Im ausverkauften Berlin überleben – und trotzdem frei, verrückt, sozial sein

Berlin heute und in den 1990er Jahren: Die Situation für “Kreative” hat sich verändert, die Politik hat sich verändert, die Stadt hat sich verändert. Tontechnikerin und Berliner Gazette-Autorin Elisabeth Enke blickt zurück und sucht nach neuen Perspektiven.

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Berlin, du bist ‘ne Wolke. Duftig, flauschig. Hoch oben am Himmel, mit sehnsüchtigen Blicken beschaut, mit dem Versprechen von Freiheit, vom Fliegen. Das war unser Lebensgefühl anno 1999. Jetzt, mehr als zehn Jahre später, fragen wir uns: Was ist geworden aus dem Geist der Stadt? Welchen Nährboden bietet das Pflaster heute?

In den 1990ern war Berlin einzigartig. Es ist so wahnsinnig schade, dass heutige Berlinbesucher und – bewohnerInnen nicht mehr diese Ruinen sehen können, diese ganze Stadt im Zerfall. Für mich bedeuteten sie Erleichterung, die Genugtuung des freiheitsliebenden Menschen – wenn so ein Machtappartat gefallen ist, wenn in den Gemäuern der Stadt diese Macht eben nicht mehr drinsteckt, das macht Mut.

Ruinen, die zum Selbstregieren einladen

Leere Straßen, doch mit allen Hoffnungen, allen Möglichkeiten – diese besondere Welt war eine Einladung an alle: Hier in Berlin darf jeder, ist jeder genauso willkommen oder unwillkommen. Die Regierung ist gefallen und jetzt können wir regieren, die Verrückten auf den Straßen – beziehungsweise können wir das Regieren sein lassen. Wir können uns selber helfen, wir brauchen nicht 1000e Dinge zu bezahlen. Wir sind frei vom Geld (ok, zumindest teilweise). Und wir können, wie Anfang der 1990er im Prenzlauer Berg, unser eigenes Geld erfinden.

Viele der damaligen Kunstprojekte ermöglichten ein hohes Maß an Beteiligung, forderten es sogar ein. Das Leben auf der Straße stand im Mittelpunkt, Aktionsformen, die sich in expliziter Öffentlichkeit abspielten. Und die erstaunlich sozial waren, immer zusammenführend. Wie kam das zustande? Und wie kann es sein, dass diese ganze Aktivität, die damals massenhaft Interessierte anzog, die Stadt nicht in ganz andere Sphären beamte? In höhere Himmel, in denen mehr Beteiligung der BewohnerInnen stattfindet, auch auf höherer, politischer Ebene, stadtlenkend.

Vom Leiden der Kunst und ihrer Künstler

Die Sache mit dem Geld hat inzwischen einen anderen Stellenwert bekommen. Und ja: Die Kunst leidet. Künstlerinnen müssen viel Zeit und Kraft aufbringen um mit teilweise obskuren Aktivitäten zu überleben. Indem sie sich relevante Kunst aus den Fingern saugen müssen, Festivals antragsgerecht herargumentieren, ihr technisches Verständnis an andere verkaufen oder auch Texte schreiben für Tourismus im Internet (mies bezahlt).

Das Abenteuer des täglichen Lebens, des Selbergestaltens, sieht jetzt anders aus. Die Plätze wurden belegt, die Straßen vollgestopft mit Konsumbuden, die Regierung hat sich wieder zusammen gefunden, verrückte Ideen waren durchgeführt und verhindert worden. Niemand hat die hereinprasselnde Geld- und Verwaltungsrealität aufhalten können.

Berlin ist diverser geworden. Konsum und Kunst haben sich vermengt, in allen erdenklichen Formen. Und es wird immer schwerer, sich in den festgesetzten Strukturen zu behaupten, auszubrechen.

Soziale, künstlerische, geistige Werte vs. Geld

Der Eintönigkeit der Pluralität versuchen neue und alte Akteure zu entkommen, und sie tun es auch im Licht der Öffentlichkeit. Dabei kämpfen sie mit dem weitaus Schwierigeren: die geforderten Beteiligungen in die Realität umzusetzen; die Selbstverantwortung der Berlinbewohner tatsächlich zu aktivieren. Im ausverkauften Berlin zu überleben, und trotzdem frei, verrückt, sozial zu sein. Überleben und trotzdem die Gemeinschaftlichkeit erhalten.

Und können wir es schaffen, diesem Wirrwarr aus Geldzwängen zu entkommen? Können wir gleichzeitig das Geld anhäufen und abschaffen? Können wir soziale, künstlerische, geistige Werte über die monetären heben? Und können wir trotzdem die bezaubernden Annehmlichkeiten des Konsums behalten?

Anm.d.Red.: Elisabeth Enke moderiert im Büro für Qualifikation und Vermögen (BQV) am 19. Mai den Workshop „Prekär/Produktiv“ mit Beiträgen von Ben Pohl (Filmemacher), Alexandra Manske (Soziologin) und Gertrud Koch (Filmwissenschaftlerin). Foto oben: Florian Reischauer (piecesofberlin.com).

16 Kommentare zu “Im ausverkauften Berlin überleben – und trotzdem frei, verrückt, sozial sein

  1. mich spricht der Schreibstil sehr an! Persönlich, wie gesprochens Wort, aber gleichzeitig auch mit Gefühl und Rhytmus, ein bisschen Musik, gleichzeitig naiv und realistisch. Und der Traum davon ohne Geld zu leben, das ist ein schöner, ein wahrer Traum, den Menschen haben sollten und es macht Mut, dass man diesen Traum offenbar auch leben kann. Unter bestimmten Bedingungen.

  2. na ja ich kann mich schon aufregen über Leute, die glauben, ohne Geld könne man leben, also in dieser Welt, d-h- im Kapitalismus. Das ist doch ein Widerspruch in sich.

  3. Bereits in den 90er Jahren, die ja so wenig golden waren wie die 20er, wurde die Künstlerszene im Prenzlauer Berg mit leichter Ironie betrachtet, und zwar durchaus von den Akteuren selbst. Dies vor allem, weil die Kunst in diesen Zeiten an diesem Ort zwar besonders strahlte, bis auf Ausnahmen aber auch in Gütersloh so hätte entstehen können. Das Drumherum, in dem sich alle bewegten, war natürlich einmalig, keine Frage, nach diesem Lebensgefühl kann man nicht suchen, das hat man oder eben nicht. Durchsetzen mit ihrer Kunst, welcher Art auch immer, tun sich aber tatsächlich eher die, die zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind, damals waren das eben die Prenzlauer Berge, dann aber weiterziehen, hart und gut arbeiten, die richtigen Leute kennen und die besten Anträge schreiben. Und nur die können dann von ihrer Kunst leben und müssen nicht nebenher schackern gehen! Auch Friedrichshain wird bald schon ein normales, urbanes Wohngebiet sein, doch gutes Theater wird eben auch in Oberhausen gegeben, weil Kunst nicht nur am Ort klebt, so lebendig dieser auch ist, sondern per se unabhängig entstehen muss, zumindest dem Anspruch nach. In den Prenzlauer Bergen bewegt sich künstlerisch nun weniger, die Menschen mit den alten Mietverträgen gehen kein Risiko ein, die Ateliers werden nun eben in Weißensee oder Moabit angemietet – das ist der Lauf der Zeit. Man sehe sich ehemalige Künstlerviertel in Paris oder München oder Hamburg an, dann weiß man, wie es läuft. Berlin hat immerhin den Vorteil, groß genug zu sein für ein Weiterziehen des Künstlertrosses, es gibt hier trotz der Entwicklung hin zu Schick und Glanz noch Nischen, die man nur finden muss. Beweglich bleiben ist alles!

  4. @#4: ist der prozess der gentrifizierung mit anderen worten also ein naturgesetz dem man nur anpassungsfähigkeit entgegenzusetzen braucht um weiterhin einigermaßen frei künstler sein zu können? ist der flexible mensch nicht vielleicht auch ein blöder ja-sager, der verdrängung und kommerzialisierung in seiner aggressiv rapiden form überhaupt erst ermöglicht? werden weißensee und moabit nicht auch bald dran glauben müssen? dann wäre es nämlich irgendwann ganz aus mit urbanen Räumen für die “kreativen”…

  5. @anton: Nein, die Gentrifizierung ist kein Naturgesetz, das ist die Verdrängung von Mietern aus ihren Kiezen durch politisch gewollte Mieterhöhungen. Ich selber habe einen alten Mietvertrag und könnte mir ein Umziehen im eigenen Kiez absolut nicht leisten. Was ich sagen wollte ist, dass ein Künstler sich zwar nicht einfach verdrängen lassen soll, dennoch aber seine Freiheit nutzen muss, die u. a. darin besteht, seine Kunst auch unter schlechten Bedingungen zu machen. Wenn man die nur unter besten Umständen machen kann, ist man ja erst recht abhängig von Äußerlichkeiten, die man zum großen Teil nicht beeinflussen kann. Die Musealisierung einer Künstlerszene kann ja ohnehin wohl nicht das Ziel künstlerischer Tätigkeit sein, wie man ja am Tacheles gesehen hat. Aber wie gesagt, Berlin ist groß genug, und das ist ein Riesenvorteil für alle “Kreativen”.

  6. @norbert: “Was ich sagen wollte ist, dass ein Künstler sich zwar nicht einfach verdrängen lassen soll, dennoch aber seine Freiheit nutzen muss, die u. a. darin besteht, seine Kunst auch unter schlechten Bedingungen zu machen. Wenn man die nur unter besten Umständen machen kann, ist man ja erst recht abhängig von Äußerlichkeiten, die man zum großen Teil nicht beeinflussen kann.”

    das ist ein guter punkt, die freiheit unter schlechten bedingungen zu arbeiten, selbstbestimmt, ich habe allerdings den eindruck, dass in letzter zeit eben dies immer schwerer zu unterscheiden ist von einer tendenz zur selbstausbeutung, die als neuer standard sich durchsetzt und eher sozialer zwang ist als freiheit..

  7. @barbie Leider täuscht dieser Eindruck nicht, doch wo läge die Alternative? Seine Träume aufgeben, um sich dann für gute Bezahlung von anderen Menschen ausbeuten zu lassen? Schlimm ist es, finde ich, wenn Menschen sich selbst ausbeuten müssen, Stichwort Scheinselbständigkeit, obwohl sie nicht mal das tun, was sie gerne tun würden. Die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen greift übrigens genau diese Problematik auf, nachzulesen etwa in dem Buch “1000 € für jeden. Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen” von Adrienne Goehler und Götz Werner. Vielleicht setzt ja nach und nach ein Bewusstseinswandel ein, hin zu einer Wertschätzung von Arbeit an sich und weg vom reinen Profitdenken. Doch so lange zu viele Menschen Existenzängste haben, leben nur ganz Verwegene ihre Träume und zahlen dafür den teils hohen Preis.

  8. @1. zk

    danke für das lob! es geht mir nicht primär darum, dass jeder ohne geld leben soll oder muss. aber träumen – ohja ! meine persönliche wahl grenzt das geld auch nicht vollkommen aus, auch wenn ich es liebe mit wenig auszukommen. es geht eher darum, sich die freiheit zu bewahren. gegenüber sich selbst und gegenüber anderen. und auf jeden fall nicht zu vergessen, dass das leben auch mit wenig geld geht und sehr schön sein kann. genau ! viva esprit !

  9. @2. rainald krome

    wie gesagt, ich persönlich will, glaube ich auch nicht komplett ohne geld leben, aber es geht sehr wohl ! wenn auch vielleicht sehr experimentell und vielleicht auch nicht für ewig. derer beispiele gibt es viele und sehr schöne. man kann entweichen, sicher, wenn auch nicht komplett. lebe ja im system welt und komm da nicht raus. ich denke aber ich kann mehr tun, als zu sagen “dagegen kann man nichts machen”.
    und ich hoffe eigentlich, dass das populärer wird.

  10. @4. norbert w. schlinkert
    ich finde es schade, dass künstler weiterziehen müssen, weil sie sich es nicht (mehr) leisten können sich an einem ort zu leben. künstler und nichtkünstler. menschen, die sich mit der gesellschaft und dem gemeinwesen befassen, menschen die eben nicht viel verdienen. ich finde es totgemein wenn diese menschen, die orte kraft ihrer imagination und ihrer hände verschönern und pflegen und dort leben wollen, das nicht mehr können, weil der markt sich dreht. von einer nische zur anderen geschubst. beweglich bleiben ist gut, aber beweglich sein zu müssen, weil jemand sagt “danke für idee und umsetzung, jetzt machen wir uns hier breit”. verdrängung ist nicht ok, das lähmt irgendwann. leute wenden sich ab, werden verheizt, engagement wird nicht belohnt, sondern bewertet und dann verwertet. mieten sollten ans einkommen gekoppelt werden. in berlin und gütersloh. viva gütersloh ! sicher gibt es auch gute kunst (und nichtkunst) ausserhalb der hauptstadt.

  11. @ barbie und norbert

    ich denke, man soll seine träume nicht verraten, nicht vergessen, nicht aufgeben. grundbedinungen müssen es zulassen, dass der mensch sich zeit lassen kann, träumen kann, rumalbern, kunst machen, wenn dieser sich das so ausgesucht hat. auch ich lebe unter dem vorteil der günstigen miete. das sollte kein vorteil sein ! sondern normalität und vorallem nicht nur in berlin, sondern überall in der bundesrepublik. was verdienen die menschen ? was brauchen sie ? grundeinkommen ist auch super, obwohl ich auch denke, dass jeder eine arbeit machen kann – aber im rahmen ! nur wenn lebenshaltungskosten das nicht zulassen, dann wirds kritisch. ja, umdenken. wertschätzung von arbeit, von leben.

  12. @elisabeth
    Da gehe ich völlig d’accord, ich will sicher nichts schönreden, indem ich die Situation beschreibe, wie sie leider ist. Das Erobern von Nischen ist ja nicht einfach und kostet Kraft. Das mit dem Grundeinkommen ist übrigens so gedacht, dass jeder und jede noch im Rahmen der Möglichkeiten arbeitet und nach Wunsch dazuverdient, ohne sich kaputtzumachen, dafür aber eben auch gut und am besten mit Freude an der Sache agiert. Dann würde auch die Arbeit wertgeschätzt, die heute umsonst gemacht oder mies bezahlt wird. Geld und Leistung wird es weiterhin geben müssen, doch die Menschen wären nicht mehr so erpressbar und gegeneinander ausspielbar, weil ja die Grundbedürfnisse befriedigt sind. Wer will, kann natürlich auch sein Leben lang Löcher in die Luft starren, das muss dann jeder selber wissen, wie er oder sie mit dieser Zumutung zur Freiheit umgeht. Ob der Mensch sich in diese Richtung entwickeln kann, weiß keiner, deswegen muss man es eben ausprobieren.

  13. Meiner Meinung nach macht aber genau das einen Künstler aus: Die Behauptung des eigenen Werkes, Menschen dafür zu begeistern & natürlich auch ein wenig Glück zu haben. Dieses Unberechenbare macht es doch so aufregend und vielseitig wie es ist.

  14. ja, der künnstler, der nur von luft und liebe und seiner kunst lebt … also im grunde gebe ich dir recht “hallo.leute”. das schöne am leben sind doch die lücken. und not macht erfinderisch und tut gut. aber mancher seele (und auch meiner!) tut trotzdem gut neben allem darben und mit dem geringsten auskommen auch doch eine grundsätzliche sicherheit zu haben. also klar, ich weis auch nicht was mit meiner rente ist, oder wies sein wird im alter und je nach phase macht mir das mehr oder gar keine sorgen. aber dennoch hab ich eben meinen tontechnikerjob, der mir meine summe x monatlich einbringt und halbwegs garantiert. und ohne mein, wenn auch geringes, guthaben auf dem konto würde ich auch nicht so frei dahin leben. dazu kommt noch, dass meine eltern halbwegs gut situiert sind. das beruhihgt auch. und dazu sind sie noch sehr lieb zu mir.
    ich biun denke ich, keine vertreterin der ewigen vollkommenen brotlosigkeit. ich denke, genauso dazu gehört zum leben auch die meisterung der schwierigkeit sein ökonomisches überleben zu sichern. das seine und am besten noch das einer familie / kollektiv / ect. sozialer anschluß.

  15. Danke elisabeth!
    Sehr inspirierender Text, und die genauso wichtigen Kommentar-Dialoge Monologe danach,
    Ich glaub ich mag die Berliner Gazette, seitdem ich sie gestern entdeckt habe… die Zeitung ist echt cool und ja inspirierend.

    Nette Grüße,
    Eric

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