Im Netz lernen – überall anwenden: Was wir Offline nutzen können und sollten

Was können wir aus dem Internet lernen? Wie können wir dieses Wissen im Offline-Leben anwenden und Protest neu gestalten? Aktivistin Simona Levi findet Antworten auf diese Fragen und bietet eine Art Leitfaden, um die Erfahrungen sozialer Bewegungen in Spanien weiterzugeben.

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Die einzigen zwei Dinge, auf die wir uns mit absoluter Sicherheit verlassen können, sind der Tod und unsere Finger. @Mic_y_Mouse

Der Kampf um ein freies Internet in Spanien hat unter anderem dazu beigetragen, die Indignados-Bewegung ins Leben zu rufen und ihre Evolution zu ermöglichen. Eine Evolution, die die Welt, und vielmehr die Demokratie verändern wird. Die Frage ist, was wir – die Internetuser – vom Netz und seinen sozialen Netzwerken gelernt haben und wie wir die gewonnenen Erkenntnisse auf alle digitalen Kampfgebiete übertragen. Wir müssen überall präsent sein und handeln: sowohl in den autonomen als auch in den kapitalistischen Räumen der digitalen Welt. Denn wir können von beiden etwas lernen.

Das Internet mit seinen sozialen Netzwerken ist nicht nur ein Instrument, es ist auch eine historische Epoche und ein Schlachtfeld, auf dem wir eine neue taktische Philosophie erlernen können. Die Hacker-Ethik zeigt erstens, dass die Welt voller faszinierender Probleme steckt, die gelöst werden wollen. Zweitens sollte ein Problem niemals zweimal gelöst werden müssen. Drittens wollen wir keine Langeweile und Schinderei auf uns ziehen. Viertens wollen wir die maximale Freiheit nutzen. Und zu aller Letzt: Einstellung ist kein Ersatz für Kompetenz. Der Cyberspace hat uns Handeln gelehrt, statt nur zu protestieren und zu verlangen, dass etwas getan wird. Wir verlangen einzig die Beseitigung aller Handlungshindernisse.

Konkrete Ansprüche statt idealistischer Hypothesen

Wir müssen unsere Hoffnungen, Träume, Dogmen und unseren Glauben mit uns tragen, aber sie in der hintersten Ecke unseres Herzen bzw. Verstandes ablegen. Denn die einzige Waffe, die wir im gemeinsamen Kampf einsetzen sollten, sind unsere konkreten Ziele. Wie können wir herausfinden, was konkret ist und was nicht? Als Anhaltspunkt können wir uns folgender militärischen Formel bedienen: Fragt: Wer? Was? Wie? Wann? Wo? Und darüber hinaus: Warum? Auf einem gemeinsamen Kampfgebiet brauchen wir Lösungen, nicht Probleme.

Wer sind wir und wer wollen wir sein?

Wir können vieles sein: ein Individuum, eine geschlossene, offene oder diffuse Gruppe, eine kurzlebige oder anonyme Identität, sogar ein Kommunikationsmedium. Wir können einige dieser Identitäten zeitgleich verkörpern, aber wir müssen uns der Verhaltensmuster bewusst sein, die jede einzelne Identität in sich birgt. Die Wahl einer dieser oder mehrerer Identitäten bedeutet nicht den freiwilligen oder zwangsläufigen Verzicht auf andere soziale Räume wie Versammlungen, Nachbarn, Ortschaften etc.

Wir müssen alle möglichen Räume besetzen und darin arbeiten, aber gleichzeitig die Identitäten respektieren, die die jeweilige Situation verlangt. In der Geburtsstunde der Indignados-Bewegung waren andere Handlungen erforderlich als heute. Anfangs mussten wir eine Herde sein (vielzählig und gewaltig), jetzt müssen wir als Katalysator arbeiten (effektiv und schnell). Manchmal müssen wir eine Herde sein und manchmal Katalysatoren. Wir sollten keine Angst davor haben, wenige zu sein, wenn es nicht anders geht oder so sein soll. Und wir sollten nicht den Wert des Katalysators der Herde zurechnen.

Die Herde ist eine Gemeinschaft von individuell Handelnden, die miteinander und mit ihrer Umwelt interagieren. Sie bewegt sich als Einheit, ihre Funktion ergibt sich aber aus dem unkoordiniertem Verhalten ihrer Mitglieder, die eigenen Impulsen folgen. Jedes Individuum führt innerhalb kürzester Zeit spontan und gemäß seiner Fähigkeiten verschiedene Tätigkeiten aus. Ein Individuum kann kurz die Kontrolle über die Herde erhalten oder in die Ecke gedrängt werden, so dass ein anderer an die Spitze rückt. Eine Herde kann nicht schnell und präzise handeln, aber sie verfügt über die Fähigkeit zu expandieren.

Katalysatoren sind Hilfsmittel, die einen naturwissenschaftlichen Prozess beschleunigen. In der Chemie sind Katalysatoren kleine Gruppen von Molekülen, die das Tempo von Reaktionen bestimmen: sie beschleunigen oder verlangsamen. Durch Katalysatoren wird für den chemischen Prozess weniger Energie benötigt. Sie vergrößern die verfügbare Energie und sind treibende Kraft der Reaktion. Sie sind flexible, aber kleine Gruppen aus nicht mehr als 20-50 Molekülen.

Ein Lob auf das Prinzip der “Gabel”

Das Prinzip der Gabel ist es, immer fein säuberlich zu trennen: Wir wirken als autonome Individuen bei bestimmten Projekten mit und im besten Falle verlangen wir von der Gruppe nichts, was sie nicht leisten kann. Das ultimative Netzwerk ist dezentralisiert. Das ist die Basis seiner Funktion und Philosophie: Kein Netzmitglied braucht detailgetreu zu wissen, was die anderen gerade tun, um voranzukommen und sie zu unterstützen. Dezentralisierte Netzwerke brauchen keinen Kern, um zu funktionieren.

Diese Beziehungen, die gesondert verlaufen, aber durch Vertrauensbände miteinander verbunden sind, können sich gegenseitig unterstützen, wenn dies nötig wird. Wir sind autonome Individuen, unabhängige Knoten, die sich freiwillig für eine gewisse Zeit zusammenfinden. Unterscheiden sich unsere Methoden und Mittel, dann können wir auch versuchen dieselben Ziele im Alleingang zu erreichen. In den meisten Fällen hilft jedes kleine Stück. Wir interagieren durch die Dynamik der Kooperation, nicht durch Abhängigkeit.

Sogar in der kleinstmöglichen demokratischen Organisation (bestehend aus zwei Menschen) geht es nicht darum, das unmögliche Ziel zu haben, immer einer Meinung zu sein. Es geht vielmehr um die Herstellung eines Raumes, innerhalb dessen ein blindes Vertrauen herrscht. Das erlaubt uns, Aspekte aufzugreifen, die unsere Fähigkeiten ansprechen, während wir uns sicher sein können, dass die anderen sich den Teilelementen widmen, die wir vernachlässigen. Menschen, die das Zentrum anvisieren, nehmen nicht wahr, dass die Steigerung gerade in der Peripherie liegt: mehr Repräsentation, mehr Vielfalt, mehr Freiheit, mehr Flexibilität, mehr Ehrenamt und vor allem mehr Realität.

Es ist nicht wahr, dass wir immer zusammenhalten müssen, wenn wir die Ziellinie überschreiten wollen, dass wir gemeinsam mehr erreichen, dass die Herde immer besser ist. Sich voneinander zu trennen, bedeutet sich die Möglichkeit geben, wieder zueinander finden zu können. Wir können endlos lange nebeneinander existieren, aber wir werden nie in derselben Haut stecken.

Horizontale Interaktionen vermeiden

Die Horizontale ist eine Täuschung: Michel Bauwens und viele andere haben eindrücklich gezeigt, dass in einer Gruppe 1% der Mitglieder gestaltend arbeiten, 9% mitarbeiten und 90% der Gruppe schmarotzen, sich beschweren und die Gruppe herunter ziehen, weil sie persönliche Probleme mit auf das Schlachtfeld bringen.

Unsere Interaktionen sollen leistungsorientiert sein. Wir alle sind verschieden. Das garantiert die Unmöglichkeit, der „Leistungsgesellschaft“ Vertikalität aufzwingen zu können. Es wird nie eine einzige Leistung oder eine einzelne Fähigkeit geben, sondern viele verschiedene Entwicklungen von vielen möglichen Menschen. Aus diesem Grunde tendieren Kräfte dazu, sich um vollbrachte Arbeit oder in die Praxis umgesetzte Theorien zu versammeln, statt um Fantasien und Möglichkeiten.

Wir können mit zwei Hacker-Qualitäten verhindern, dass die Leistungsgesellschaft bloß eine Ausrede wird, um der Korruption zu verfallen: Transparenz sorgt dafür, dass die Leistung objektiv analysiert werden kann. Und ein Ergebnis muss dem Allgemeingut einverleibt werden. Das generierte Material kann nicht von einem Individuum bzw. einer Gruppe für sich beansprucht werden. Es muss allen zu Gute kommen. Nicht unsere Identitäten definieren uns, sondern unsere Ergebnisse.

Unsere Zielgruppe

Die gesamte Gesellschaft könnte aus unseren Kollegen bestehen. Es gibt Menschen, die wie wir denken (Sympathisanten); Menschen, die uns zuhören, sich aber von uns unterscheiden; Menschen, die uns nicht zuhören, uns aber gleichen; Menschen, die nicht zuhören und sich von uns unterscheiden; die Freunde unserer Feinde; unsere Feinde, Institutionen, Medien usw.

Wir können verschiedene Zielgruppen gleichzeitig haben, sollten uns aber den unterschiedlichen Verhaltensweisen bewusst sein, die mit ihnen einher gehen. Jede dieser Gruppen verlangt nach unterschiedlichen Methoden und – noch wichtiger – einer eigenen Ästhetik, um alles zu verinnerlichen.

Gedankeneinheiten produzieren

Um erfolgreich zu sein, reicht es für eine Idee nicht aus gut zu sein. Ideen und Gedankeneinheiten, für die Katalysatoren gekämpft haben, die sie ausgeformt und in den Vordergrund gebracht haben, wurden von Individuen und Organisationen für gute und böse Zwecke genutzt.

Ob wir es wollen oder nicht, ohne Macht gibt es keine Rechte. In der gegenwärtigen Lage reicht es nicht aus, zu sagen, etwas sei nicht wahr. Wir müssen stärkere Gedankeneinheiten entwickeln, die die jetzigen verschlingen.

Gedankeneinheiten „infektiös“ werden lassen

Neuheiten sind unsere Aufgabe. Da ist extrem schwierig. Es liegt in unserer Natur besitzergreifend, abhängig und unsicher zu sein. Vor allem aber sind wir konservativ: Wir trauen nur bekannten Mustern.Unser Wiederholungszwang hindert uns daran, unserem selbst gesteckten Ziel treu zu bleiben. Etwas zu tun, das uns völlig fremd und neu ist, erfordert Bewusstsein und Wille zur Anstrengung. Unsere historische Verantwortung, unsere rationalen Anstrengungen müssen darauf fokussiert werden, unserem Wunsch nach Veränderung Treue zu leisten.

Die Angst vor Neuheit muss überwunden werden und sich in unserer Einstellung widerspiegeln. Bahnen sich schwere Zeiten an, verfallen wir in alte Muster. Aber wollen wir nicht Veränderungen bewirken? Dann müssen wir diese Anstrengung auch erbringen. Wir waren in der Lage, dies zu tun und wir setzen es fort.

Sich einer gemeinsamen Ethik verpflichten, aber keiner Moral

Unser Ziel ist es zu teilen, nicht zu erziehen und zu belehren. Wenn wir an alles denken, was wir jemals gelernt haben, können wir sehen, dass wir es zu einem Zeitpunkt gelernt haben, als wir bereit waren es zu verstehen und das Wissen benötigten. Wir zwingen niemanden zu lernen. Wir können unser Wissen mit anderen teilen, damit es von denen aufgenommen werden kann, die es brauchen. Die Ethik des Handelns und Teilens befreit uns von der Moral und dem Stillstand von Dogmen.

Es gibt keinen Wandel und keine Erkenntnis über Nacht

Wie alles andere, was wir tun, bestimmt der Egoismus meine Handlungen. Die Zukunft interessiert mich eigentlich nicht. Ich habe keine Kinder, denen ich die Zukunft hinterlassen kann. Ich glaube nicht, dass die Menschheit es verdient hat zu überleben. Aber die Zukunft ist unsere Gegenwart, jeden Tag. Deshalb: „Mich interessiert die Zukunft, werde ich doch den Rest meines Lebens darin verbringen.“

Anm.d.Red.: Mehr zum Thema in unserem Dossier Raumschiff Erde. Das Foto oben stammt von Christian Straub und steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

3 Kommentare zu “Im Netz lernen – überall anwenden: Was wir Offline nutzen können und sollten

  1. Mich interessiert sehr das Geschick der heute noch nicht geborenen Menschen auf dem Planeten, auch wenn sie nicht meine leiblichen Kinder oder Kindeskinder sind (ich habe ebenfalls keine Kinder). Ich fühle mich wohl in Austauschnetzen mit Leuten, die sich bei widerständigem Handeln von einem Eros des Lebens und der Gemeinschaftlichkeit leiten lassen. Im “Wir” des letzten Abschnittes bin ich ganz sicher nicht mit gemeint. Die “Philosophie” dieses Beitrages scheint mir doch sehr viel von der kapitalistischen Religion der letzten drei Jahrzehnten aufgenommen zu haben. – Die Gedanken zu Konsens und partiellem Konsens in Kooperationen finde ich allerdings sehr klug.

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