Aber der Zug faehrt noch

Kommunismus, Kollektiv: Wohngemeinschaft. Lesekreis-Guerilla. Studenten-Clique. Terror-Zelle. Konsum- Junkie-Gang. Revolutionaerer Kader. Patchwork-Familie. Das, also den schrillen Gegensatz von Aufstand und Konsum, verkoerpern Veronique, Guillaume, Yvonne, Henri, Kirilov und Omar. Auf engstem Raum: in einem Pariser Appartment, auf dem schmalen Grat zwischen Wahnsinn und Kapitulation, Langeweile und Inspiration.

Wer Jean-Luc Godards >La Chinoise< [1967] sieht – wie diese Woche im Rahmen von 1968/2008 moeglich – wird ueberwaeltigt: Das Lebensgefuehl der Protagonisten wirkt so unglaublich aktuell. Hier: Dissidenz und Widerstand als Lifestyle-Option, siehe etwa die Black Block-Mode von adidas. Da: >68< als Ware, Konsumartikel, zur Ikone erstarrte Rebellion. Auf dem Weg zu einem Attentat begegnet Veronique Francis Jeanson, der sich selbst spielt: Ein politisch engagierter Philosoph, der in den 1950er Jahren als Mitglied einer kommunistischen Organisation algerische Terroristen unterstuetzte. Sie sitzen sich im Grossraumwagen eines Zuges gegenueber, hinter ihnen ziehen Landschaften vorbei. Die Kamera sieht nur die beiden, nuechtern, detailverliebt. Sie diskutieren: Ist Terror gerechtfertigt? Jeanson distanziert sich von radikalen, gewalttaetigen Aktionen. Veronique laesst nicht locker. Redet gegen ihn an, widerspricht ihm. Es wird laut. Ein Streit unter Intellektuellen? Oder vielleicht doch ein Generationenstreit – Tochter gegen Vater?

Nahezu 40 Jahre spaeter wiederholt sich die Szene: In Claire Denis Kurzfilm >Vers Nancy< [2002] sitzen sich Ana Samardzija und der Philosoph Jean-Luc Nancy in einem Zugabteil gegenueber und sprechen ueber das Fremde und den Fremden in der Gesellschaft, ueber Einwanderer und Eindringlinge, ueber Angst und Bedrohung, ueber Psychologie und Immunisierung. Ana fragt, Nancy antwortet. Auch hier zeigt die Kamera den Zwischenraum. Waehrend in >La Chinoise< die Hand Veroniques libidinoes-getragen den Fenstergriff umspielt, faellt hier der Blick auf den Kompaktmuelleimer zwischen den ausklappbaren Tischelementen sowie auf den sich oeffnenden Tuerspalt. Ein afrikanischer Einwanderer betritt das Abteil. Kommunismus? Das Wort faellt nicht.

Ein Kommentar zu “Aber der Zug faehrt noch

  1. Der Film hat schön gezeigt, was der heutigen Jugend fehlt. Radikal genug zu sein, das System nicht nur in Frage zustellen sondern mit jeder Faser zu bekämpfen.
    Heute fragt sich ein junger Student, warum er so wenig Bafög bekommt. Aber einen Stein nimmt er deswegen noch lange nicht in die Hand. Der Kampf der 68er scheint sich gelohnt zu haben.

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