In der Schneekugel: Wie Literatur virtuelle Räume erinnern, erschaffen und neu vermessen kann

Seit dem topographical turn und den ständig neuen technischen Setzungen, leben wir mit und in virtuellen Welten, ihren Möglichkeiten und Gefahren. Die Filmemacherin und Schriftstellerin Kristina Schippling hat sich mit einem Roman auseinandergesetzt, der virtuelle Räume neu vermisst.

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Matthias A. K. Zimmermanns erster Roman KRYONIUM. Die Experimente der Erinnerung ist gerade im Kulturverlag Kadmos Berlin erschienen. Dieses Buch steht nicht für sich allein, sondern bildet nur ein weiteres Eintauchen und Erobern von einem neuen Medium im transmedialen Schaffen des Malers, Medienkünstlers und jetzt auch Schriftstellers.

Mit dem Finden des Ausdrucks in einem Medium hat er nicht nur dieses selbst im Blick, sondern eröffnet schon die inhaltliche Perspektive auf das nächste. Insofern lässt sich auch für KRYONIUM sagen, dass Zimmermann seinen Themen und Strukturen sowie seinem Interesse, mediale Experimente zu wagen, treu geblieben ist.

Encodierung und Decodierung

Dieser Roman erzählt nicht nur linear eine spannende Geschichte, sondern verzahnt sich über seine drei Teile hinweg miteinander und behandelt vor allem virtuelle Räume und digitale Spielwelten. Immer wieder verführt er dabei die Leser*innen in eine Welt, die sich dann doch als eine neue und ganz andere Welt entschlüsseln lässt. Dabei verfolgt er mit Konsequenz sein Prinzip des Baukastensystems, das er schon bei seiner Bildkunst angewandt hat.

Figuren und Ereignisse, die im ersten Teil in einer Märchenlandschaft eingeführt werden, tauchen in einer ganz neuen Raumvorgabe der Psychiatrie auf wundersam verwandelte Weise wiederholt auf. Mit den beiden ersten Teilen lässt sich also über Encodierung und Decodierung philosophieren, über mythische Märchenwelten und aufklärerisches, düsteres Erwachen der Hauptfigur, doch mit dem vermeintlichen Erwachen taucht die Hauptfigur im dritten Teil erneut in traumhafte, virtuelle Landschaften ein (Erinnert sei an dieser Stelle an die Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer).

Der dritte Teil, anders als die ersten beiden Teile, hält gleich mehrere Raumentwürfe bereit, die allesamt von der Hauptfigur durchlebt werden wollen. Unterschiedlichste Welten, abenteuerlich und fantasievoll, werden gekonnt in Szene gesetzt.

Die Schneekugel als Prototyp

Die Schneekugel kann als Prototyp für den gesamten Roman gelten. Zum einen enthält sie Zimmermanns beliebtes Thema, den Schnee – oder besser die künstliche Darstellung oder Überformung von Schnee, passend zu den künstlichen, virtuellen Welten, die Zimmermann beschreibt. Genau wie in seinen Bildern findet sich in der Schneekugel eine leblose und dennoch sehr bewegte Welt vor, zeigen seine Bilder doch keine Menschen oder Tiere, sondern nur Fahrzeuge, Bauten und allerlei kuriose Sammlungen an Gegenständen und bildlichen Zitaten.

In der Schneekugel ist eine ganze Welt enthalten, die, wenn man sie schüttelt, heftig bewegt wird trotz fehlender Lebendigkeit. Ein stiller, abgeschlossener Raum – vielleicht sogar ein zeitloser Raum. So begibt sich die Hauptfigur auf eine Zeitreise durch die Schneekugelwelten, die zunächst winzig klein, sich plötzlich als unendlich groß entpuppen, wenn sie erst einmal in ihnen steckt. Diese Kontraste sind durch das ganze Buch raffiniert konzipiert, handelt es sich doch nicht nur um Außenwelten, sondern auch um Innenwelten der Hauptperson und von Zimmermann geschickt eingeflochtene Szenarien des Mind uploadings.

Nicht ohne Grund unternimmt die Hauptfigur Reisen in die Vergangenheit, inszeniert Zimmermann doch hier eine Art Raumzeitgefüge, bei dem die Themen zeitlicher Stillstand, Vergangenheit und Zukunft sowie kleinste und größte Welten, die auch noch ein und dieselben sind, in ihrer variierenden Größe darstellen, einer ästhetischen Untersuchung unterzogen werden (Die Raumzeit erinnert an die Physik und Albert Einstein, in dessen Theorie nur die Lichtgeschwindigkeit eine Konstante darstellt, Raum und Zeit miteinander verwoben jedoch flexibel sind).

Vergangenheit als Klebstoff

So stehen die Schneekugelwelten zeitlich unberührt und still im Regal und werden erst belebt, wenn die Hauptfigur per gefundenen Schlüssel sich die jeweilige Welt erschließen kann. Nach jeder Schneekugelweltreise und jedem Abenteuer beginnt ein neues Abenteuer, bei dem zeitlich zurückgereist wird. Doch die Welten werden, umso weiter sie in der Zeit zurückliegen, umso futuristischer.

Die Erzählung ist also so aufgebaut, dass die Hauptfigur aus dem Jetzt eine Reise in die Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig antritt. Die Vergangenheit wirkt gewissermaßen als Klebstoff, der die immer futuristischer werdenden Welten in den Schneekugeln zusammenhält mit Voranschreiten der Erzählung. Auch beginnt es mit der größten Welt im Märchen, welche die längste Zeit und den größten Raum einnimmt.

Im zweiten Teil wird zumindest der Handlungsspielraum, also der Innenraum und damit verbunden auch der Außenraum, der die Figur in der Psychiatrie eingeschränkt, den sie sich nur mühsam zurückerobert. Im dritten Teil wirken die Räume fast unendlich (Man denkt ans Kantische dynamische und mathematische Erhabene) und werden dennoch rasant beschritten. Umso mehr die Figur voranschreitet, umso schneller durchlebt sie die immer futuristischer werdenden Schneekugeldimensionen.

Raum und Zeit

Zimmermanns erster Roman ist also eine Studie über Raum und Zeit, die von ihm als variable Größen genutzt werden und auf immer wieder neue Weise ästhetisch miteinander verknüpft werden. Noch dazu wird die Erzählerperspektive geschickt gewechselt im Verknüpfen mit der Begegnung des Ichs der Hauptfigur mit einem früheren Ich.

Der Ich-Erzähler, der seine Welt noch zu beherrschen scheint, verliert sich im Verlauf in den Welten und wird von seinem Podest gehoben und ins Geschehen in der dritten Person Singular hineingeworfen, passend zum postmodernen Subjekt, das in den futuristischen Szenarien unterzugehen droht und sich nicht mehr wie das aufklärerischere Subjekt gegenüber seiner Umwelt behaupten kann.

Hier wird auch wieder die Zeit ästhetisch mit dem Buchmedium verflochten. Aber nicht nur das Medium des Buchs wird als Medium selbst thematisiert, sondern auch die Medienlandschaft futuristischer Computerspielwelten wie allgemein die Bildlandschaft werden inhaltlich aufgegriffen. Mit dem topographical Turn liegt Zimmermann voll im Trend. Zunächst einmal scheint sein Buch dem traditionellen Verständnis von Raum als einem Gefäß zu folgen, sind doch die Schneekugeln Gefäße par Excellence.

Jedoch lässt sich der Raum auch als ein Netz aus verschiedenen Gegenständlichkeiten verstehen, werden die Figuren und Dinge im ersten Teil des Romans im zweiten Teil erneut verwandelt aufgeführt und kehren zurück. Es sind also auch die Bausteine im Baukastensystem und ihre Vernetzungen, die einen Raum entstehen lassen, nicht nur das Behältnis, das gefüllt werden darf.

Nichts ist statisch

Hier greift Zimmermann die Konzeption virtueller Räume auf. Und ganz seiner ästhetischen Studie über Raum und Zeit folgend, lassen sich traditionelle Raumtheorien wie auch Raumtheorien, die virtuelle Räume zu erfassen versuchen, aus dem Werk rekonstruieren. Nichts ist statisch, alles korrespondiert miteinander.

Die Welten und Perspektiven werden hier einmal kräftig geschüttelt und neu angeordnet und der künstliche Schnee rieselt über unglaubliche ästhetische Konstruktionen, anhand derer Matthias A. K. Zimmermann sein künstlerisches Können einmal mehr bewiesen hat.

Anm. d. Red.: KRYONIUM. Die Experimente der Erinnerung ist im Kulturverlag Kadmos Berlin erschienen, der ausgezeichnet wurde mit dem ersten Deutschen Verlagspreis, vergeben durch die Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters. Das Foto oben stammt von Mario Sixtus und steht unter einer CC-Lizenz (CC BY NC SA 3.0).

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