Auf der Halfpipe des Wissens

Lernen ist immer spezifisch und hat einen konkreten Zweck. Der lernintensivste Ort ist die Schule. Jedem Schüler wird dort möglichst viel Kurzzeitwissen vermittelt. Meist mit einem konkreten Zweck: Mit angelerntem Biologiewissen etwa lässt sich eine Klausur bestehen. Auf lange Sicht wird dieses Wissen wieder abgelegt.

Was ich unter Bildung verstehe, funktioniert anders. Bildung ist universal, idealerweise zweckentfremdet und kumulativ. Bildung wird ferner von Langfristigkeit geprägt und hat viel damit zu tun, was ich kritisches Wissen nenne. Dies ist ein Wissen, das an der Schnittstelle zwischen existierendem Wissen, Neugier und Kreativität entsteht. Selten durch Anlesen oder Anlernen.

Ich habe eine Obsession für Archive und Bibliotheken. Diese sind aber nur dann wirklich interessant, wenn man durch deren Bauweise und ihre speziellen Nutzungsmöglichkeiten aktive Querverbindungen herstellen, neue Wissensproduktionen anstoßen und Potenzial für Zusammenarbeit erkennen kann.

Grauzonen zwischen den Disziplinen ausloten

Während meiner Schulzeit habe ich mich hauptsächlich auf Themen außerhalb der Schule konzentriert: Snowboarden und Musik. Da ging es oft darum, bestimmte Orte anders zu erfahren, ihrem eigentlichen Zweck entfremdet. Ich habe diese Erfahrungen nie allein, sondern immer in Gruppen gemacht.

Dann kam die Uni. Mein erstes Studium der Architektur an der Glasgow School of Art und Architectural Association in London war sehr fachspezifisch. Obwohl ich heute unter anderem als Architekt arbeite, muss ich sagen, dass mir dieses Studium zwar eine fundierte Grundkenntnis der Architektur vermittelte, aber den räumlichen Diskurs nur selten verlassen hat.

Danach bin ich ans London Consortium gegangen und habe einen Master in Research in Cultural Studies and Curatorial Practice gemacht. In dieser Zeit habe ich versucht, die Grauzonen zwischen den Disziplinen auszuloten; nicht im Sinne von Transdisziplinarität, sondern ich war viel mehr auf der Suche nach einem undefinierten Raum in dem neues Wissen entstehen kann.

Wissensproduktion jenseits der Akademien

Das beste an dem Programm, genau wie am Centre for Research Architecture des Goldsmiths College, an dem ich gerade promoviere, ist die Tatsache, dass weder Organisatoren noch Teilnehmer genau wissen bzw. wussten, um was es eigentlich geht und in welchen Formaten man am besten dazu arbeitet. Durch diesen Ansatz wird ständig neues Wissen produziert, welches nicht auf Unter- oder Weiterfütterung von bestehendem Wissen basiert.

Heute bin ich fest davon überzeugt, dass überraschendes und neuerungsbereites Wissen eher in kleinteiligeren und teilweise auch institutionell informellen Maßstäben produziert wird. Meistens durch kuriose Interessen-Netzwerke jenseits der Akademien.

Inhalte sind wichtiger als der Container, der diese beherbergt. Aber die Art und Weise, in der Inhalte im Container generiert und gesammelt werden, färbt langfristig auf die externe Wahrnehmung des Containers ab.

Interesse an Fehlern

Mit nOffice, einem Büro, das ich mit zwei weiteren Partnern betreibe, versuchen wir an diesen Inhalten zu arbeiten. In unseren architektonischen Projekten, wie zum Beispiel dem Performa Hub in New York, stehen daher die Produktion und Erfahrbarkeit von Inhalten im Mittelpunkt.

Wenn ich an Projekten oder Themen arbeite, bin ich sehr daran interessiert, ständig Fehler zu machen. Mein Albtraum wäre es, mich ein Jahr lang in einem Raum verbarrikadieren zu müssen, um an einem Projekt zu arbeiten oder an einem Buch zu schreiben, und mich in der Zwischenzeit nicht darüber austauschen zu können.

Neben dieser konkreten architektonischen Arbeit, publiziere ich sehr viel. Ganz allgemein denke ich, was Publikationen angeht, dass die akademische Welt den Fehler macht, das Material gezielt lange zurückzuhalten. Nur um es dann mit einem großen BANG zu veröffentlichen. Durch diese Einmauerung ist das Material zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mehr wirklich auf dem neuesten Wissenstand, relevant oder tatsächlich interessant.

Einfach weiterarbeiten

Ich arbeite hier vielleicht naiver. Ich veröffentliche, weil ich denke, dass man über dieses Format einen auch langfristig produktiven inhaltlichen Austausch herstellen kann. Dabei ist aber die Nutzung aller Medienformate von Bedeutung. Eine bewusste Öffnung ist wichtig. Eine Öffnung gegenüber den relevanten und nicht-relevanten Kulturen, die in akademischen Kreisen immer noch unterschieden werden.

Dies kann in Form von Dokumentationen, Forschungsprojekten, Gesprächen, Essays, oder anderen Formaten stattfinden. Aber auch Demonstrationen, Direct Action, oder andere Formen der konkreten Aneignung. Das Wichtige ist nur der stetige Diskursraum.

Die Buchrezension eines Buchs von mir, die ich immer noch am meisten mag, ist die über East Coast Europe von Dieter Lesage in OPEN, in der er das Buch völlig zerreißt. Er tritt aber in einen echten Dialog und setzt sich inhaltlich damit auseinander, was wir in drei Monaten produziert haben. Das finde ich interessant und kann ich für meine jetzige Arbeit produktiv nutzen.

Entlernung und Ereignis

Akademisch arbeite ich an meinem PhD und unterrichte im Moment als Gast-Professor am Rotterdamer Berlage Institute, wo wir versuchen, die Studenten weitestgehend außerhalb der Institution agieren zu lassen. Dieser Austausch mit den Studenten ist sehr wichtig, um neue Modelle zu testen – institutionell und nicht-institutionell.

Ob als Architekt, Akademiker oder Autor: Jeder Tag ist für mich eine Weiterbildung und teilweise auch eine ‘Entlernung’, die auf vielen Ebenen stattfindet. Ein Prozess, der es erlaubt durch ständige Neujustierung ‘altes Wissen’ zu editieren, und Vorurteile und Binsenweisheiten auszumerzen.

Oft findet Bildung nicht in der Mitte statt, sondern an der Schnittstelle. Das interessanteste und brauchbarste Wissen wird gerade dann produziert, wenn es nicht thematisiert wird, sondern einfach passiert, in informellen Runden, Gesprächen, langfristigen Austausch-Situationen in verschiedensten Formaten, face-to-face sowie digital.

Ich verbringe sehr viel Zeit mit unbezahlter Tätigkeit. Diese ist allerdings oft um einiges interessanter als die bezahlte. Ich bin davon überzeugt, dass gerade diese Investition von Zeit langfristig am produktivsten im Hinblick auf Wissen und Bildung sein wird.

(Anm. d. Red.: Der Verfasser des Protokolls ist Architekt, Berater und Autor. Sein neues Buch, The Nightmare of Participation, erscheint im April 2010 bei Sternberg Press, Merve Verlag, Archive Books und dpr editorial.)

12 Kommentare zu “Auf der Halfpipe des Wissens

  1. Wichtiges Stichwort zum Schluss: unbezahlte Tätigkeit. Speziell im Hinblick auf Bildung. Bildung scheint außerhalb der Kostenfrage nicht denkbar. Fragen, die mir durch den Kopf gehen: Was kostet Bildung heute? Wer bezahlt für Bildung? Wer wird bezahlt, um zu bilden bzw. um sich bilden zu lassen?

  2. Zum letzten Punkt, dass “unbezahlte Tätigkeit als produktivste Investion in Bildung und Wissen” angesehen werden kann: Warum eigentlich? Was macht die unbezahlte Tätigkeit denn soviel besser in dieser Hinsicht als die bezahlte Tätigkeit? Und warum finden Ehrenamt nur die Leute cool, die selbst ehrenamtlich arbeiten? (scheint mir zumindest so zu sein)

  3. In der Wissenschaft gibt es noch einen anderen Trend, als die von Dir beschriebene “BIG BANG”-Formel: Wissenschaftler publizieren pausenlos um den Anschein der Produktivität zu erwecken. Sie stehen unter dem Druck von Auflagen, die ständig Ergebnisse fordern. Sie strecken infolge ihre Erzeugnisse und so bekommt man immer wieder neue Variationen von Forschungsergebnissen zu lesen. Ein Quantitätsdenken macht sich breit. Ein Messen in Zahlen. Das Zurückhalten von Ideen, Geschriebenem, Forschungsergebnissen, etc. kommt nur noch vor, wenn es bestimmten strategischen Zielen dient. Nicht aber, weil es auch etwas in sich Gutes hat: Dinge können qualitativ reifen.

  4. @ Krystian: Da fällt mir die vielbeschworene Idee des Rückzugs ein, des sich Abwendens, Ausklinkens, aus dem permanenten Fluss der Kommunikation, der pausenlosen Zirkulation von Zeichen.

  5. Ich mag diese Idee vom in zurückgezogener Arbeit entstandenem großen Werk eigentlich ganz gerne. Das muss ja nicht bedeuten, dass man sich isoliert oder für die anderen Entwicklungen in seinem Fachbereich den Blick verliert, im Gegenteil.

  6. Wirklich eigenständige, ausgewogene oder auch kreative Ideen und Werke, entstehen meist durch Pahsen der Kontemplation, des sich treiben lassens. Das muß nicht in totaler Isolation oder dem Klischee des Elfenbeinturms geschehen, sondern kann auch mitten im Strom des Lebens reifen. Aber in zeitgenössischen Arbeitsverhältnissen, hat man ja ähnlich der Quartalsberichte Börsennotierter Unternehmen, Referenzen der eigenen Tätigkeit vorzulegen. Und der allgemein protestantische Arbeitsethos der Kollegen lässt auch nicht viel zu. Also entstehen abgehetzte Mikroideen, winzige Andeutungen dessen, was möglich sein könnte. Ist der systemischen Katalogisierung der Welt geschuldet, alles muß messbar und vergleichbar sein. Darum ist das Ehrenamt noch eine letzte Freizone, dort wird mangels Bezahlung das System seines Druckmittels beraubt: Gib mir überprüfbare Lebenszeit und ich gebe dir Geld. Bildung und Wissenschaft ist halt wie alles sehr kaufmännisch geworden, aber ohne Nachhaltigkeit! Eine Frage der Zeit, wann das wieder zusammenbricht!

  7. @ all: Wir müssen uns fragen, wie das Ehrenamt als Insel, als letzter Zufluchtsorts vor dem blöden Kapitalismus tatsächlich Bestand haben kann, wie das ökonomisch funktionieren kann, damit nichtzuletzt, wie Markus Miessen beschreibt, Wissen und Werke auch zufällig generiert werden können. Ehrenamt sollte nicht zum Luxus für diejenigen verkommen, die es sich leisten können, auf bezahlte Arbeit zu verzichten und es sollte auch nicht die Eskapismus-Pille für Total-Prekarisierte werden, a la: Hier gibt es wenigstens Sinn, wenn sonst nirgends mehr etwas zu holen ist. Von Sinn allein kann der Mensch nicht leben.

  8. Es geht ja nicht einzig um das Ehrenamt oder wie man es schafft eben dieses in Bezahlung zu bringen. Das Bewußtsein und das Verlangen, sich einlassen zu wollen, etwas zu schaffen und in diesem Sinne auch Bildung für sich selbst zu erlangen, im konnotativen Sinne, ist immens wichtig. Das lässt sich vermutlich nicht erlernen, ist mindestens eine Haltung, wenn nicht sogar angeboren. Die Problematik eines Broterwerbs, zum Teil auch neben dem professionellen Denken, ist doch sehr klassisch. Das “Verdingen” eines Menschen anscheinend eine Art Naturgesetz. Ich fand es persönlich schon als Grundschüler vor vielen Jahren sehr Schade, das die zum Teil überaus geschmeidigen Gehirne einiger Mitschüler, schon sehr füh einzig mit dem kurzfristigen Auswendiglernen, dem Erfüllen zeitlich überschaubarer Aufgaben und Prüfungen zufrieden waren. Ja sich sogar dafür rühmten, eine Woche nach einer Klassenarbeit möglichst viel, des als belastend empfundenen Stoffes, verdrängt zu haben. Sie suchten rasch ihr Heill in Schematisierung von Denkabläufen und hielten jedes private Interesse an Wissen für vollkommen unökonomisch. Heute sitzen diese Figuren zusehens an den Hebeln der Macht…

  9. @Joerg: Nein sicherlich nicht. Ehrenamt wäre kein Ehrenamt, wenn es nach Bezahlung trachten würde. Meine Frage zielt auf die Infragestellung dieser vermeintlich post- bzw. prä-ökonomischen Insel. Ich bin der Meinung, dass es kein wirkliches Ausserhalb gibt, dass auch das Ehrenamt eine ökonomische Logik hat, dass wir diese Logik thematisieren müssen, weil man sich allerorten doch meistens etwas vormacht und das Ehrenamt dadurch komisch, ja: gefährlich verklärt wird.

  10. Pingback: Blasse Überväter

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