Im Twitter-Stream ist kein Platz für Frontalunterricht

Schulabbrecher und Bachmannpreisträger Peter Glaser meldet sich in unserer BILDUNGS-Umfrage zu Wort und stellt drei interessante Dinge fest. Erstens: Die wirklich wichtigen Dinge des Lebens habe er erst nach der Schule gelernt. Zweitens: Der Computer habe ihm geholfen voneinander getrennte Kulturbereiche zusammen zu denken. Drittens: Gemeinsames Lernen habe im Chaos Computer Club eine lange Tradition.

“Mein Bildungsweg wurde vorübergehend durch meine Schulzeit unterbrochen”, dieses Wort von George Bernard Shaw gilt auch für mich. Ich habe ein Jahr vor dem Abitur (in meiner Heimat Österreich: vor der Matura) das Gymnasium verlassen. Damals wollte ich bereits schreiben.

Ich hatte so ein Vorgefühl, dass der akademische Weg, also etwa über ein Germanistikstudium, eher zur Zerlegung von Texten führt – ich wollte aber Texte zusammenbauen. Ich habe dann ein paar Jahre Hilfsarbeiterjobs gemacht, als Briefträger, Tankwart, Fabrikarbeiter, Vermessungsgehilfe, Zirkusarbeiter, all sowas, und dabei vor allem in der ersten Zeit schockiert erkannt, dass ich in der Schule nichts gelernt hatte als Lernen, und nichtmal das richtig. Von den Dingen des Lebens hatte ich praktisch keine Ahnung und ein paar wohlmeinende Arbeitskollegen versuchten, meine immense Bildungslücke zu schließen.

Ich will nicht ungerecht sein: Am Gymnasium hatte ich einen Deutschprofessor (in Österreich werden alle Gymnasiallehrer als Professoren bezeichnet), der durch seine Unterrichtsmethoden – Dinge wie “freies Thema” bei schriftlichen Arbeiten – maßgeblich dazu beigetragen hat, dass ich dann Schriftsteller werden wollte.

Als ich mit der Computerei angefangen habe, also Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, hat die Maschine für mich als Katalysator fungiert und verschiedene verstreute oder abgetrennte Kulturbereiche wieder miteinander in Verbindung gebracht, Literatur und Kunst zum Beispiel wieder zu einem osmotischen Austausch mit Naturwissenschaften und Technologie veranlasst.

Der Computer, auch wenn er ausgeschaltet war, hat alle miteinander verbunden

Im Chaos Computer Club hat dieser Katalysator veranlasst, dass ich gelernt habe, wie man in einer inhomogenen Gruppe aus extrem unterschiedlichen Individuen in einen gemeinsamen Diskurs eintritt und leidenschaftliche Debatten über technische und gesellschaftliche Fragen führen kann.

Der Computer, auch wenn er ausgeschaltet war, hat alle miteinander verbunden. Inzwischen erwecken die immer vielfältigeren Zugänge zu Wissen und inspirierenden Informationen durch das Internet die Ruinen an humanistischem Bildungsgut, über die ich aus der Schulzeit und aus meiner Biografie als Leser und kulturatmender Mensch verfüge, immer wieder zu neuem Leben.

Der digitale Lernkatalysator funktioniert also nach wie vor, und er verändert sich. Einen negativen Aspekt will ich nicht verschweigen: Was manche als “lebenslanges Lernen” feiern, bedeutet zugleich auch, dass Wissen immer schneller entwertet wird.

Was das Lernen anbetrifft, so hat das für mich beim CCC immer auf verschiedenen Ebenen funktioniert. So gehört zum Beispiel eine modernisierte Form von informationeller Nachbarschaftshilfe immer mit zum Grundbestand. Wenn man etwas nicht verstanden hat, war und ist immer einer da, der einem das so einigermaßen erklären kann.

Oder man bastelt eben herum, auch mit Ideen, bis der Groschen fällt. Und dann hab ich immer noch ein paar teure Handbücher für komplexe Programme, in die ich dann aber doch nie reingelesen habe – stattdessen hab ich mir die Software von jemandem erläutern lassen, der schon damit umgehen konnte und dadurch immer sehr praxisbezogen gelernt und viel Zeit und Nerven gespart.

Twitter und Facebook: Von Haus aus ein einziges gemeinsames Lernen

Das gemeinsame Lernen im Netz funktioniert auch in Zeiten von Twitter und Facebook hervorragend. Beide Dienste sind von Haus aus ein einziges gemeinsames Lernen, und zwar in demokratisierter Form. Kein Frontalunterricht mehr, auch keine speziellen Lehrkräfte, vielmehr ist jeder in meiner Timeline jetzt ein Anbieter von potentiell Wissenswertem.

Oder es kommt ein guter Schnack, der mich wieder sozusagen lerndurchlüfteter in diese Riesenmengen an hochinteressantem Zeug aus der Weltwissensmasse eintauchen lässt. Bildung ist nur zu einem kleinen Teil eine Frage von Fakten.

8 Kommentare zu “Im Twitter-Stream ist kein Platz für Frontalunterricht

  1. Sehr interessanter Beitrag. Zu den letzten beiden Absätzen habe ich eine Frage: Gehen Sie nicht vielleicht auch unter in der Twitter-Timeline mit all den interessanten Beiträgen etc. Ich meine: Wie filtern Sie das Wissenswerte?

  2. Ich muss an die vielen schönen Dinge, die mir in den letzten 10, 15 Jahren im Internet begegnet sind und das ist ja vielleicht auch: Begegnungen – das ist alles, was zählt. Auch in Sachen Bildung. -> Begegnungen bilden :)

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.