem stellt sich hier noch eine Frage: Ist es wirklich aktuelles Problem oder nicht das Phänomen “Jugendliche” über die sich jede Generation, die nicht mehr zu ihnen gehört, aufregt- seit Jahrtausenden- und das durch das neue Medium Internet einfach noch verstärkt wird bzw. eine Plattform bekommt… ?

  5. hm, also der autor spielt ja damit, dass es eine koloniale blickweise gibt, aber das bild spiegelt doch diesen blick wieder, das ist doch exotisierend, oder?

  6. Jawollja. Man sollte endlich aufhören, die Menschen in Schubladen zu packen. Egal ob da Alter, Geschlecht, Sexuelle Vorlieben oder Bildungsstand oder wasweissich draufsteht. Aber das ist schwer, sehr schwer, man ertappt sich immer wieder dabei …

  7. @2: interessant an den Piraten in diesem Zusammenhang finde ich neben der von dir angesprochenen Berichterstattung durch die Mainstream-Medien, die allerdings auch nicht homogen ist, dass der Name dieser Partei auch in der Ära des Kolonialismus geprägt worden ist: die großen Entdecker, die Kaufleute zur See, die die wirtschaftlichen Netzwrke der Globalisierung aufgebaut haben, hatten die Piraten als Gegenspieler, die nach Schlupflöchern gesucht haben und nach Alternativen. Hakim Bey hat als erster Netzkritiker diese Metapher mit Rückbezug auf Geschichte wieder aufgeriffen, es war glaube ich Anfang der 1990er, um den Kampf um das Internet zu beschreiben.

  8. @#5: “durch das neue Medium Internet einfach noch verstärkt wird bzw. eine Plattform bekommt… ?”

    wir müssen verstehen, dass die Digitalisierung ein sehr umfrangreiche und grundlegende Revolution ist, also ist das schon etwas historisch sehr spezifisches, das hier stattfindet und der ewige Kampf zwischen den Generationen bekommt hier ein besonderen Charakter. Vielleicht habe ich deshalb auf eine historische Metapher zurückgegriffen: Der Kampf ist historisch und auch der Ausgang dürfte eine historische Dimension haben.

  9. @#7: “koloniale blickweise gibt, aber das bild spiegelt doch diesen blick wieder”

    das Bild illustriert die Blickweise. Es hält gleichzeitig den Spiegel vor. Und: Es ist absichtlich ein Ureinwihner in Performance-Tracht im Rahmen einer Show.

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