Historischer Optimismus 2.0

Als Vorstandsmitglied des Kulturforum Berlin-Alexanderplatz e.V. [KFBA] erreichte mich vor einiger Zeit eine interessante Email, in welcher unsere Bemuehungen um oeffentliche Unterstuetzung fuer unser Vorhaben, das ehemalige Haus Ungarn als einen Standort fuer nicht-kommerzielle Kultur auszubauen, als >triviales Betteln< beschrieben wurden. >Stellt euch doch der Situation, arbeitet wirtschaftlich, kreativ wie alle Anderen auch, und fleht nicht im Vorfeld nach Subvention< war dort zu lesen.

Dem Verfasser der Mail war die rein ideelle Ebene unserer Aktion offensichtlich entgangen. Darueber hinaus bietet dieser Kommentar allerdings einen erhellenden Blick auf einen Konsens, der sich nicht nur in kulturpolitischen Fragen durchgesetzt hat: das Akzeptieren der kompletten Oekonomisierung der Koerper unter der Herrschaft des Spektakels, sich selbst in Ermangelung eines historischen Projekts der Logik des Befehls >Verwirkliche Dich selbst!< unterwerfend.

Guy Debords Definition der spektaklistischen Maxime folgend – was erscheint, ist gut, was gut ist, das erscheint – wird so der Prozess vorangetrieben, der die Weltgeschichte heute beherrscht. Ich nenne ihn der Einfachheit halber weiterhin Kapitalismus. Seit die Marktwirtschaft den Status absoluter, ihrer letzten Verantwortungen entledigter Souveraenitaet ueber das gesamte gesellschaftliche Leben erlangt hat, setzt das integrierte Spektakel zur finalen Entfremdung der sprachlichen und kommunizierbaren Natur des Menschen an, der Grundlage dessen, was das Gemeinsame konstituiert. Dem Philosophen Giorgio Agamben zufolge tritt uns damit in der Politik, unter der wir leben, unsere eigene sprachliche Natur verkehrt entgegen. In dieser Linie schlaegt mir so zum Beispiel eine Formulierung wie oben zitiertes >stellt euch doch der Situation, arbeitet […] kreativ […]< aus einer Ecke entgegen, der ich – ohne den Verfasser zu kennen – einfach mal unterstelle, sich selbst als progressiv zu begreifen. Intuitiv koennte ich diese neoliberale Aufforderung mit einem – dem Zusammenhang entrissenen – Zitat aus einer aktuellen Arbeit von Rene Pollesch an der Volksbuehne beantworten: >Negation muss die Kreativitaet abloesen<.

Geboren 1968 spielte sich ein wichtiger Teil meiner kulturellen Sozialisation vor dem Hintergrund einer in zwei Bloecke geteilten Welt ab. Die Existenz dieses politischen Antagonismus liess in meinem Fall auf bundesrepublikanischer Seite Raum fuer Projektionen, die sich im Schoss einer jugendlichen Naivitaet bequem entwickeln konnten. Sie zielten in erster Linie darauf ab, >anders< zu >sein<, um es mit Rocko Schamoni zu sagen. Die fruehen 80er Jahre in Westdeutschland: ein bizarres Klima von Angst, Paranoia und Verdacht, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied zu heute – es gab so etwas wie einen breiten subkulturellen Konsens einer alternativen historischen Option. Diese gemeinsame Hoffnung war es, die Bekanntschaften zu Freundschaften machte und Moeglichkeiten eines anderen sozialen Miteinanders eroeffnete. Es gab eine gemeinsame Sprache, die aufgrund ihrer Benennung des Systems als Feind noch nicht vom kapitalistischen Spektakel integriert werden konnte und damit Identitaet stiftend war fuer diejenigen, die sich ein anderes Leben jenseits der reinen Verwertungslogik vorstellen wollten. Abseits der rein politischen Ebene schien die Existenz eines Aussen Alternativen in Musik, Sex und Lebensstil zu ermoeglichen. Innerhalb dieser Matrix konnte man sich gemeinsam orientieren und gemeinsam verlaufen.

Das Jahr 1989 und dessen Folgen markierten einen Bruch, der eine Neudefinition der eigenen Standpunkte notwendig machte. Ein in vielerlei Hinsicht gesunder Prozess, war es nun doch unumgaenglich, sich intensiver mit den Realitaeten des vormaligen Aussen zu befassen. Fuer einen kurzen Moment in der Geschichte schienen Alternativen greifbar, wie ich in den ersten Jahren nach dem Mauerfall auf Tourneen und Reisen durch ehemals realsozialistische Laender erleben konnte. Entgegen dem medial transportierten Bild gab es Massen von Leuten, die definitiv keinen Bock auf das hatten, was bereits vor der Tuer stand. Die historische Chance lag nicht in der Abloesung eines Systems durch den vormaligen Gegner; vielmehr markierte das Jahr 1989 einen der seltenen Momente des letzten Jahrhunderts, in denen ein kurzer Blick ins Offene moeglich war und damit die Chance, ein passives Dasein zu transzendieren und wahrhaft weltbildend taetig zu werden. Zumindest blitzte diese Hoffnung auf in den kurzen Momenten einer partiellen Autonomie, einer anderen Freiheit. Dass man sich im Streben nach Selbstverwirklichung einer weiteren Illusion hingab, war in letzter Konsequenz vielleicht nur in der Theorie klar.

Die umfassende Ernuechterung folgte jedoch umgehend. Ein schoenes Beispiel aus der Musikwelt: Hart am Puls der Zeit – wie so oft in ihrer Geschichte – betitelten die New Yorker Avantgarde-Rocker Sonic Youth bereits 1991 eine Tourdokumentation >The Year Punk Broke<. Alternative war jetzt Mainstream und der Weg zu Che Guevara-T-Shirts bei H&M nicht mehr weit. Ich erlebte dementsprechende Formen des Kollektiven in den 90er Jahren in erster Linie als einen eskapistischen Hedonismus, der grenz- und subkulturuebergreifend dem Millennium entgegen taumelte. In seinen verschiedenen Ausformungen zeichnete sich dieser in erster Linie dadurch aus, dass er dem popkulturellen Markt der Bilder neue Nischen oeffnete. Wie etliche jugendkulturelle Erhebungen, soziale Proteste und Arbeiterkaempfe zuvor, traegt auch >The Golden Age Of Punk And Working< [Schorsch Kamerun] dazu bei, [sub-] kulturelle Produktionstechniken zu globalisieren und en passant deren emanzipatorisches Potential zu neutralisieren. Denn in erster Linie ist klar: Das reale Gemeinwesen aller Menschen ist das Geld, und das Geld benoetigt immer mal wieder frische Kanaele. Kreativitaet, Spontaneitaet, Flexibilitaet, Selbstverwirklichung: Was gestern noch als Strategie fuer ein besseres Leben im Falschen diente, ist heute die dringendste Forderung des kapitalistischen Kommandos. Diese Offensichtlichkeit sollte jedoch kein Grund zur Verzweiflung sein.

Erfahrungen von Armut und Prekaritaet in meinem persoenlichen Umfeld haben auf teils schmerzliche Weise die schwindenden Moeglichkeiten von Solidaritaet bezeugt; die Unsicherheit als Konstante des gesellschaftlichen Lebens spielt dabei eine bedeutende Rolle, indem sie – als kollektive Erfahrung – Grundlagen des Gemeinsamen pervertiert und die Kehrseite der Medaille zum Vorschein bringt: das Asoziale. Dabei hat die unmittelbare Naehe und das zeitweise Streifen einer von verweigerter Fuersorge gezeichneten Realitaet durchaus auch zur Entwicklung einer hoffnungsvollen Perspektive beigetragen: Ein gewandeltes Selbstverstaendnis vom Kuenstler zum Kulturarbeiter waere ohne die Penetration des gesamten Lebens durch die Oekonomie nicht problemlos nachvollziehbar gewesen. >Als Materialist ist man zu historischem Optimismus verpflichtet<, schrie uns ein Lehrer vor beinahe 25 Jahren des Oefteren an.

Angesichts jugendlicher Unsicherheit zwischen erstem Sex und NATO-Doppelbeschluss fiel es mir damals schwer, mich dieser Haltung anzuschliessen; heute wuerde ich sagen: Positiv gewendet koennen wir aus dem Scheitern der grossen ideologischen Erzaehlungen im 20. Jahrhundert die Erkenntnis ziehen, dass nur der Kapitalismus in der Lage war, eine Produktivitaet zu erreichen, die seine Ueberwindung denkbar macht. Die Enteignung jedes menschlichen Gemeinguts durch die herrschende Politik offenbart eben auch eine andere darin enthaltene Potentialitaet: Der individualisierende Befehl des Spektakels laesst es trotz seiner nahezu unbegrenzten Definitionsmacht moeglich erscheinen, strukturelle Parallelen in den Produktionsbedingungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche zu erkennen, jenseits von Repraesentation zu bearbeiten, und erneut zu einem emanzipatorisch nutzbaren Begriff von gesellschaftlicher Arbeit zu gelangen.

Mein persoenliches Engagement im Projekt des KFBA ist massgeblich von diesem Ansatz geleitet. Zur Zeit der Niederschrift dieses Textes ist das KFBA ein Anliegen, eine Idee, ein Beduerfnis. Der Zusammenschluss in einer Gruppe, bestehend aus Menschen mit unterschiedlicher Vita und unterschiedlichen Zielen, bezweckt das, was gemeinhin interdisziplinaere kuenstlerische Arbeit genannt wird. Gemeinsam ist uns dabei nicht zuletzt ein Begriff des Interdisziplinaeren, der ueber Vernetzung und Konfrontation von Kulturschaffenden hinausgeht und offen steht fuer gesellschaftliche Produktion in ihrer Gesamtheit. Die Wahl des ehemaligen Haus Ungarn am Alexanderplatz in Berlin als Zielobjekt unseres Projekts fiel nicht zuletzt aufgrund der Intention, mit der Stadt als oeffentlichem Raum zu sprechen anstatt nur ueber oder fuer sie; immerhin legt das letzte Jahrhundert die Vermutung nahe, dass das Gemeinsame in den bekannten Formen der politischen Repraesentation oftmals nur in seiner perversen Verkehrung erscheint. Der Schluss daraus darf jedoch auf keinen Fall eine Eliminierung der Frage nach dem Gemeinsamen sein.

Angesichts der Globalisierung der Probleme der Menschheit gilt es vielmehr, Individualisierung und Partikularinteressen in die Schranken zu weisen und nach dem zu fragen, was uns verbindet. >Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrtausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang< sagte Walter Benjamin. In unserer angeblich post-historischen Zeit ist es in meinen Augen dringlicher denn je, sich dem Koma von Francis Fukuyamas Ende der Geschichte zu widersetzen und die Grundlagen, Bedingungen und Moeglichkeiten eines neuen historischen Projekts zu erarbeiten; das stumpfsinnige Streben des Spektakels nach individuellem Geniessen/ Jouissance, sei es noch so sehr von karitativen Projekten flankiert, bedeutet letztlich Stillstand ohne jedweden ethischen Kern. Eine der dringlichsten Aufgaben von Kulturarbeit in unseren Zeiten ist somit die Frage nach der kommenden Gemeinschaft der Menschheit.

Das KFBA fokussiert mit seinen Bemuehungen einen speziellen Bereich dieses Feldes, auf dem unzaehlige Kulturschaffende seit Jahren wichtige Arbeit leisten: den oeffentlichen Raum. Grundlegend fuer mich persoenlich ist dabei die Annahme, dass sich das Gemeinsame nicht in der Abgeschiedenheit privater Zusammenhaenge, den Freiraeumen des Marktes oder den illusionaeren Sphaeren der Metaphysik konstituiert, sondern in freier sozialer Interaktion.

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